JudikaturVwGH

Ra 2023/14/0182 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, in der Revisionssache des S A, gesetzlich vertreten durch M M, dieser vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 4. April 2023, W114 2265412 1/7E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Der minderjährige Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Syrien, reiste gemeinsam mit seinem Onkel in das Bundesgebiet ein und stellte am 3. Jänner 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er mit dem in Syrien herrschenden Krieg begründete.

2 Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Oberpullendorf vom 15. September 2022 wurde dem Onkel die Obsorge über den damals rund 11,5 Jahre alten Revisionswerber übertragen.

3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 6. Dezember 2022 hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Die Behörde erkannte jedoch dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte mit der Gültigkeit für ein Jahr.

4 Die gegen die Versagung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Begründend gelangte das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dem Revisionswerber sei es nicht gelungen, eine gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft zu machen. Auch in der amtswegigen Prüfung sei eine über die nicht asylrelevanten Kriegswirren hinausgehende Bedrohung des Revisionswerbers nicht hervorgekommen. Wenn der Revisionswerber behaupte, ihm drohe Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Kinder in Syrien, fehle es am erforderlichen Zusammenhang zwischen der Bedrohung und einem Konventionsgrund. Abgesehen davon handle es sich näher begründet beim Revisionswerber um kein alleinstehendes Kind.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

7 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10 Der Revisionswerber wendet sich in der Begründung für die Zulässigkeit seiner Revision unter mehreren Aspekten gegen die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, dem minderjährigen Revisionswerber sei die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten zu versagen.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 21.5.2021, Ro 2020/19/0001; 13.6.2023, Ra 2023/20/0195).

12 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 2.2.2023, Ro 2022/18/0002, mwN).

13 Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).

14 Die Revision weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Einschätzungen des UNHCR abweiche, indem es die aktuellen UNHCR-Erwägungen sowie die aktuelle „Country Guidance“ der EUAA bei der Beurteilung der Gefahr einer Zwangsrekrutierung nicht entsprechend berücksichtigt habe.

15 Den Richtlinien des UNHCR ist besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Die Verpflichtung zur Beachtung der von UNHCR und EUAA [vormals: EASO] herausgegebenen Richtlinien ergibt sich aus dem einschlägigen Unionsrecht. Die Asylbehörden sind jedoch nicht an entsprechende Empfehlungen von UNHCR und EUAA [vormals: EASO] gebunden (vgl. VwGH 11.2.2021, Ra 2021/20/0026 bis 0029, mwN).

16 Wie die Revision selbst ausführt, verlangen die von ihr angesprochenen UNHCR Richtlinien für die Gefährdungsbeurteilung von Personen, die ein Risikoprofil erfüllen, eine Beurteilung der jeweiligen Umstände des Falles und enthalten somit nicht den Schluss, dass jeder Asylsuchende, der unter ein Risikoprofil falle, einer Verfolgung ausgesetzt sei.

17 Das Bundesverwaltungsgericht setzte sich nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffte fallbezogen unter Berücksichtigung der aktuellen einschlägigen Länderberichte, des Leitfadens für Syrien von EUAA als auch der Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus Syrien fliehen, mit dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers auseinander. Es kam in seinen Erwägungen auf dieser Grundlage sowie aufgrund der konkreten Situation des Revisionswerbers - insbesondere seines Alters - nachvollziehbar zum Ergebnis, dass nicht davon auszugehen sei, er wäre bei einer Rückkehr nach Syrien der Gefahr einer Zwangsrekrutierung von Kindern ausgesetzt. Sämtliche diesbezüglichen Ausführungen des Revisionswerbers würden sich als allgemein gehalten erweisen und das Vorliegen einer ausreichend konkreten, individuellen Bedrohung des Revisionswerbers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht aufzeigen. Einer allgemeinen Gefährdung von Minderjährigen aufgrund der Gesamtsituation in Syrien sei mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten Rechnung getragen worden.

