Spruch
I421 2302110-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin STEINLECHNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX (alias XXXX ), StA. Syrien, vertreten durch BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 09.09.2024, IFA-Zahl/Verfahrenszahl XXXX , nach Durchführung einer Verhandlung am 03.01.2025 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 (4) B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 21.09.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihn begründete er am folgenden Tag damit, Syrien wegen Armut und der unsicheren Lage verlassen zu haben sowie als Araber im Kurdengebiet diskriminiert zu werden.
Nach Befragung des Beschwerdeführers am 23.05.2024 wies die belangte Behörde mit Bescheid vom 09.09.2024 den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Gegen Spruchpunkt I. richtet sich die am 11.10.2024 eingebrachte Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der Beschwerdeführer habe Syrien aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung verlassen, er wolle nicht zur syrischen Armee eingezogen werden oder an Kampfhandlungen teilnehmen. Auch drohe ihm die Rekrutierung durch kurdische Streitkräfte. Die belangte Behörde habe den Grundsatz des Parteiengehörs verletzt. Die übrigen Spruchpunkte erwuchsen unangefochten in Rechtskraft.
Am 27.12.2024 erstattete die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme. Der BF stamme aus einem Gebiet unter Kontrolle der kurdischen SDF und fürchte, gegen seinen Willen zum Militärdienst eingezogen zu werden. Aufgrund der türkischen Angriffe hätten die SDF „massiv gesteigerten Personalbedarf“. Im Herkunftsort des BF lebende Verwandte hätten ihn über viele Zwangsrekrutierungen informiert, 2 Presseartikel würden dieses Risiko glaubhaft darlegen.
Am 03.01.2025 führte das Bundesverwaltungsgericht Außenstelle Innsbruck eine mündliche Verhandlung durch und schloss das Beweisverfahren.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person:
Der volljährige und ledige Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig, Staatsangehöriger von Syrien und bekennt sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der Araber an, ist in XXXX (Provinz Aleppo) geboren und stammt aus XXXX in der Provinz Damaskus-Land.
Seine Identität steht nicht fest. Er hat in Syrien einige Jahre eine Schule besucht.
In Österreich halten sich keine Angehörigen auf, in seinem Geburtsort in Syrien leben (weitgehend) unbehelligt seine Eltern und Geschwister, das Verhältnis ist gut. Digitaler Kontakt besteht nach wie vor, findet jedoch mangels stabiler Internetverbindung nur sporadisch statt.
Der Beschwerdeführer zog in etwa 2016 aus Syrien in die Türkei um, wo er 7 Jahre als Schneider arbeitete. 2023 gelangte er schlepperunterstützt auf dem Landweg nach Österreich, wo er sich seit mindestens 21.09.2023 aufhält. Die Kosten dafür haben mehr als EUR 3.000,- betragen. Seit 29.11.2024 liegt keine Meldung eines aufrechten Hauptwohnsitzes im Bundesgebiet vor.
Hier verfügt der strafrechtlich unbescholtene Beschwerdeführer nicht über maßgebliche private oder familiäre Beziehungen. Er ging in Österreich etwas über 9 Monate einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in der Gastronomie nach, verdiente monatlich brutto € 1.945,- und spricht ein wenig Deutsch. Abgesehen davon weist er in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher oder kultureller Hinsicht auf.
Mit Bescheid vom 09.09.2024 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zu.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers steht zum Entscheidungszeitpunkt unter dem Einfluss der von der HTS geführten Koalition.
Der Beschwerdeführer leistete den Militärdienst nicht ab und verweigerte diesen auch nicht, sondern zog vor Erreichen der Volljährigkeit in die Türkei, wo er jahrelang lebte und als Schneider arbeitete.
Der Beschwerdeführer befindet sich im wehrfähigen Alter, erhielt keinen Einberufungsbefehl und möchte den Militärdienst in Syrien nicht ableisten. Er verweigert den Wehrdienst weder aus politischen noch aus religiösen Gründen.
Er wurde in seiner Heimat weder von staatlichen noch von nichtstaatlichen Akteuren verfolgt und muss auch im Fall seiner Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, verfolgt zu werden.
Ihm drohen aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität, weder durch den syrischen Staat noch durch Mitglieder anderer (bewaffneter) Gruppierungen.
Der Beschwerdeführer hat Syrien wegen der volatilen Sicherheitslage verlassen, um in der Türkei zu arbeiten.
1.3. Zum Herkunftsstaat (Aufstellung entscheidungsrelevanter Informationen zu Syrien):
1.3.1. Zusammenfassung aktueller Informationen seit Dezember 2024
Vorliegend war zu beurteilen, ob dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht. Am 08.12.2024 änderte sich die Lage im Südwesten Syriens maßgeblich.
Die EUAA hat zu Syrien seit Oktober 2024 weder Leitfäden noch Berichte veröffentlicht.
UNHCR publizierte am 10.12.2024 die „Stellungnahme des UN-Flüchtlingshochkommissars zur Situation in Syrien“ (Primat der Geduld und Vorsicht, es bestünde immenser Bedarf an humanitärer Hilfe, Recht und Ordnung seien wesentliche Aspekte (UNHCR 12.2024a)), am 11.12.2024 das „Statement zur Aussetzung von Asylanträgen von Syrerinnen und Syrern“ (Appel für die Sicherstellung des Zugangs zum Asylsystem und der angemessenen Versorgung, das Zuwarten mit der Entscheidungsfindung bis zur Stabilisierung der Situation sei akzeptabel, ebenso „Go and See-visits“ (Besuche), die Grenzübergänge Bab al-Hawa und Bab al-Salam würden für die Rückkehr nach Syrien genutzt, gleichzeitig flöhen Tausende in den Libanon UNHCR (12.2024b)), am 19.12.2024 die Mitteilung „UNHCR mahnt zu Zurückhaltung bei Rückführungsbestrebungen von syrischen Flüchtlingen“ (Aberkennungsverfahren seien verfrüht, 90 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen und die Sicherheitslage „schwierig“, erforderlich wären ein Ende der Kampfhandlungen, eine funktionierende Regierung, grundlegende Verwaltungsstrukturen und gesicherte Existenzgrundlagen (UNHCR 12.2024c)), am 24.12.2024 die nachstehend eingefügte Übersicht (rund 400.000 individuelle Rückkehrende im Jahr 2024, über 55.000 seit 08.12.2024, die meisten nach Ar-Raqqa und Aleppo (UNHCR 12.2024d)) sowie am 27.12.2024 das „Regional Flash Update #7“ (Zehntausende Rückkehrer aus den Nachbarstaaten, UNHCR kooperiere mit den „new authorities“, es gebe eine zunehmende Rückkehr zur Normalität in einigen Gegenden, jedoch auch bewaffnete Auseinandersetzungen, detonierte Landminen und Kriminalität, die Türkei erlaube syrischen Flüchtlingen im ersten Halbjahr 2025 3 „Go and See-visits“, der Libanon und Jordanien nähmen die Tätigkeit an den Grenzübergängen wieder auf, „UNHCR and partner early recovery and aid programmes“ seien weitgehend wiederhergestellt worden, UNHCR unterstütze in Damaskus Ausbildungs- und Gesundheitsprogramme, in Aleppo lebensnotwendige Güter, Werkzeuge und Materialien für rückkehrende Familien (UNHCR 12.2024e)).
