Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Berger, über die Revision des F Z in W, geboren am XXXX 1996, vertreten durch MMag. DDr. Klaus H. Kindel, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rosenbursenstraße 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29. Juli 2014, Zl. W200 1436599-1/3E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
I. Sachverhalt und Revisionsverfahren:
1. Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte im Februar 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und brachte in Einvernahmen im Februar und Juni 2013 kurz zusammengefasst vor, er habe eine Beziehung zu einem Mädchen in einem Nachbardorf gehabt, welches ihm verschwiegen habe, dass es verlobt sei. Die Familie des Mädchens sei hinter das Verhältnis gekommen und habe das Mädchen getötet; dies habe er erst später erfahren. Die Brüder und der Verlobte des Mädchens hätten den Revisionswerber schwer verletzt und auch ihn töten wollen. Da der Verlobte des Mädchens Mitglied der Taliban sei, wäre der Revisionswerber in keiner Stadt sicher; deshalb habe er Afghanistan verlassen. Mittlerweile habe er den Kontakt zu seinen Brüdern, seinem Onkel und seiner Mutter in Afghanistan verloren, sein Vater sei schon verstorben. Der Revisionswerber konnte zwar die Telefonnummer seines Bruders angeben, erklärte aber, dass er seinen Bruder unter dieser Telefonnummer nicht mehr habe erreichen können.
2. Das gerichtsmedizinische Gutachten des Ludwig Boltzmann Instituts für klinisch-forensische Bildgebung zur medizinischen Altersdiagnose des Revisionswerbers vom 27. März 2013 ergab basierend auf den Ergebnissen der radiologischen Untersuchungen der Hand, der Schlüsselbeine und des Gebisses und unter Berücksichtigung einer Schwankungsbreite der Untersuchungsergebnisse für den Revisionswerber ein Mindestalter zum Untersuchungszeitpunkt von 17 Jahren. Das vom Revisionswerber angegebene Geburtsdatum vom 10. Februar 1997 habe aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht belegt werden können. Das Geburtsdatum des Revisionswerbers wurde vielmehr mit 15. März 1996 festgelegt.
3. Mit Bescheid vom 27. Juni 2013 wies das Bundesasylamt den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) (Spruchpunkt I) sowie auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II) ab und wies den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nach Afghanistan aus (Spruchpunkt III).
Das Bundesasylamt führte begründend im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubhaft. Die Aussagen des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen und zum Fluchtweg seien daran zu messen, wie eine durchschnittliche "Maßfigur" über tatsächlich persönlich erlebte Sachverhalte berichten würde. Seine Angaben zu seinen Fluchtgründen seien aber vage und stereotyp sowie detailarm gewesen. Er habe beispielsweise nicht angeben können, auf welche Weise das Mädchen gestorben sei, wer sie wann getötet habe, oder wie das Verhältnis zwischen dem Revisionswerber und dem Mädchen aufgeflogen sei. Der Revisionswerber sei im Gesamten nicht glaubwürdig aufgetreten. So entspreche das vom Revisionswerber angegebene Geburtsdatum "10.02.1997" mit Sicherheit nicht den Tatsachen. Das vom Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Graz und vom Ludwig Boltzmann Institut für klinischforensische Bildgebung festgestellte Geburtsdatum mit "15.03.1996" hätte der Revisionswerber "bloß der Berücksichtigung einer erheblichen Schwankungsbreite der Untersuchungsergebnisse" zu "verdanken." Der Revisionswerber wirke "dem Augenschein nach (...) jedenfalls wesentlich älter." Gegen die Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers spreche auch seine Behauptung, Analphabet zu sein und keinen Kontakt zu seiner Familie mehr zu haben, dies sei eine häufige Praxis im Asylverfahren, um Hinderungsgründe für eine Abschiebung in das Herkunftsland zu konstruieren. Der Revisionswerber weise ein "festes und sicheres Schriftbild bei den Unterschriften" auf und es sei befremdend, dass er als einziger Sohn der Familie keine Schule besucht haben soll. Ebenso wenig sei es glaubwürdig, dass er keine telefonische Kontaktmöglichkeit zu seiner Familie mehr haben solle. Das Bundesasylamt befand weiters die Angaben des Revisionswerbers zum Verhältnis mit einem afghanischen Mädchen, zu den Umständen der Aufdeckung des Verhältnisses und zur Benachrichtigung vom Tod des Mädchens für unplausibel und betrachtete es als lebensfremd, dass der Revisionswerber nicht einmal den Familiennamen des Mädchens angeben gekonnt habe.
