JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0083 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
14. November 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision 1. der O E, 2. der M B, 3. der B B, 4. der O B, 5. der H B, und 6. der N B, alle vertreten durch Mag. Markus Freilinger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Falkestraße 1/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2022, 1. W220 2249147 1/2E, 2. W220 2249144 1/2E, 3. W220 2249142 1/2E, 4. W220 2249146-1/2E, 5. W220 2249143 1/2E und 6. W220 2249145 1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Revisionswerberinnen sind afghanische Staatsangehörige und stellten am 3. Juli 2021 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden vom 8. Oktober 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerberinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigen ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt III.).

3 Die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA erhobenen Beschwerden der Revisionswerberinnen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen soweit hier relevant aus, die Revisionswerberinnen würden von den ihnen in Österreich zukommenden Freiheiten teilweise Gebrauch machen, indem sie einkaufen und spazieren gingen, eine Ausbildung absolvieren, sowie einen Beruf ergreifen wollten. Die Lebensweise der Revisionswerberinnen verstoße derzeit noch nicht in einer solchen Form gegen die sozialen Normen in Afghanistan, dass sie als gegen die sozialen Sitten sowie gegen religiöse und politische Normen verstoßend und die Revisionswerberinnen exponierend wahrgenommen werden würde. Die Revisionswerberinnen pflegten keine Lebensweise, die sie im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan der konkreten und individuellen Gefahr aussetzen würde, mit der Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden. Bisher hätten sich in Bezug auf die vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, konkreter und individueller physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch unter Berücksichtigung der seit der Machtübernahme der Taliban für Frauen verfügten Beschränkungen sei zumindest derzeit den Länderberichten nicht zu entnehmen, dass alle Frauen in Afghanistan gleichermaßen bereits alleine aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sein würden.

5 Die vorliegende außerordentliche Revision bringt hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Revisionswerberinnen einerseits vor, es ergebe sich schon aus den Länderberichten, dass die Revisionswerberinnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen aufgrund der Machtübernahme der Taliban und der daraus resultierenden Einschränkungen für Frauen zu rechnen hätten, und rügt andererseits Verfahrensmängel.

6 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird,

sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

7 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren auszusetzen war (vgl. VwGH 13.10.2022, Ra 2022/14/0018, mwN).

Wien, am 14. November 2022

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