Die Regierung von Präsident Bashar al-Assad wurde am 08.12.2024 durch islamistische Regierungsgegner unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) gestürzt. Zeitgleich starteten die von der Türkei unterstützten Rebellengruppen eine eigene Operation gegen die kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) im Norden von Aleppo. In Damaskus herrschte zunächst Chaos, so wurden staatliche Einrichtungen gestürmt und Fahrzeuge angezündet. Es gäbe die Anweisung, keine öffentlichen Einrichtungen anzugreifen, diese stünden bis zur offiziellen Übergabe unter Aufsicht des „alten“ Ministerpräsidenten. Präsident al-Assad habe am 04.12.2024 die Gehälter seiner Soldaten (nicht jedoch der Pflichtwehrdiener) erhöht, was sich auf deren Moral nicht nachhaltig ausgewirkt hätte. Sicherheitsspezifische Berichte beschreiben Angriffe Israels (in Südsyrien) und der USA (in Zentralsyrien), Russland bemühe sich um Dialog mit der neuen syrischen Führung. In sozio-ökonomischer Hinsicht werde der Schutz von Minderheiten und eine Generalamnestie für alle unfreiwillig eingezogenen Wehrpflichtigen der Syrischen Arabischen Armee versprochen (vgl. STDOK 12.2024).
Sicherheitslage Dezember 2024: HTS nimmt Städte in Nordsyrien ein: Am 27.11.2024 starteten islamistische Rebellen eine Großoffensive im Nordwesten Syriens (ORF 29.11.2024) unter dem Namen „Abschreckung der Aggression“ (AJ 2.12.2024). Der Operation gingen Monate an Training und Vorbereitungen voraus (NYT 1.12.2024b). Bereits im Oktober hatten die Angriffe zwischen Regierungstruppen und ihren russischen Verbündeten auf der einen und Oppositionsgruppierungen auf der anderen Seite stark zugenommen. Schon damals stand eine mögliche militante Operation der Oppositionskräfte gegen die Regierungsgebiete im Nordwesten Syriens im Raum (TNA 31.10.2024). Die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) hatte mit Artillerie und Raketen Stellungen der Syrischen Arabischen Armee angegriffen (NPA 11.10.2024), woraufhin die Regierung zahlreiche Ortschaften in den Provinzen Aleppo und Idlib mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen hatte und ihre russischen Verbündeten Luftangriffe geflogen waren (Enab 31.10.2024). Den Regierungsgegnern unter der Führung der islamistischen Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), einem ehemaligen syrischen Ableger des Terrornetzwerkes Al-Qa’ida (Standard 1.12.2024), gelang es ab 27.11.2024 schnell und ohne große Gegenwehr im Zuge ihrer aktuellen Offensive die zweitgrößte syrische Stadt Aleppo unter ihre Kontrolle zu bringen. Innerhalb weniger Tage konnten die Rebellen ihr Herrschaftsgebiet verdreifachen (NZZ 1.12.2024). Die HTS kontrolliert damit weite Teile der Region Idlib im Nordwesten Syriens sowie Teile der benachbarten Provinzen Aleppo, Hama und Latakia (DAST 1.12.2024). Mit Stand 2.12.2024 waren die Islamisten bis in die nördlichen und östlichen Landesteile von Hama vorgedrungen, wo es zu Zusammenstößen zwischen HTS und Regierungskräften gekommen ist. Die Terroristen setzen bei ihren Kämpfen in großem Umfang Drohnen ein, um militärische Stellungen und Fahrzeuge anzugreifen (SOHR 2.12.2024a). Die Regierungstruppen entsandten große Verstärkung zur Errichtung einer Verteidigungslinie im Norden und Westen der Stadt Hama (SOHR 2.12.2024b) und starteten Luftangriffe in Aleppo (NYT 1.12.2024). Die syrischen Streitkräfte geben an, bereits einige Städte wieder zurück unter ihre Kontrolle gebracht zu haben (FT 2.12.2024). Syriens Präsident Bashar al-Assad bemühte sich um Unterstützung seiner Verbündeten. Der iranische Außenminister reiste am 1.12.2024 nach Damaskus und erklärte vor seiner Abreise, dass Teheran die syrische Regierung und Armee fest unterstützen werde. Auch das russische Militär bestätigte, dass es den syrischen Regierungstruppen dabei helfe, die Terroristen in den Provinzen Idlib, Hama und Aleppo abzuwehren (al-Mon 1.12.2024; vgl. France24 2.12.2024). Die drei wichtigsten Verbündeten Iran, die Terrororganisation Hizbollah und Russland sind durch den Krieg mit Israel einerseits und den Ukraine-Krieg andererseits geschwächt (NZZ 1.12.2024). Dennoch wurden erstmals seit 2016 wieder Ziele in Aleppo durch russische Streitkräfte aus der Luft angegriffen (Standard 1.12.2024). Die syrische Regierung erwartet weitere militärische Unterstützung aus Russland (Presse 30.11.2024). Syrische Quellen berichteten, dass Kämpfer schiitischer, bewaffneter und vom Iran unterstützter Gruppierungen der sogenannten Popular Mobilisation Forces (PMF) aus dem Irak zur Hilfe im Kampf gegen die Oppositionsgruppen eingetroffen wären (Al-Hurra 2.12.2024; vgl. Arabiya 2.12.2024, REU 2.12.2024). Neben der Operation der HTS verkündeten die von der Türkei unterstützten Rebellen der Syrian National Army (SNA) am 30.11.2024 den Start der Operation „Morgenröte der Freiheit“ im Nordosten der Stadt Aleppo (NPA 30.11.2024; vgl. AA 1.12.2024). Sie drangen in den Ort Tal Rifaat vor und übernahmen die Kontrolle der Stadt, die zuvor von der kurdischen Miliz YPG kontrolliert wurde (FAZ 1.12.2024; vgl. Zeit 1.12.2024) beziehungsweise von den Syrian Democratic Forces (SDF) (FT 2.12.2024). Letztere sollen syrischen staatlichen Medien zufolge im Norden Dörfer im Norden der Provinz Deir ez-Zour angegriffen haben. Die Syrische Arabische Armee (SAA) wehrte diese Angriffe ab (REU 3.12.2024b). Laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) beträgt die Anzahl der zivilen und militärischen Todesopfer 446 (Stand 2.12.2024) (SOHR 2.12.2024b). Gemäß der UN sind seit Ausbruch der Kampfhandlungen ca. 48.500 Menschen aus der Umgebung von Idlib und Aleppo vertrieben worden (Stand 30.11.2024) (Standard 3.12.2024). Bei den Angriffen beider Konfliktparteien sind laut Angaben der UN Zivilisten zu Schaden gekommen, darunter Frauen und Kinder (REU 3.12.2024).