Hilfsweise ging das Bundesasylamt davon aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers nicht asylrelevant sei, ihm staatlicher Schutz gewährt werden könne und ihm eine interne Schutzalternative zur Verfügung stehe.
4. In der gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, trat den beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesasylamtes, insbesondere der ihm vorgeworfenen mangelnden Plausibilität seiner Angaben im Einzelnen entgegen und beanstandete, dass das Bundesasylamt seine Minderjährigkeit nicht berücksichtigt habe. Ferner wandte sich die Beschwerde gegen das Vorhandensein einer internen Fluchtalternative sowie unter auszugsweiser Wiedergabe aktueller Länderberichte gegen die Annahme, dem Revisionswerber stünde gegen die Verfolgung durch Private aufgrund seiner außerehelichen Beziehung die Möglichkeit der Inanspruchnahme staatlichen Schutzes offen.
5. Das beim Asylgerichtshof anhängige Verfahren wurde ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) weitergeführt (§ 75 Abs. 19 AsylG 2005).
Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A I des angefochtenen Bescheides), und behob gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) die Spruchpunkte II. und III. des Bescheides des Bundesasylamtes und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Die Revision wurde vom BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen.
Unter dem Titel "Feststellungen" traf das BVwG keine Feststellungen zum Fluchtvorbringen, sondern führte lediglich aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Revisionswerber im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe.
Im Rahmen der Beweiswürdigung gelangte das BVwG zum Ergebnis, dass dem Bundesasylamt nicht dahingehend entgegengetreten werden könne, dass der Revisionswerber mit seinem Vorbringen eine konkrete und aktuelle Verfolgung oder drohende Verfolgung aus Gründen, wie in der Genfer Flüchtlingskonvention taxativ aufgezählt, nicht habe glaubhaft machen können, und wiederholte im Wesentlichen die beweiswürdigenden Überlegungen des Bundesasylamtes, ohne auf die in der Beschwerde vorgetragenen Entgegnungen und Erklärungen des Revisionswerbers einzugehen. Zu der Behauptung in der Beschwerde, wonach die festgestellte Minderjährigkeit des Revisionswerbers im Bescheid des Bundesasylamtes nicht berücksichtigt worden sei, verwies das BVwG darauf, "dass sich für das Bundesverwaltungsgericht keine Anhaltspunkte ergaben und der (Revisionswerber) auch vor dem Bundesasylamt in Anwesenheit seiner gesetzlichen Vertretung einvernommen wurde".
Hilfsweise ging das BVwG im Sinne einer Wahrunterstellung davon aus, die "pauschal befürchteten Übergriffe durch Familienangehörige des ermordeten Mädchens könnten die Flüchtlingseigenschaft des (Revisionswerbers) nicht begründen", weil die Verfolgung durch Privatpersonen aus nicht asylrelevanten Gründen erfolge.
Zur Aufhebung und Zurückverweisung des Spruchpunktes II (zur Frage der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten) führte das BVwG aus, das Bundesasylamt habe es unterlassen, ausreichende und konkrete Feststellungen zum Aufenthalt der Verwandten des Revisionswerbers zu treffen, und nicht berücksichtigt, dass der Revisionswerber Analphabet sei und sich seine Berufserfahrung auf die Mithilfe in der Landwirtschaft des Onkels beschränke. Zudem hätte die Behörde zumindest versuchen können, den Bruder, dessen Telefonnummer der Revisionswerber bekannt gegeben habe, zu erreichen.
Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kein Beschwerdevorbringen vorgelegen sei, das mit dem Revisionswerber mündlich zu erörtern gewesen wäre. Auch sei der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt.
6. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache (unter anderem) vorgebracht wird, das BVwG sei von der - näher bezeichneten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil es trotz substantiierter Bekämpfung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung seitens des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden habe. Weiters sei im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbeurteilung die Minderjährigkeit des Revisionswerbers nicht berücksichtigt worden. Insbesondere betreffend unbegleitete minderjährige Asylwerber sei ein anderer Maßstab an die Glaubwürdigkeit und an die Manuduktionspflicht anzulegen. Auch sei entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der reale Hintergrund der Fluchtgeschichte und die Asylrelevanz bei privater Verfolgung aufgrund einer Ehrverletzung durch eine außereheliche Beziehung ignoriert worden.