18 Die Revision hält diesen Erwägungen nichts Stichhaltiges auf die Person des Revisionswerbers bezogen entgegen. Sie begegnet den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes vor allem mit einzelnen, aus den Berichten herausgegriffenen Passagen und vermisst im angefochtenen Erkenntnis eine detaillierte Auseinandersetzung mit den daraus sich ergebenden Risikofaktoren für Kinder. Die von der Revision angesprochenen Risikofaktoren für eine Zwangsrekrutierung von Kindern (Alter, Geschlecht, Herkunftsprovinz, Familienstand, Volksgruppenzugehörigkeit, Familienstand) hat das Bundesverwaltungsgericht aber ohnedies festgestellt und auch festgehalten, dass es faktisch zu Zwangsrekrutierungen von Kindersoldaten kommen könne. Die Revision blendet aber aus, dass das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Einzelfallprüfung mit näherer Begründung eine dem Revisionswerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevante Verfolgungsgefahr verneint und ausgeführt hat, dass der allgemeinen Gefährdung von Minderjährigen aufgrund der Gesamtsituation in Syrien bereits mit der Zuerkennung von subsidiärem Schutz Rechnung getragen worden sei.

19 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Frage, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, eine Einzelfallentscheidung ist, die grundsätzlich wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel ist (vgl. erneut VwGH 13.6.2023, Ra 2023/20/0195). Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Feststellung allgemeiner Umstände im Herkunftsstaat die Glaubhaftmachung der Gefahr einer konkreten, individuell gegen den Revisionswerber gerichteten Verfolgung nicht ersetzen kann (vgl. VwGH 29.3.2023, Ra 2023/14/0095 bis 0096, mwN).

20 Letztlich stellt die Revision mit ihren Ausführungen in ihrer Zulässigkeitsbegründung lediglich eine bloß theoretisch denkbare Möglichkeit eines Verfolgungsszenarios für den Revisionswerber in den Raum und keine für ihn konkret vorliegende Gefahrenlage.

21 Der Revision gelingt es vor diesem Hintergrund fallbezogen somit nicht, ausgehend vom festgestellten Sachverhalt eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK herzustellen und damit darzulegen, dass die fallbezogene Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes zu den vom Revisionswerber geschilderten fluchtauslösenden Ereignissen unvertretbar wäre (zur eingeschränkten Revisibilität der Beweiswürdigung im Revisionsverfahren vgl. etwa VwGH 2.5.2023, Ra 2023/14/0118, mwN).

22 In ihrem weiteren Zulässigkeitsvorbringen stellt die Revision darauf ab, dass Kinder, die die sich aus den Berichten der EUAA und des UNHCR ergebenden Risikofaktoren erfüllten, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie darstellten. Folglich wäre auch dem Revisionswerber als syrischem Kind mit dem beschriebenen Profil der Asylstatus zuzuerkennen gewesen.

23 Bei der „sozialen Gruppe“ handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C 199/12 bis C 121/12, Rn. 45; 4.10.2018, Ahmedbekova, C 652/16, Rn. 89) gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher Feststellungen sowohl zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. zu alldem VwGH 26.4.2021, Ra 2020/01/0025, Rn. 14 bis 16; auch 27.9.2022, Ra 2021/01/0305, mwN).

24 Dem angefochtenen Erkenntnis sind zwar Benachteiligungen und Risiken für Kinder in Syrien zu entnehmen, jedoch keine Feststellungen zu deren gezielten und asylrelevanten Verfolgung. Auch die Ausführungen in der Revision, in denen Gefahren beschrieben werden, die nach Ansicht des Revisionswerbers eine Intensität iSd Art. 9 Abs. 1 lit. a der Statusrichtlinie aufweisen, zeigen keinen kausalen Zusammenhang mit dem behaupteten Verfolgungsgrund der „sozialen Gruppe der (alleinstehenden) Kinder in Syrien“ iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d iVm Art. 2 lit. d der Statusrichtlinie auf. Soweit es sich um willkürliche Zwangsakte handelt, dient dem Schutz die dem Revisionswerber ohnedies zuteil gewordene Gewährung subsidiären Schutzes.

25 Daher erübrigt es sich auf die in der Revision relevierte Frage, ob „(alleinstehende) Kinder in Syrien“ als eine bestimmte soziale Gruppe iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie anzusehen sind, näher einzugehen (vgl. etwa VwGH 19.6.2018, Ra 2018/20/0262, Rn. 10; 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, Rn. 8; 5.3.2020, Ra 2018/19/0576, Rn 19).

26 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 3. Juli 2023

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