Der Österreichische Rundfunk berichtete von der Außerkraftsetzung der Verfassung, der beabsichtigten Bildung eines Rechts- und Menschenrechtsausschusses – um die Verfassung zu prüfen und dann Änderungen vorzunehmen – sowie „nach mehr als einem halben Jahrhundert Herrschaft der Assad-Familie“ der Errichtung eines Rechtsstaats. Die religiöse und kulturelle Vielfalt in Syrien werde respektiert (ORF 12.12.2024).
Auszug aus den Herkunftsländerinformationen der Staatendokumentation zu Syrien, Version 11, Stand 27.03.2024:
1.3.2. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
1.3.2.1. Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien
Wehrpflichtgesetz der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien": Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).
Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbsverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vgl. NMFA 8.2023).
Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen: Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Rekrutierungspraxis: Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).
Wehrdienstverweigerung und Desertion: Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vgl. EB 12.7.2019).
Aufschub des Wehrdienstes: Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht": Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022). Im Sommer 2023 kam es in Manbij zu Protesten gegen die SDF insbesondere aufgrund von Kampagnen zur Zwangsrekrutierung junger Männer in der Stadt und Umgebung (SO 20.7.2023).
Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst: Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Laut mehreren von ACCORD für eine Anfragebeantwortung interviewten Experten gibt es de facto keine Möglichkeit des syrischen Regimes, in den von den SDF kontrollierten Gebieten zu rekrutieren, obwohl es teilweise Patrouillen des syrischen Regimes in der AANES gibt. Lediglich in jenen Gebieten, die von den Regierungstruppen kontrolliert werden, können die Personen auch rekrutiert werden (ACCORD 24.8.2023). Ebenso gibt der Syrienexperte van Wilgenburg an, dass die Kontrollpunkte der syrischen Armee nicht die Befugnis haben, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sondern der Abschreckung der Türkei dienen (van Wilgenburg 2.9.2023). Dem widerspricht SNHR, das ebenfalls von ACCORD befragt wurde mit der Angabe, dass das syrische Regime an Checkpoints und Kontrollpunkten sehr wohl auf vom Regime gesuchte Wehrpflichtige zugreifen könnte und würde und diese in die von der Regierung kontrollierten Gebiete eskortieren würde (ACCORD 24.8.2023).
1.3.3. Ethnische und religiöse Minderheiten
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (USDOS 2.6.2022).
Die alawitische Gemeinschaft [Anm.: zu der Bashar al-Assad gehört] genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite (USDOS 2.6.2022). Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen (FH 9.3.2023).
Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch-dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion ('asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Als Folge der konfessionellen Polarisierung, die durch das Regime selbst gefördert wurde, wie auch durch seine islamistischen und jihadistischen Feinde, waren viele AlawitInnen gezwungen, sich aus Angst vor sunnitisch-arabischen Vergeltungsschlägen auf die Seite des Regimes zu stellen (Al-Majalla 15.3.2023).
In einer Diktatur wie in Syrien kommt die Repression überall in den Gebieten unter der Kontrolle des Regimes zur Anwendung - auch in den ländlichen Gebieten mit alawitischer Bevölkerungsmehrheit. AlawitInnen unter Oppositionsverdacht werden im Allgemeinen inhaftiert, schwer unter Druck gesetzt oder getötet. Alawitische OpponentInnen der Assad-Herrschaft [Anm.: seit 1970] waren gelegentlich in einer schlimmeren Lage als sunnitische Oppositionelle, weil sie potenziell eine größere Bedrohung durch ihre Zugehörigkeit zur alawitischen Gemeinschaft darstellen (Al-Majalla 15.3.2023). So werden Berichten zufolge auch weiterhin alawitische oppositionelle AktivistInnen Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung. AlawitInnen werden zudem aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (USDOS 30.3.2023).
Im Zuge des Bürgerkriegs kam es zu verschiedenen konfessionalistischen Exzessen, welche die Möglichkeiten für eine Versöhnung zwischen den Kriegsparteien untergraben. Es gab Berichte über Massaker, konfessionalistische Säuberungsaktionen wie auch Entführungen und sexuelle Gewalt gegen AlawitInnen und ChristInnen und umgekehrt von Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft gegen Mitglieder der sunnitschen Bevölkerungsgruppe (Al-Majalla 15.3.2023).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt seitens des Regimes gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regimes bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeigt sie konfessionelle Auswirkungen (USDOS 10.6.2020). So versucht die syrische Regierung, konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von gewalttätigen sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Muslime und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis (USDOS 2.6.2022). Der Einsatz von schiitischen Kämpfern durch den Iran, z. B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellen die Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran die bewaffnete Opposition und oppositionelle Protestierende sowie humanitäre Hilfsorganisationen auch als konfessionalistisch motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang bringen, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).
