Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Dr. Doblinger und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision des Disziplinaranwalts der Österreichischen Ärztekammer in 1010 Wien, vertreten durch Dr. Daniela Altendorfer Eberl, Rechtsanwältin in 1040 Wien, Brucknerstraße 6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 14. September 2020, VGW 172/091/3658/2020 38, betreffend Disziplinarverfahren nach dem Ärztegesetz 1998 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer, Disziplinarkommission für Wien; mitbeteiligte Partei: Dr. A B in C, vertreten durch Prutsch Partner, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Joanneumring 6/III), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit Beschluss des Disziplinarrats der Österreichischen Ärztekammer - Disziplinarkommission für Wien (in der Folge: Disziplinarkommission) vom 8. April 2019 wurde gegen den Mitbeteiligten, einem niedergelassenen Arzt für Allgemeinmedizin, aufgrund der vom revisionswerbenden Disziplinaranwalt erhobenen Disziplinaranzeige ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil der Mitbeteiligte in Verdacht stehe, ein Disziplinarvergehen gemäß § 136 Abs. 1 Z 1 Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998) dadurch begangen zu haben, dass er per E Mail seinen Vortrag „Impfen Das Geschäft mit der Unwissenheit“ am 4. April 2019 mit der Behauptung beworben habe, Impfungen seien unwirksam und schädlich.
2 Nach dem Inhalt des darüber aufgenommenen Protokolls verkündete die Disziplinarkommission am Schluss der mündlichen Verhandlung am 25. Juni 2019 das Disziplinarerkenntnis mündlich wie folgt:
„Schuldspruch im Sinne des Einleitungsbeschlusses, es wird eine Geldstrafe von 2.000,00 Euro und der Ersatz der Kosten von 1.000,00 Euro verhängt.“
3 In der schriftlichen Ausfertigung dieses Disziplinarerkenntnisses lautete der Spruch auszugsweise wie folgt (Anonymisierungen durch den Verwaltungsgerichtshof):
„Der [Mitbeteiligte], geboren am [...], niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin, ist schuldig, er hat dadurch dass er per E Mail zu seinem für den 04.04.2019 geplanten Vortrag ,Impfen Das Geschäft mit der Unwissenheit‘ mit der Behauptung warb, Impfungen seien unwirksam und schädlich, das Ansehen der in Österreich tätigen Ärzteschaft beeinträchtigt und die Disziplinarvergehen nach § 136 Abs. 1 Z 1 und 2 ÄrzteG begangen.“
4 Das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) gab mit dem Erkenntnis vom 14. September 2020 der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt und sprach diesen hinsichtlich des Disziplinarvergehens gemäß § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 frei. Hinsichtlich des Disziplinarvergehens gemäß § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 hob es das angefochtene Erkenntnis ersatzlos auf. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte es für nicht zulässig.
5 Das Verwaltungsgericht traf nähere Feststellungen zum Inhalt des Vortrages des Mitbeteiligten am 4. April 2019 sowie zum Teilnehmerkreis. Zum Inhalt des Einladungsmails, das unter anderem vom Mitbeteiligten an Freunde, Bekannte und Patienten verschickt worden sei, stellte es lediglich fest, dass aus der Einladung ersichtlich gewesen sei, dass es sich beim Vortragenden um einen Arzt handle.
6 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht zum Freispruch im Wesentlichen aus, dass der Mitbeteiligte beim Vortrag lediglich Nachteile und Gefahren des Impfens aufgezeigt habe. Es sei weder eine klare Empfehlung erfolgt, noch seien ausschließlich Nachteile des Impfens erwähnt worden. In seinem Vortrag habe sich der Mitbeteiligte stets wertschätzend Kollegen gegenüber gezeigt, sodass eine Beeinträchtigung des Standesansehens nicht erkannt werden könne. Die ersatzlose Behebung des Diszplinarerkennnisses betreffend die Verletzung von Berufspflichten nach § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 begründete es damit, dass die Verkündung einer verwaltungsgerichtlichen wohl auch einer behördlichen Entscheidung einer neuerlichen im Wesentlichen gleichen Entscheidung der Einwand der entschiedenen Sache entgegenstehe. An die Verkündung dieser Entscheidung knüpfe auch ihre Unwiderrufbarkeit an, weshalb die schriftliche Entscheidungsausfertigung nicht in einem wesentlichen Punkt von der verkündeten Entscheidung abweichen dürfe. Das schriftliche Erkenntnis sei in Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ hinsichtlich des Tatvorwurfs des § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 ersatzlos zu beheben. Darüber hinaus wies das Verwaltungsgericht darauf hin, dass die Disziplinarkommission durch die Bezugnahme auf § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 im schriftlichen Erkenntnis den mit Einleitungsbeschluss festgelegten Verfahrensgegenstand überschritten habe.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Disziplinaranwalts; von einem Antrag auf Kostenersatz wurde darin abgesehen. Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung, in der die kostenpflichtige Zurück bzw. Abweisung der Revision beantragt wird.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit seiner Revision unter anderem geltend, das Verwaltungsgericht habe abweichend von dem im Einleitungsbeschluss umgrenzten Sachverhalt (Werbung für einen Vortrag durch E-Mail) einen anderen Sachverhalt, nämlich den Inhalt des Vortrags, seiner Entscheidung und dem Freispruch zu Grunde gelegt. Das Verwaltungsgericht hätte sich zudem ausgehend vom im Einleitungsbeschluss festgehaltenen Sachverhalt auch mit der Frage des Vorliegens des Vergehens der Berufspflichtverletzung nach § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 auseinandersetzen müssen.