7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
II. Erwägungen:
1. Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.
2. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass die Bestreitung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung in der Beschwerde an das BVwG nicht bloß unsubstantiiert erfolgt ist. Das BVwG hätte deshalb nicht nur aufgrund der Aktenlage entscheiden dürfen, sondern es hätte nach den Kriterien der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, auf dessen Gründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, die beantragte mündliche Verhandlung durchführen müssen (vgl. etwa auch VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0035 und Ra 2014/18/0061, vom 10. Dezember 2014, Ra 2014/18/0056, 0057, und vom 28. Jänner 2015, Ra 2014/18/0097). Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG lagen somit nicht vor, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon deshalb keinen Bestand haben kann.
3. Dazu kommt, dass weder das Bundesasylamt noch das BVwG die Minderjährigkeit des Revisionswerbers bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Revisionswerbers berücksichtigt haben und darauf hinreichend eingegangen sind (vgl. etwa VwGH vom 24. September 2014, Ra 2014/19/0020, vom 16. April 2002, 2000/20/0200, und vom 14. Dezember 2006, 2006/01/0362); vielmehr ist das Bundesasylamt in seiner - vom BVwG geteilten Beweiswürdigung - von einer "durchschnittlichen 'Maßfigur'" ausgegangen, deren als Maßstab dienende Berichtweise die Schilderungen des Revisionswerbers nicht entsprochen hätten, und äußerte - anstelle einer Auseinandersetzung mit der Minderjährigkeit des Revisionswerbers im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung - seine Zweifel an dessen gutachtlich festgestellter Minderjährigkeit, ohne aber letztlich nachvollziehbar darzulegen, dass - entgegen dem Gutachten - von der Volljährigkeit des Revisionswerbers im Zeitpunkt seiner Aussagen vor der Asylbehörde auszugehen wäre. Auch das BVwG hielt zum Vorwurf der mangelnden Berücksichtigung der Minderjährigkeit nur fest, dass es (dafür) "keine Anhaltspunkte" gefunden habe, ohne dies näher auszuführen.
Entgegen der Ansicht des BVwG ersetzt auch die Anwesenheit eines gesetzlichen Vertreters während der erstinstanzlichen Einvernahme nicht die Verpflichtung zur erkennbaren und sorgfältigen Würdigung des Umstands der Minderjährigkeit im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung, geht es dabei doch darum, das Aussageverhalten des Minderjährigen dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können.
4. An diesem Ergebnis ändert auch die Alternativbegründung des BVwG, selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens komme diesem keine Asylrelevanz zu, weil die vom Revisionswerber befürchteten Übergriffe aus nicht asylrelevanten Gründen erfolgten, nichts. Zum einen setzte sich das BVwG mit den Gründen für die Verfolgung nicht näher auseinander (vgl. zur erforderlichen Abgrenzung zwischen nicht asylrelevanter Verfolgung zur "Wiederherstellung der Familienehre" einerseits und der asylrelevanten Verfolgung wegen einer den religiösen Wertvorstellungen der Verfolger zuwider laufenden Handlungsweise des Verfolgten andererseits etwa VwGH vom 20. Mai 2015, Ra 2015/20/0030, und vom 28. April 2015, Ra 2014/18/0141). Zum anderen unterließ das BVwG jegliche Prüfung dahingehend, ob dem Revisionswerber gegen eine allenfalls nicht asylrelevante Privatverfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen staatlicher Schutz verweigert werden würde. Ausgehend davon lässt sich die Asylrelevanz des gegenständlichen Fluchtvorbringens - bei Wahrunterstellung - nicht von vornherein verneinen.
5. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Mit der Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Asylteil ist auch den aufhebenden Spruchpunkten II. und III. aus rechtlichen Gründen der Boden entzogen, weil der Antrag auf internationalen Schutz primär als solcher auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und nur im Fall der Nichtzuerkennung dieses Status als Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gilt (vgl. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005; siehe auch
Schick in Holoubek/Lang (Hrsg), Das Verfahren vor dem VwGH (2015) 249 ff (258)).
6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 8. September 2015