JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0083 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision 1. der O E, 2. der M B, 3. der B B, 4. der O B, 5. der H B, und 6. der N B, alle vertreten durch Mag. Markus Freilinger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Falkestraße 1/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2022, 1. W220 2249147 1/2E, 2. W220 2249144 1/2E, 3. W220 22491421/2E, 4. W220 2249146-1/2E, 5. W220 2249143 1/2E und 6. W220 22491451/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberinnen sind afghanische Staatsangehörige. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweit bis Sechstrevisionswerberinnen. Die Revisionswerberinnen stellten am 3. Juli 2021 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden vom 8. Oktober 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigen ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt III.).

3 Die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA erhobenen Beschwerden der Revisionswerberinnen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Das BVwG legte die gegen die Abweisung der Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichtete Revision dem Verwaltungsgerichtshof samt den Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor. Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein; Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Revisionswerberinnen zum einen vor, es ergebe sich schon aus den Länderberichten, dass die Revisionswerberinnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen aufgrund der Machtübernahme der Taliban und der daraus resultierenden Einschränkungen für Frauen zu rechnen hätten, und rügt zum anderen Verfahrensmängel.

6Mit Beschluss vom 14. November 2022, Ra 2022/19/0083 bis 0088, wurde das zulässige Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

7 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, diese Fragen beantwortet.

8Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils in den Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024, zu Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028, mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im Revisionsfall erstattet wurde. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend den Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024 im Fall einer Situation, wie sie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

10 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob eine Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

11 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

12 Entgegen dieser Rechtslage ist das BVwG auch im Revisionsfall tragend davon ausgegangen, dass es für den Anspruch der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ der Revisionswerberinnen ankomme und die Revisionswerberinnen in ihrem Herkunftsstaat nach der Berichtslage zu den von den Taliban Frauen auferlegten Einschränkungen aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt seien.

13Somit ist aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im angefochtenen Umfang aufzuheben war.

14Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

15Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 3. Februar 2025