10 Die Revision erweist sich im Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig. Die Revision ist auch begründet.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zu einem Einleitungsbeschluss nach § 154 Abs. 2 ÄrzteG 1998 in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Disziplinarrecht der Beamten festgehalten, dass dieser die Beschuldigungspunkte bestimmt zu bezeichnen hat. Die ihm in einem Disziplinarverfahren zukommende rechtliche Bedeutung ist in erster Linie darin gelegen, dem wegen einer Dienstpflichtverletzung Beschuldigten innerhalb der Verjährungsfrist gegenüber klarzustellen, hinsichtlich welcher Dienstpflichtverletzung ein Disziplinarverfahren innerhalb der Verjährungsfrist eingeleitet wurde. Er dient zugleich dem Schutz des Beschuldigten, der ihm entnehmen kann, nach welcher Richtung er sich vergangen und inwiefern er pflichtwidrig gehandelt haben soll. Der Einleitungsbeschluss begrenzt regelmäßig den Umfang des vor der Disziplinarkommission stattfindenden Verfahrens: Es darf keine Disziplinarstrafe wegen eines Verhaltens ausgesprochen werden, das nicht Gegenstand des durch den Einleitungsbeschluss in seinem Umfang bestimmten Disziplinarverfahrens ist (vgl. VwGH 4.5.2022, Ra 2021/09/0242, mwN).
12 Mit dem im vorliegenden Disziplinarverfahren zugrundeliegenden Einleitungsbeschluss wurde gegen den Mitbeteiligten der Vorwurf erhoben, dass er per E-Mail seinen Vortrag am 4. April 2019 mit der Behauptung beworben habe, Impfungen seien unwirksam und schädlich. Das Verwaltungsgericht hat es in Verkennung der Umgrenzungswirkung des Einleitungsbeschlusses allerdings unterlassen, präzise Feststellungen zum Inhalt des inkriminierten Einladungsmails zu treffen und diese einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen. Anstatt dessen hat es seinen rechtlichen Erwägungen die vom Mitbeteiligten während seines Vortrages getätigten Äußerungen zugrunde gelegt. Insofern belastete das Verwaltungsgericht sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
13 Zur ersatzlosen Aufhebung des Schuldspruchs der Disziplinarkommission betreffend das Disziplinarvergehen nach § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden und somit nicht nur die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen hat, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war (vgl. etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2019/09/0026, mwN).
14 Es entspricht ferner der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das im Einleitungsbeschluss dem Beamten zur Last gelegte Verhalten nicht bereits abschließend rechtlich gewürdigt werden muss (vgl. etwa VwGH 24.1.2018, Ra 2017/09/0047, mwN). Es besteht daher keine Bindung an die im Einleitungsbeschluss vorgenommene rechtliche Subsumtion des angeführten Sachverhalts unter einen bestimmten Sachverhalt (vgl. in diesem Sinn bereits zum ÄrzteG 1998 VwGH 15.7.2015, Ro 2014/09/0064). Die Behörde und das Verwaltungsgericht können daher auch eine andere rechtliche Qualifikation vornehmen, wenn der mit Einleitungsbeschluss vorgeworfene Sachverhalt schlüssig alle Einzelumstände enthält, die für die Erfüllung des Disziplinartatbestandes erforderlich sind, sodass eine sachgerechte Verteidigung möglich ist.
15 Der Revisionswerber weist zu Recht darauf hin, dass sich das Verwaltungsgericht nicht damit auseinandergesetzt hat, ob der Mitbeteiligte durch sein Verhalten (allenfalls in Idealkonkurrenz zur Verletzung der Standespflicht gemäß § 136 Abs. 1 Z 1 ÄrzteG 1998 vgl. dazu VwGH 28.10.2021, Ra 2019/09/0140) ein Vergehen der Berufspflichtverletzung nach § 136 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 begangen hat. Dem Mitbeteiligten musste angesichts der Formulierung im Einleitungsbeschluss klar sein, welches ihm als Disziplinarbeschuldigten zur Last gelegte Verhalten auf der Grundlage des Einleitungsbeschlusses als Prozessgegenstand im anschließenden Disziplinarverfahren behandelt wird. Er hat in seiner im Akt erliegenden Stellungnahme zum Einleitungsbeschluss vom 21. Juni 2019 auch bereits ein Vorbringen zur Frage des Vorliegens einer Berufspflichtverletzung erstattet, sodass eine Verletzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten nicht ersichtlich ist. Zudem hatte der Mitbeteiligte auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit, auf eine „überraschende“ rechtliche Qualifikation zu reagieren.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
17 Eine Entscheidung über den Aufwandersatz konnte entfallen, da der obsiegende Disziplinaranwalt keinen darauf gerichteten Antrag gestellt hat und ihm im Übrigen ein solcher auch nicht zustünde (vgl. dazu auch VwGH 28.10.2021, Ra 2021/09/0075).
Wien, am 30. März 2023