Im Allgemeinen bestehen in Gebieten, die unter Regierungskontrolle stehen, keine Hindernisse für religiöse Minderheiten, insbesondere nicht für Christen. Schätzungen zufolge leben nur mehr 3 % (vor dem Konflikt über 10 %) Christen im Land; viele sind seit Ausbruch des Konflikts geflohen – ihre Rückkehr scheint unwahrscheinlich. In Rebellengebieten, die von sunnitischen Fraktionen kontrolliert werden, ist die Religionsausübung zwar möglich, aber nur sehr eingeschränkt. Zusätzlich erschwert wird die Situation der Christen dadurch, dass sie als regierungsnahe wahrgenommen werden. Sowohl aufseiten der regierungstreuen als auch aufseiten der Opposition sind alle religiösen Gruppen vertreten. Aufgrund ihrer starken Dominanz in der Regierung und im Sicherheitsapparat werden Alawiten aber grundsätzlich als regierungstreu wahrgenommen, während sich viele Sunniten (sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, vor Beginn des Konflikts waren es 72 %) in der (auch bewaffneten) Opposition finden. Aufgrund dieser Zugehörigkeit zur Opposition ist die Mehrheit der politischen Gefangenen und Verschwundenen sunnitisch. Bei der militärischen Rückeroberung der syrischen Armee von Gebieten wie Homs oder Ost-Ghouta wurden sunnitisch dominierte Viertel stark in Mitleidenschaft gezogen. Dadurch wurden viele Sunniten aus diesen Gebieten vertrieben und faktisch ein demografischer Wandel dieser Gebiete herbeigeführt. Die wirtschaftliche Implosion und die damit verbundene Verarmung weiter Teile der Bevölkerung unterminieren auch die Loyalitäten von als regimenah geltenden Bevölkerungsgruppen, inklusive der Alawiten (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten (UNHCR 3.2021). Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (USDOS 2.6.2022).
Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (FH 9.3.2023).
Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (FH 9.3.2023).
Ende 2019 führte das türkische Militär eine Offensive in Nordost-Syrien durch, um eine Pufferzone zur Zurückdrängung seiner kurdischen Gegner aus dem Gebiet zu schaffen [siehe auch die jeweiligen relevanten Unterkapitel im Kapitel Sicherheitslage] (FH 9.3.2023). Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten, besonders vertriebene KurdInnen, JesidInnen und ChristInnen, z. B. in der Stadt Afrin, berichteten von Menschenrechtsverletzungen und Marginalisierung (USDOS 2.6.2023). Von der Türkei unterstützte Milizen wurden in Folge beschuldigt, Grundstücke und Häuser zu enteignen (FH 9.3.2023). Sie begingen u. a. auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Plünderungen von Privatbesitz - besonders in kurdischen Gebieten - wie auch Vandalenakte gegen jesidische religiöse Stätten. Bezüglich in und um Afrin werden zusätzlich besonders auch Tötungen und willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen genannt. Besonders oft waren JesidInnen Ziel der Taten. Weiterhin werden von pro-türkischen Milizen verschleppte jesidische Frauen vermisst. Berichten zufolge leben in Afrin nur mehr 5.000 JesidInnen, während vor der türkischen Invasion von 2018 25.000 JesidInnen in 22 Dörfern ansässig waren (USDOS 2.6.2022).
Sunnitisch-islamistische und jihadistische Gruppen verfolgen oft religiöse Minderheiten und Muslime, welche sie der Pietätlosigkeit oder der Apostasie beschuldigen (FH 9.3.2023). Verschiedene islamistische Gruppen in Idlib legen Medienberichten zufolge ChristInnen die Anwendung der Scharia auf wie auch die Jizya, eine Steuer für Nicht-Muslime, um sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen. Die HTS verstärkte demnach den Druck auf ChristInnen in Idlib durch solche Restriktionen wie auch durch eine Erhöhung von Mieten von Häusern und Geschäften, weil die HTS den Immobilienbesitz von ChristInnen als Kriegsbeute ansieht. Die HTS beging zudem weitere Arten von Misshandlungen/Machtmissbrauch ('abuses') auf Basis der konfessionellen Identität der Betroffenen (USDOS 12.5.2021). Für das Jahr 2021 werden weiterhin solche Restriktionen der HTS gegen ChristInnen in Idlib Stadt berichtet. Es wurde bekannt, dass HTS im Zeitraum Ende 2018 bis Ende 2019 Hunderte Immobilien, darunter mindestens 550 Häuser und Geschäfte in der Provinz Idlib, die vertriebenen ChristInnen gehörten, beschlagnahmt hatte (USDOS 2.6.2022).
Das Schicksal von 8,648 Personen, die vom IS seit 2014 verschleppt wurden, bleibt unbekannt (USDOS 2.6.2022). Nach Schätzung der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen tötete oder entführte der sogenannte Islamische Staat (IS) allein mehr als 9.000 JesidInnen. Die UNO bewertete dies als "Kampagne des Genozids" (USDOS 10.6.2020), wobei der IS ab 2014 ungefähr 6.000 großteils jesidische, aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak verschleppte (USDOS 10.6.2020). Diese wurden nach Syrien gebracht und als Sexsklavinnen verkauft, in nominelle Heiraten mit IS-Kämpfern gezwungen oder dienten als 'Geschenke' für IS-Kommandanten. Von diesen Frauen und Kindern ist weiterhin der Verbleib von 2.763 Menschen unbekannt (USDOS 2.6.2022).
Trotz der territorialen Niederlage des IS berichteten Medien und NGOs, dass seine extremistische Ideologie weiterhin stark im Land präsent ist (USDOS 12.5.2021). Im Jahr 2022 nahmen gewalttätige Übergriffe durch IS-Überreste zu. Menschenrechtsorganisation berichten, dass diese häufig Zivilisten, Personen, welche der Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften verdächtig sind, und Gruppen, die vom IS als Apostaten gesehen werden, ins Visier nehmen (USDOS 2.6.2022). Siehe dazu auch das Kapitel Sicherheitslage.
Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben (FH 9.3.2023). Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' (siehe auch Kapitel Sicherheitslage) (USDOS 2.6.2022).
1.3.4. Bewegungsfreiheit
1.3.4.1. Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 8.12.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 2.2.2024). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).
Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Betreten und Verlassen des Regimegebiets: Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
1.3.4.2. Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen als Ausstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfache Auszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (AA 2.2.2024).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) (Anm.: bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Rückkehr: Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
1.3.4.3. Binnenvertriebene und Flüchtlinge
Binnenvertriebene (IDPs): Ende 2022 waren 12,4 Millionen SyrerInnen weiterhin entweder Flüchtlinge außerhalb des Landes oder Binnenvertriebene (IDPs - internally displaced persons) in Syrien. Es kam zu keinen bedeutenden Rückkehrbewegungen, und so betrug die Zahl der syrischen Flüchtlinge 5,5 Millionen Menschen. Die Anzahl der IDPs stieg auf 6,9 Millionen Menschen - ein Drittel der Bevölkerung und ein Anstieg um 100.000 Personen seit Ende 2021 (WFP 8.4.2023). UNOCHA weist darauf hin, dass es sich um die höchste Zahl an Binnenvertriebenen weltweit handelt. Bereits vor dem Erdbeben (am 6.2.2023) waren fast 80 Prozent der IDP-Haushalte mindestens fünf Jahre vertrieben, und viele durchlebten mehrere Vertreibungen (UNOCHA 14.2.2023) [Anm.: die genauen Zahlen an Flüchtlingen und IDPs variieren je nach Quelle und Berichtszeitpunkt]. Umfassende und landesweite Informationen über Binnenvertreibung fehlen (UNOCHA 14.2.2023).
Während einige SyrerInnen begannen, in ihre Heime in Gebiete zurückzukehren, wo die Kampfhandlungen nachgelassen haben, kam es im Laufe von 2022 auch zu neuer Gewalt und neuen Fluchtbewegungen (FH 9.3.2023). Bei den intern Vertriebenen (IDPs) blieb mit 356.000 RückkehrerInnen die Zahl gegenüber 2019 (1,2 Mio.) weit zurück, wobei der Großteil der Bewegungen innerhalb der Gouvernements erfolgte. Bis August 2020 kehrten rund 300.000 Menschen zurück, der Großteil davon innerhalb/nach Idlib und Aleppo. Die Zahlen der neu Vertriebenen sind erneut weit höher; es gab 2020 wie im Jahr zuvor 1,8 Mio. IDP-Bewegungen insgesamt. Im Zuge der Eskalation des Konfliktes in Idlib wurden von Dezember 2019 bis März 2020 knapp 1 Mio. Menschen vertrieben (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonder vulnerabel bezüglich sexueller Ausbeutung oder durch Arbeit sowie bezüglich Menschenhandel. Dies trifft auch auf die relativ stabilen Gebiete unter Regierungskontrolle zu, denn dort ist der Zugang zu Arbeit und Investitionen oft von persönlichen oder politischen Beziehungen bzw. Beziehungen auf Basis der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, abhängig (FH 9.3.2023).
Im Zeitraum 6. bis 8.2.2023 wurden mehr als 30.000 Fluchtbewegungen in Nordwest-Syrien verzeichnet. Es ist wahrscheinlich, dass viele IDPs nochmals vertrieben werden. Berichte dazu gibt es bereits aus Deir-ez-Zor, Aleppo, Hama, Lattakia und Tartus. Das Erdbeben hat nicht nur weitere Fluchtbewegungen aufgrund beschädigter/unsicherer Unterkünfte verursacht, sondern auch die Aussichten für eine sichere Rückkehr von denjenigen bereits binnenvertriebenen Personen verringert, die ursprünglich aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten stammen (UNOCHA 14.2.2023).
Sicheres Obdach ist eines der Hauptbedürfnisse nach dem Erdbeben (UNOCHA 14.2.2023). Im Dezember 2022 lebten in Syrien bereits 2,05 Mio. Menschen in informellen Behausungen und Lagern. Von den Binnenflüchtlingen in Lagern leben 57 Prozent in Zelten bzw. provisorischen Unterkünften. Das Gros (etwa 85 Prozent) lebt in Nordwestsyrien – in Aleppo und Idlib (2018: 670.000). Laut einer Studie des Humanitarian Needs Assessment Programme der UNO von 2020 wohnten 17 Prozent der Binnenvertriebenen in Nordwestsyrien in zerstörten Behausungen, zudem gaben 67 Prozent an, in beschädigten Unterkünften zu leben (AA 29.3.2023). Im August 2022 lebten 30 Prozent der IDPs außerhalb von Lagern, und 43 Prozent der zurückgekehrten, ehemals binnenvertriebenen Haushalte in Nordwest-Syrien lebten in risikoanfälligen Unterkünften, z. B. bezüglich Wetterereignissen und Naturkatastrophen (UNOCHA 14.2.2023).
Einen Durchbruch gab es im Berichtszeitraum laut dem jüngsten Bericht der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen) im Vertriebenenlager in Rukban innerhalb der von den USA garantierten sogenannten „deconflicting zone“ an der Grenze zu Jordanien. Schätzungen zufolge leben dort noch rund 7.500 Menschen (rund 80 Prozent davon Frauen und Kinder) unter prekären Bedingungen, ohne zuverlässige Versorgung und hinreichenden Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Im Juni 2023 erreichte erstmals seit 2019 wieder ein humanitärer Konvoi mit landwirtschaftlichen Gütern, Ausrüstung und Schulmaterial das Lager Rukban. Von den VN unterstützte Versuche einer Evakuierung des Lagers in dafür vorgesehene Aufnahmelager im durch das Regime kontrollierten Homs waren 2019 gescheitert, vermutlich in erster Linie aus Sicherheitserwägungen (AA 2.2.2024).
Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10 bezüglich Zonen für einen Wiederaufbau, um regierungstreue Personen zu belohnen und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 2.6.2022). Als Gründe für die Rückkehr/Nichtrückkehr wird von den Betroffenen neben der Sicherheitslage zunehmend die schlechte wirtschaftliche Situation ins Treffen geführt. Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom sogenannten Islamischen Staat gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir-Ez-Zor). Laut Mitteilung von UNMAS (United Nations Mine Action Service) vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen - also rund 50 Prozent der Bevölkerung - dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs. Ein Drittel aller Opfer von Explosionen ist gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden, und mehr als 20 Prozent haben Gehör- oder Sehvermögen verloren. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand (ÖB Damaskus 12.2022).
Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat: Laut UNHCR-Schätzung halten sich zusätzlich zu den palästinensischen Flüchtlingen ungefähr 22.800 Flüchtlinge oder Asylsuchende in Syrien auf, die mit Stande Ende September 2022 bei UNHCR registriert waren. Flüchtlinge und Asylsuchende waren Risiken, mehrfacher Vertreibung, verstärkten Sicherheitsmaßnahmen an Checkpoints und Schwierigkeiten beim Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung ausgesetzt, was ihre Bewegungsfreiheit beeinträchtigte (USDOS 20.3.2023).
Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit, den Flüchtlingsstatus zu gewähren. UNHCR bietet Hilfsleistungen für Flüchtlinge, wobei Gewalt den Zugang zu vulnerablen Personen verhindern kann. Das Gesetz garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z. B. als Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS 20.3.2023).
Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für jene erhältlich, die legal einreisten, und über einen gültigen Pass verfügten. Diese Kriterien erfüllen nicht alle Flüchtlinge. Sie sind dadurch den Risiken von Schikanen und Ausbeutung ausgesetzt und die fehlende Aufenthaltsgenehmigung hatte schwere Auswirkungen auf ihren Zugang zu öffentlichen Leistungen (USDOS 20.3.2023).
Zumal die übrigen Informationen allen Verfahrensparteien bereits bekannt sind, dazu mehrfach Parteiengehör gewährt wurde und sich bereits aus den vorgenannten Berichten ein zur Entscheidungsfindung ausreichend stimmiges Bild ohne augenfällige Wiedersprüche ergibt, wird auf die neuerliche Wiedergabe der – veralteten – Kapitel (Politische Lage, Sicherheitslage, Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen, Folter und unmenschliche Behandlung, Korruption, allgemeine Menschenrechtslage, Haftbedingungen, Religionsfreiheit, Grundversorgung und Wirtschaft, Medizinische Versorgung und Rückkehr) verzichtet.
1.3.5. Quellen
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person:
In Ermangelung eines im Original vorgelegten Dokuments steht die Identität des Beschwerdeführers nicht fest.
Die allgemeinen Details zur Verfahrensidentität der Person, ihrem Umfeld und den Lebensumständen basieren auf den unbestrittenen Feststellungen des Vorverfahrens und den diesbezüglich gleichlautenden und schlüssigen Äußerungen des Beschwerdeführers in den Einvernahmen [AS 1 ff, 21 ff] sowie der mündlichen Verhandlung am 03.01.2025 [Verhandlungsschrift S 3 ff] in Verbindung mit dem im Zuge dessen persönlich gewonnen Eindruck durch das Bundesverwaltungsgericht.
Die Herkunft des Beschwerdeführers wird von ihm zwar durchwegs südöstlich von Manbidsch beziehungsweise nordwestlich von Ar-Raqqa verortet [AS 5, 25, 145, 151, OZ 4], allerdings kann es sich dabei nur um den Ort seiner Geburt und frühen Kindheit handeln, aus welchem er mit seiner Familie 2006 – wirtschaftlichen Erwägungen geschuldet, „Es gab dort nichts.“ [Verhandlungsschrift S 5] – in den festgestellten Herkunftsort nördlich von Damaskus gezogen ist, wo er (weitere) 5 Jahre eine Schule besucht, einige Monate als Schneider gearbeitet und sich bis zur Ausreise insgesamt rund 10 Jahre aufgehalten hat [AS 23 f, Verhandlungsschrift S 5]. Der Beschwerdeführer wurde nicht aus seinem Geburtsort vertrieben.
Daraus ergeben sich die von der Asylagentur der Europäischen Union (EASO) und den Höchstgerichten (vgl. VwGH 29.02.2024, Ra 2023/18/0370; VwGH 09.03.2023, Ra 2022/19/0317) geforderten engen Bindungen und – im Sinne einer tragfähigen Alternativbegründung – spätestens das nachhaltige „Fuß fassen“ hinsichtlich sozialer, schulischer und beruflicher Kontakte. Der Beschwerdeführer hat den zeitlich überwiegenden und prägenderen Lebensabschnitt im Ort seiner Ausreise verbracht, der Rückzug seiner Eltern „aufgrund des Regimes und meinen Geschwistern. (…)“ [Verhandlungsschrift S 6] vor zirka 6 Jahren vermag diese Verwurzelung nicht zu lösen, zumal er ausdrücklich verneinte, ihnen je einen Besuch abgestattet zu haben [AS 24].
Die exakte Historie seiner Ortswechsel sowie seines schulischen und beruflichen Werdegangs konnte nicht festgestellt werden, da die diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers variierten: Zunächst datierte er seinen Umzug von Syrien in die Türkei mit Februar 2017 [AS 7], später dagegen mit dem Jahr 2016 [AS 24, Verhandlungsschrift S 5]. Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 13.05.2024 gab er an, im nunmehr festgestellten Herkunftsort ab 2006 weitere 5 Schuljahre absolviert und vor seiner Ausreise 2 Jahre lang „nichts gemacht“ zu haben, allerdings erst 2016 in die Türkei umgezogen zu sein [AS 24]. Nördlich von Damaskus wollte der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde 5 Monate gearbeitet haben [AS 24], im Rahmen der Beschwerdeverhandlung nur „ca. ein oder zwei Monate“, er sei im Jahr 2022 ausgereist [Verhandlungsschrift S 5].
Die Einstufung der Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem tagesaktuellen AJ-WEB-Auszug in Zusammenschau mit den Vorbringen in niederschriftlicher Einvernahme [AS 27] und Beschwerdeverhandlung [Verhandlungsschrift S 10].
