G151/2014 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung des §22a Abs1 und Abs2 BFA-VG idF BGBl I 68/2013; keine Aufhebung des §22a Abs3 leg cit.
Zulässigkeit des amtswegigen Prüfungsverfahrens sowie der Anträge des VwGH.
§22a Abs1 BFA-VG steht in seiner Gesamtheit in einem untrennbaren Zusammenhang.
Das vom Gesetzgeber angestrebte und in §22a BFA-VG erkennbare Konzept eines einheitlichen Rechtsmittels, einer "Gesamtbeschwerde", kann auch ohne die Annahme eines einheitlichen Beschwerdegegenstandes verwirklicht werden. So kann auf einfachgesetzlicher Ebene ein einheitlicher Rechtsbehelf im Rahmen eines einheitlichen Verfahrens geschaffen werden.
Eine Beschwerde gemäß §22a Abs1 BFA-VG gegen das Verwaltungshandeln im Rahmen einer Schubhaft - Schubhaftbescheid, Festnahme und Anhaltung - kann sich gegen drei mögliche Beschwerdegegenstände richten, wovon jeder einem Beschwerdegegenstand des Art130 Abs1 und Abs2 Z1 B-VG entspricht:
Soweit sich die Beschwerde gegen einen Schubhaftbescheid richtet, stützt sie sich auf Art130 Abs1 Z1 B-VG. Soweit sich Beschwerden gegen die Festnahme oder Anhaltung (soweit diese nicht von einem Bescheid gedeckt sind oder einen zugrunde liegenden Bescheid überschreiten) richten, können sie auf Art130 Abs1 Z2 B-VG gestützt werden. Art130 Abs2 Z1 B-VG ermöglicht darüber hinaus dem einfachen Gesetzgeber, Verhalten einer Verwaltungsbehörde zum Beschwerdegegenstand zu erklären, das nicht bereits ein Kontrollobjekt nach Art130 Abs1 B-VG, also nicht typengebundenes Verwaltungshandeln ist. Unter diesen Tatbestand können Festnahme und Anhaltung, soweit es sich dabei um bloße Vollstreckungsmaßnahmen handelt, subsumiert werden.
§22a BFA-VG ordnet eine Form des Rechtsschutzes an, die erfordert, dass hinsichtlich eines oder mehrerer - im Einzelnen in Art130 B-VG vorgesehener - Beschwerdegegenstände (Schubhaftbescheid, Festnahme oder Anhaltung) ein einheitlicher Beschwerdeschriftsatz eingebracht wird. Dieses Konzept, auf einfachgesetzlicher Ebene die Anfechtung unterschiedlicher Typen des Verwaltungshandelns und typenfreien Verwaltungshandelns in einer Beschwerde zusammenzuführen, findet grundsätzlich in Art130 B-VG seine Deckung. Dies setzt allerdings voraus, dass gewährleistet ist, dass für die Prozesshandlung des Beschwerdeführers - nämlich die Beschwerdeerhebung - wie auch für das in der Folge anzuwendende Verfahren auch ein einheitliches Verfahrensrecht zur Verfügung steht. Der Gesetzgeber hat daher - wenn er diese Form des Rechtsschutzes anordnet - gleichzeitig eine klare Regelung hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrensrechts zu treffen.
Es ist der Bundesregierung entgegenzutreten, wenn sie annimmt, dass allein aus der Entstehungsgeschichte und dem rechtspolitischen Anliegen, dem "habeas corpus-Verfahren" iSd Art5 Abs4 EMRK und des Art6 Abs1 PersFrSchG zu entsprechen - ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung - abgeleitet werden könne, dass auf alle Beschwerden gemäß §22a Abs1 BFA-VG das Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zur Anwendung kommen könne.
Gemäß §22a Abs1 Z3 BFA-VG wird letztlich zwar allein das Bundesverwaltungsgericht zur inhaltlichen Entscheidung über die Schubhaftbeschwerde berufen. Das Gesetz enthält jedoch - vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber die Entscheidung getroffen hat, eine einheitliche Beschwerde vorzusehen - keine normative Anordnung der Anwendbarkeit des Verfahrensrechts für Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Ohne derartige gesetzliche Regelungen ist aber fraglich, wo Prozesshandlungen, die sich gegen Schubhaftbescheid, Festnahme und Anhaltung richten, einzubringen sind und welche Fristen für die Erhebung der Beschwerde zur Verfügung stehen. Bei Anwendbarkeit des §14 VwGVG bestünde auch zunächst eine sachliche Zuständigkeit des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur inhaltlichen Behandlung der Beschwerde im Rahmen einer Beschwerdevorentscheidung. Die Bestimmbarkeit der Einbringungsstelle hat zudem Auswirkungen auf die Bemessung der verfassungsrechtlich angeordneten Entscheidungsfrist von einer Woche (zum Beginn des Fristenlaufes bei Einlangen einer Schubhaftbeschwerde bei der "zuständigen Behörde" siehe VfSlg 18081/2007).
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass das Fehlen ausdrücklicher einheitlicher Verfahrensregelungen im Hinblick auf die damit unmittelbar verbundenen zentralen Fragen des Rechtsschutzes dem Gebot der präzisen Regelung nicht Genüge tut und §22a Abs1 Z3 und Abs2 BFA-VG den verfassungsgesetzlichen Anforderungen des Art18 iVm Art83 Abs2 B-VG nicht entsprechen.
Die im Prüfungsbeschluss geäußerte vorläufige Annahme, dass §22a Abs3 BFA-VG mit Art130 B-VG nicht in Einklang steht, kann nicht aufrechterhalten werden: Es ist der Bundesregierung vielmehr im Grundsatz zuzustimmen, dass diese Bestimmung anordnet, dass das Bundesverwaltungsgericht in Verfahren über eine Schubhaftbeschwerde gemäß §22a Abs1 Z3 BFA-VG in jenen Fällen, in denen die Anhaltung noch andauert, "in der Sache" zu entscheiden und dabei Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen hat. Angesichts der besonderen Konstellation der Schubhaft, bei der die einzelnen Akte aufeinander bezogen sind und die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Anhaltung im Hinblick auf Art5 Abs4 EMRK und Art6 Abs1 PersFrSchG auch die Überprüfung der formellen und materiellen Voraussetzungen und damit die Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Bescheides erfordert, begegnet eine derartige Übertragung von Aufgaben keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit §22a Abs3 BFA-VG, der dem Bundesverwaltungsgericht die Aufgabe überträgt, aus Anlass einer Beschwerde gemäß §22a Abs1 Z3 BFA-VG die Verwaltung zu kontrollieren, wird der verfassungsgesetzliche Rahmen des Art130 B-VG nicht überschritten.
Kein untrennbarer Zusammenhang des §22a Abs3 BFA-VG mit den Bestimmungen der Abs1 und Abs2 leg cit.
Ausspruch gem Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG, dass die aufgehobenen Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind.
(Anlassfall E4/2014, E v 12.03.2015: teils Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, teils Abweisung und Zurückweisung sowie Ablehnung der Beschwerde).