Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Rieder, über die Revision des M M M, vertreten durch DDr. Rainer Lukits LLM, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf Dietrich Straße 19/5, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. April 2024, L510 2212103 2/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 18. Oktober 2015 erstmalig einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 15. Februar 2022 in Bestätigung eines entsprechenden Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. Dezember 2018 rechtskräftig abgewiesen wurde.
2 Am 12. Februar 2024 beantragte der Revisionswerber neuerlich internationalen Schutz und brachte zusammengefasst vor, er sei homosexuell und wäre deshalb im Irak mit dem Tode bedroht. Seine sexuelle Orientierung habe er bislang aus Angst nicht vorgebracht.
3 Mit mündlich verkündetem Bescheid vom 11. April 2024 hob das BFA den faktischen Abschiebeschutz des Revisionswerbers gemäß § 12a Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) auf.
4 Nach Vorlage der Akten an das BVwG stellte dieses mit dem angefochtenen Beschluss fest, dass die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes rechtmäßig gewesen sei. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.
5 Begründend führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz aus, der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt habe sich seit Rechtskraft des Vorverfahrens nicht wesentlich geändert. Der Revisionswerber habe keinen glaubhaften asylrelevanten Sachverhalt vorgebracht, welcher nach Rechtskraft des Erstverfahrens entstanden sei, und es sei ein solcher auch nicht aus der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ersichtlich. Der neue Antrag auf internationalen Schutz werde voraussichtlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein. Beweiswürdigend folgte das BVwG der Beurteilung des BFA, wonach die geltend gemachte Verfolgungsgefahr wegen behaupteter Homosexualität nicht glaubhaft sei. Daraus resultierend könne kein neuer Sachverhalt erkannt bzw. abgeleitet werden. Dem Revisionswerber drohe unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände im Falle der Abschiebung in den Irak keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention. Auch bestehe für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen geltend macht, der Revisionswerber habe im Folgeverfahren ein Schreiben seines langjährigen Sozialbetreuers vorgelegt, wonach der Revisionswerber diesem im Dezember 2022 offensichtlich sehr glaubwürdig von seiner Homosexualität erzählt habe. Der Revisionswerber habe auch berichtet, dass er wegen seiner Homosexualität in der Asylunterkunft ein Einzelzimmer erhalten und dass er seit ca. einem Jahr einen namentlich genannten Freund habe. Auf all das sei in der Beweiswürdigung der angefochtenen Entscheidung in unvertretbarer Weise nicht eingegangen worden. Hätte sich der angefochtene Beschluss inhaltlich mit der vorgebrachten Homosexualität auseinandergesetzt und insbesondere das vorgelegte Schreiben des Betreuers berücksichtigt, hätte das BVwG im Sinne näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht davon ausgehen dürfen, dass die Zurückweisung des Folgeantrags „auf der Hand“ liege und die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes rechtfertige.
7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 kann das BFA den faktischen Abschiebeschutz des Fremden, der einen Folgeantrag gestellt hat, aufheben, wenn gegen ihn (u.a.) eine Rückkehrentscheidung besteht (Z 1), der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist (Z 2), und die Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3, oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde (Z 3).
10 Zur Tatbestandsvoraussetzung des § 12a Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 („wenn der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist“) hat der Verwaltungsgerichtshof erkannt, es müsse das vom Gesetz angestrebte Ziel beachtet werden, den faktischen Abschiebeschutz nur für klar missbräuchliche Anträge beseitigen zu wollen. Nicht jeder Folgeantrag, bei dem eine (spätere) Zurückweisung wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG in Betracht kommen könnte, berechtige daher zur Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 2 AsylG 2005. Es müsse sich vielmehr um einen Fall handeln, in dem sich dieser Verfahrensausgang von vornherein deutlich abzeichne. Nur dann könne auch angenommen werden, dass die Antragstellung in Wirklichkeit den Zweck verfolge, die Durchsetzung einer vorangegangenen und mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbundenen (rechtskräftigen) Vorentscheidung zu verhindern. Auf einen solchen missbräuchlichen Zweck deute unter Bedachtnahme auf näher bezeichnete unionsrechtliche Vorgaben etwa die mehrfache Folgeantragstellung hin, wenn dieser keine substanziell neuen und eine andere Beurteilung rechtfertigenden Sachverhaltselemente zugrunde liegen. Möglich seien aber auch andere Umstände, die den Schluss zuließen, dass der Fremde mit seinem Folgeantrag eine (bevorstehende) Abschiebung verhindern oder verzögern möchte (vgl. dazu grundlegend VwGH 19.12.2017, Ra 2017/18/0451 bis 452, und ihm folgend etwa VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0487 ; 11.7.2022, Ra 2020/18/0447).
11 Im gegenständlichen Fall erwog das BVwG zum erstmals im Folgeantrag erstatteten Vorbringen des Revisionswerbers, wegen behaupteter Homosexualität im Irak Verfolgung zu erfahren, lediglich, der Revisionswerber habe dies nicht glaubhaft machen können. Abgesehen davon, dass sich das BVwG (wie zuvor bereits das BFA) mit den von der Revision angesprochenen Beweismitteln beweiswürdigend nicht auseinandergesetzt und sein Verfahren insoweit mit einem Begründungsmangel belastet hat, reicht diese Begründung rechtlich nicht aus, um den faktischen Abschiebeschutz im Sinne des zuvor Gesagten aufzuheben, weil keine Beschäftigung damit erfolgt ist, dass die Folgeantragstellung klar missbräuchlich erfolgt wäre und schon bei einer Grobprüfung die (spätere) Zurückweisung des Folgeantrags auf der Hand liegt.
12 Zu Recht macht die Revision daher geltend, dass das BVwG die oben referierten Leitlinien aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht beachtet hat, weshalb es seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet hat.
13 Nur der Vollständigkeit halber sei abschließend auf Folgendes hingewiesen: Das BVwG scheint nach der Begründung seiner Entscheidung anzunehmen, eine relevante Sachverhaltsänderung könne nur dann vorliegen, wenn diese nach Rechtskraft des Vorverfahrens stattgefunden hat. Dabei übersieht das Verwaltungsgericht, dass ein Folgeantrag auf internationalen Schutz nach der mittlerweile ständigen und im Gefolge einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. EuGH 9.9.2021, C 18/20) ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nicht allein deshalb wegen entschiedener Sache zurückgewiesen werden darf, weil der nunmehr vorgebrachte Sachverhalt von der Rechtskraft einer früheren Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz erfasst sei, ohne dass eine Prüfung im Sinn des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) vorgenommen worden wäre, ob neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist (vgl. dazu grundlegend VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006 ).
14 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
15 Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abzusehen.
16 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung.
Wien, am 23. September 2024