Der Bescheid des Bundesamts für Asyl- und Fremdenwesen ist aktenkundig [AS 37 ff].
2.2. Zu den Fluchtmotiven:
Im Herkunftsort des Beschwerdeführers herrscht zum Entscheidungszeitpunkt eine Koalition unter der Führung der HTS (Syria Live Map, Zugriff am 09.01.2024):
Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz zunächst mit der unsicheren Lage, der Armut sowie der Diskriminierung als Araber im Kurdengebiet, in welchem er nach seiner Geburt rund 7 Jahre gelebt hat. Er fürchte den Wehrdienst [AS 11]. Vor der belangten Behörde erklärte er, von staatlicher Seite „wegen Militärdienst“(es) gesucht zu werden und verneinte Probleme aufgrund seines Religionsbekenntnisses oder der Volksgruppenzugehörigkeit. Antragsbegründend sei sein Unwillen, „Kriegsverbrecher“ – jeder Unterstützer der Regierung gelte als solcher – zu werden, für den Fall seiner Rückkehr fürchte er, „von den Kurden zum Militär eingezogen“ zu werden. „Die Kurden“ wären „zwischen 2020 und 2023“ „zu uns nach Hause gekommen“ und hätten nach ihm gefragt [AS 24 ff]. Der Beschwerdeschriftsatz vom 11.10.2024 wiederholt größtenteils die Modalitäten und Gefahren im Zusammenhang mit dem Militärdienst, in der Stellungnahme vom 27.12.2024 [OZ 4] – sohin nach dem Machtwechsel in Syrien – wird die Gefahr erläutert, zwangsweise für die kurdischen Streitkräfte kämpfen zu müssen.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht erklärte der Beschwerdeführer, er wolle den Kurden „nicht dienen“ und am Krieg nicht teilnehmen, außerdem sei er „kein Kämpfer“ – in Österreich würde er dagegen sehr wohl einrücken [Verhandlungsschrift S 7]. Er beschrieb „patriotisch“ eine „moralische Pflicht, jede Gruppe, die die arabische Erde von den Kurden befreien will, zu unterstützen“ [AS 26], welche mit seiner späteren Schilderung, er wolle sich „an keinen Kampfhandlungen beteiligen“ [OZ 4], nicht in Einklang zu bringen ist.
Wiewohl sich aus den Länderinformationen (insbesondere Punkt 1.3.2.1.) mögliche Zwangsrekrutierungen (nicht nur, aber vor allem nach 1998 geborener Männer) ergeben, ist zunächst unklar, weswegen sein im Jahr 2000 geborener Bruder (und gegebenenfalls auch der Jüngere) zum fraglichen Zeitpunkt – und bis zum heutigen Tag – davon verschont geblieben sein soll, nicht jedoch der viele Jahre zuvor weggezogene Beschwerdeführer. Diesem war nicht bekannt, ob Wehrdienstverweigerern Sanktionen durch die kurdische Administration drohen [Verhandlungsschrift S 8]. Selbst wenn nur der Beschwerdeführer in seinem Geburtsort einer Zwangsrekrutierungsgefahr tatsächlich ausgesetzt sein sollte, kann sie sich nicht auf den Herkunftsort erstrecken, da den kurdischen Streitkräften dort jegliche Zugriffsmöglichkeiten fehlen.
Die grundsätzliche Erreichbarkeit der Herkunftsregion im Norden von Damaskus ergibt sich aus den jüngsten Informationen nach dem Machtwechsel im Dezember 2024 in Zusammenschau mit den UNHCR-Dokumenten (vgl. Punkt 1.3.1.) und aktuellen Medienberichten (vgl. etwa Flughafen Damaskus nahm internationalen Betrieb wieder auf - news.ORF.at, Österreichischer Rundfunk, Zugriff am 09.01.2025).
Wenn der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Rückkehrbefürchtungen erklärt, „in die Regionen, in die ich zurückkehren kann, in denen gibt es alle möglichen Gefahren“ [Verhandlungsschrift S 8] und nicht in seinen Herkunftsort reisen wolle, da er „Angst vor allem dort“ sowie in der Gegend „nichts“ habe [Verhandlungsschrift S 9], indiziert dies zwar die – ohnedies unstrittige – volatile Sicherheitslage, jedoch keinen Konnex zur Genfer Flüchtlingskonvention.
Außerdem beklagte der Beschwerdeführer auf Nachfrage vor der belangten Behörde im Geburtsort schlechtere Behandlung seiner arabischstämmigen Angehörigen („Wenn man bspw zum Bäcker geht, bekommen zuerst die Kurden das Brot und dann die Araber“) [AS 27] und konnte nicht im für eine anderslautende Entscheidung erforderlichen Maß glaubhaft erläutern, weswegen er nicht in eine Region außerhalb kurdischer Kontrolle reisen könnte, welche mehrheitlich von Arabern bevölkert und nicht von der ehemaligen syrischen Administration kontrolliert wird. In Zusammenschau mit den jüngsten Schriftsätzen seiner Rechtsvertretung – eine Verfolgung aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit wurde nicht mehr thematisiert [AS 132 ff, OZ 4] – war im Vorbringen keine Asylrelevanz erkennbar.
Die in der Stellungnahme [OZ 4] erwähnten Berichte der Tageszeitung „Der Standard“ vom 24.12.2024 (Tötung mehrerer Zivilisten, darunter zwei kurdische Journalisten durch eine türkische Drohne) und der „North Press Agency Syria“ vom 01.12.2024 (SDF und AANES riefen allgemeinen Alarm- beziehungsweise Mobilisierungszustand aus) stehen dieser Annahme nicht entgegen.
2.2.1. Indizien fehlender Asylrelevanz des verfahrenseinleitenden Antrags:
Der Beschwerdeführer beklagte mehrfach die Armut in Syrien [AS 11, Verhandlungsschrift S 9] und nannte als Reiseziel „Deutschland, weil es das attraktivste Land für Syrer ist“ [AS 7].
Da er hinsichtlich seiner Ausreisemotive variierte und in der Beschwerdeverhandlung angab, die Situation sei „genauso schlecht wie vorher“ [Verhandlungsschrift S 7] – wiewohl der (primär behauptete) Verfolger seine Macht verlor – war festzustellen, dass der Beschwerdeführer Syrien verlassen hat, um der volatilen Sicherheitslage zu entkommen und seine wirtschaftliche Situation zu verbessern.
2.3. Zu den Länderinformationen:
Gemäß Art. 10 (3) lit b Asylverfahrensordnung (Neufassung) stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass „genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen“ eingeholt werden. Explizit verlangt werden also Genauigkeit, zeitliche Relevanz und mehrere Quellen. Dazu entwickelte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Qualitätskriterien wie Unabhängigkeit, Zuverlässigkeit und Objektivität der Quelle sowie Reputation des Verfassers, Methodik der Zusammenstellung, Kohärenz der Schlussfolgerungen und Bestätigung durch andere Quellen. (vgl. Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsprüfung im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, Punkt 4.8.3.2: Bewertungskriterien in der Rechtsprechung des EGMR).
Öffentlich verfügbare und zugängliche Quellen sind im Sinne der „Waffengleichheit zwischen Entscheider und Antragsteller“ zu bevorzugen. „Mitunter kann es von Bedeutung sein, über ein Ereignis etwas aus zuverlässigen Medien zu erfahren, die erst ein oder zwei Tage alt sind (wenn z. B. ein Staatsstreich stattgefunden hat“ (vgl. Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsprüfung im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, Punkt 4.8.3.3: Die Checkliste der IARLJ für Richter für die Beurteilung von Herkunftsländerinformationen).
Art. 4 (3) lit a der Anerkennungsrichtlinie besagt unter anderem, dass „Anträge auf internationalen Schutz (…) individuell zu prüfen“ sind, wobei „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden“ zu berücksichtigen sind.
Wiewohl zum Entscheidungszeitpunkt grundsätzlich keine Hierarchie der Quellen anzunehmen ist, wird in aller Regel den Informationen von EUAA und UNHCR besondere Aufmerksamkeit zu schenken sein (vgl. VwGH 31.01.2023, Ra 2022/20/0347; VwGH 03.07.2023, Ra 2023/14/0182, mwN). Auch kann von den Herkunftslandinformationen der Staatendokumentation nicht ohne Weiteres abgegangen werden. Gegenständlich ist die Version 11 des Länderinformationsblattes vom 27.03.2024 verfügbar. Dieser Informationsstand weist aus Sicht des erkennenden Richters – und wohl auch der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, vgl. die Stellungnahme vom 27.12.2024 [OZ 4] – nicht die geforderte Aktualität oder jene Tatsachen, die zum Entscheidungszeitpunkt relevant sind, auf. Diesen Erwägungen geschuldet hat sich das Bundesverwaltungsgericht zunächst mit den eingangs erwähnten inter- und supranationalen Quellen auseinandergesetzt und sodann öffentlich zugängliche mediale Quellen gesichtet und im Rahmen der Beschwerdeverhandlung erörtert. Insbesondere für die Herkunftsregion des Beschwerdeführers ergaben sich in Zusammenschau Verbesserungen hinsichtlich einer allfällig angenommenen, asylrelevanten Bedrohungs- beziehungsweise Verfolgungssituation.
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf den unter Punkt 1.3.5. angeführten Quellen und Nachweisen. Diese Informationen stützen sich auf Berichte verschiedener in- und ausländischer Behörden, etwa des Deutschen Auswärtigen Amtes, der dänischen und niederländischen Einwanderungsbehörden sowie allgemein anerkannter Nachrichtenorganisationen.
Der Beschwerdeführer trat diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland nicht substantiiert entgegen, sodass davon ausgegangen werden konnte, die sich hieraus ergebenden Feststellungen treffen zu.
Angesichts ihrer Seriosität und Plausibilität sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne augenfällige Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
A) Abweisung der Beschwerde:
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
3.1.1. Rechtslage:
Gemäß § 3 (1) AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 (1) Z 11 AsylG, die auf Art 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, mwN).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 (1) Z 1 AsylG alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 19.04.2023, Ra 2022/14/0056, mwN).
Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 (1) AsylG ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden (vgl. VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" im Sinn des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art 9 (1) der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).
Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes).
Vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des VwGH, des VfGH und des EuGH sowie unter Berücksichtigung der Richtlinien des UNHCR und der EUAA – denen Indizwirkung zukommt und deswegen im verwaltungsgerichtlichen Entscheidungsfindungsprozess besondere Beachtung zu schenken ist (vgl. VwGH 31.01.2023, Ra 2022/20/0347; 03.07.2023, Ra 2023/14/0182, mwN) – ist zu beurteilen, ob den Beschwerdeführern mit zumindest maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei angenommener Rückkehr in die Heimatregion eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des Art. 9 (2) lit. e Statusrichtlinie droht (vgl. – Syrien betreffend – VwGH 15.04.2024, Ra 2024/14/0139).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall:
Wie unter Punkt 2.2. beweiswürdigend dargelegt, ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, individuelle Gründe für die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung seiner Person glaubhaft zu machen.
Auch fehlen im Verfahren jegliche glaubhaften Indikatoren, die eine Verfolgung des Beschwerdeführers (aus asylrelevanten Gründen) im Herkunftsstaat maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen.
Die allgemeine Lage in Syrien ist auch nicht dergestalt, dass automatisch jedem Antragsteller der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste. Vielmehr ist insbesondere bei Asylwerbern, welche primär die Einziehung zum syrischen Wehrdienst als Fluchtmotiv vorbringen, im Dezember 2024 der Verfolger weggefallen. Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits darauf hingewiesen, dass dem Schutz vor (mit realem Risiko drohenden) willkürlichen Zwangsakten bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund die Gewährung subsidiären Schutzes dient (vgl. erneut VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mit Hinweis auf VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110).
Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 (2) VwGVG iVm § 3 (1) AsylG als unbegründet abzuweisen.
B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a (1) VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 (4) B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 (4) B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung betreffend Suchtmitteldelinquenz im Fremdenrecht, Rückkehrentscheidungen oder Einreiseverboten, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die gegenständliche Entscheidung weicht von der bestehenden Rechtsprechung nicht ab und betrifft einen Einzelfall, dessen einzelne Umstände nicht revisibel sind.