7Rs50/25i – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Kraschowetz-Kandolf (Vorsitz), die Richter Mag. Russegger und Mag. Reautschnig sowie die fachkundigen Laienrichter:innen Färber (aus dem Kreis der Arbeitgeber:innen) und Zimmermann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer:innen) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , **, vertreten durch Mag. Peter Handler, Rechtsanwalt in Deutschlandsberg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, vertreten durch ihre Angestellte Mag a . B*, ebendort, wegen Pflegegeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 8. Juli 2025, GZ: **-11, in nicht-öffentlicher Sitzung I. beschlossen und II. zu Recht erkannt:
Spruch
I.1. Der Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung wird zurückgewiesen.
I.2. Die mit der Berufung vorgelegte Urkunde, nämlich der neurologische Befund vom 17. Juli 2025, wird zurückgewiesen.
II. Der Berufung, deren Kosten die Berufungswerberin selbst zu tragen hat, wird nicht Folge gegeben.
Die Revision ist nichtnach § 502 Abs 1 ZPO zulässig .
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin bewohnt mit ihrem Lebensgefährten seit Februar 2025 eine Wohnung im Erdgeschoss eines im Stadtgebiet von ** gelegenen Mehrparteienwohnhauses. Die Wohnung ist barrierefrei ausgeführt; es bestehen keine Türschwellen zwischen den Räumen. Im Sanitärbereich sind aber keine Haltegriffe vorhanden. Die Wohnung ist mit einer Waschmaschine und einem Geschirrspüler ausgestattet. Die Beheizung erfolgt über eine Zentralheizung. Öffentliche Verkehrsmittel stehen zur Verfügung. Die hausärztliche Ordination, Geschäfte und eine Apotheke befinden sich in der näheren Umgebung der Wohnung. Die Klägerin wird durch ihren Lebensgefährten und von vier Personen im Rahmen persönlicher Assistenzen unterstützt. An Hilfsmitteln werden ein mechanischer Aktiv-Rollstuhl, Inkontinenzeinlagen, waschbare Überzüge und Einmalkatheter verwendet.
Die Klägerin leidet seit dem Jahr 2015, als die erstmalige Diagnose erstellt wurde, an multipler Sklerose, einer chronisch-entzündlichen und fortschreitenden neurologischen Autoimmunerkrankung, bei der in erster Linie die Markscheiden der Nervenfasern angegriffen werden, wodurch es u.a. zu Lähmungserscheinungen und zu Blasen- und Mastdarmentleerungsstörungen kommt. Als Folge dieser Erkrankung leidet die Klägerin an einer Harnblasenentleerungsstörung, aufgrund derer seit April 2025 zweimal am Tag ein Katheterismus erforderlich ist, der nur mit Hilfe zweier Pflegepersonen ausgeführt werden kann. Darüber hinaus bestehen bei der Klägerin Lähmungserscheinungen an beiden Beinen, wobei vor allem am linken Bein eine deutliche Kraftabschwächung vorliegt. Dennoch kann die Klägerin derzeit noch mit beiden unteren Extremitäten aktiv willentlich geplante Bewegungen (z.B. Gehübungen im Rahmen der Physiotherapie) ausüben. Darüber hinaus bestehen eine verminderte Rumpfstabilität und wesentliche Funktionseinschränkungen im Bereich beider oberer Extremitäten durch ausgeprägte Koordinationsstörungen infolge einer Ataxie. Im Bereich des linken Armes besteht noch keine vollständige Lähmung, aber eine Feinmotorikstörung. Auch mit den beiden oberen Extremitäten kann die Klägerin noch aktiv und willentlich zielgerichtete Bewegungen mit den Händen ausführen, wie etwa ein Glas zwischen beiden Händen einklemmen und zum Mund führen. Seit zwei Jahren ist die Klägerin zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen, wobei sie sich aber auch mit diesem nicht mehr selbstständig fortbewegen kann. Darüber hinaus ist sie auch schon seit längerem nicht mehr in der Lage, Positions- und Lagewechsel selbstständig durchzuführen, weshalb sie die Unterstützung des Lebensgefährten oder der persönlichen Assistenten benötigt. Die Klägerin benötigt aufgrund ihrer Erkrankung Pflege in sämtlichen Belangen. Auch die Mahlzeiten sind zu verabreichen. Zusammenfassend benötigt die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes seit 12.03.2025 vollständige Hilfe bei
1. der täglichen Körperpflege,
2. der Zubereitung der Mahlzeiten,
3. der Einnahme der Mahlzeiten,
4. der Verrichtung der Notdurft,
5. dem An- und Auskleiden,
6. der Reinigung bei Inkontinenz,
7. der Durchführung des Katheterismus zweimal pro Tag, wofür jeweils ein Zeitaufwand von 10 Minuten pro Katheterismus erforderlich ist,
8. der Einnahme der Medikamente,
9. der Mobilitätshilfe im engeren Sinn,
10. der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens,
11. der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände,
12. der Pflege der Leib- und Bettwäsche,
13. der Mobilitätshilfe im weiteren Sinne.
Die genannten Pflegemaßnahmen können koordiniert und geplant in vier bis sechs Einheiten pro Tag und zwei bis drei Einheiten in der Nacht vorgenommen werden. Diesbezüglich kann ein Pflegeplan eingehalten werden. Das gilt auch für den Positionswechsel, der zur Verhinderung eines Dekubitus regelmäßig erforderlich ist und der – je nach Hautbild – im Abstand von zwei bis vier Stunden erforderlich ist. Eine Wechseldruckmatratze, die das Risiko für das Auftreten von Rötungen reduzieren könnte, ist bei der Klägerin nicht vorhanden. Es besteht weder Eigen- noch Fremdgefährdung. Die dauernde Bereitschaft (Erreichbarkeit) und regelmäßige Nachschau einer Pflegeperson zur Vornahme der geplanten Pflegehandlungen ist ausreichend. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich der Klägerin ist hingegen nicht erforderlich.
Mit Bescheid vom 4. April 2025 wurde das der Klägerin zuvor in Höhe der Stufe 3 gewährte Pflegegeld ab 1. April 2025 neu bemessen und ihr ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 zuerkannt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Pflegebedarf mehr als 180 Stunden im Monat betrage und ein außergewöhnlicher Pflegebedarf erforderlich sei.
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes.
Die Beklagte bestreitet das Klagebegehren unter Aufrechterhaltung ihres im Bescheid eingenommenen Standpunkts.
Mit dem angefochtenen Urteil spricht das Erstgerichtder Klägerin in Wiederholung des bekämpften Bescheides das Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 zu und weist das Begehren auf Bezahlung eines höheren Pflegegeldes auf der Grundlage des eingangs dargestellten, soweit in Kursivschrift strittigen Sachverhalts ab. In rechtlicher Hinsicht folgert es, dass die Voraussetzungen für die Pflegestufe 6 nicht vorlägen. Im vorliegenden Fall ergäben die von der Klägerin benötigten festgestellten Hilfs- und Betreuungsverrichtungen unter Anwendung der EinstV einen zeitlichen Betreuungsbedarf von im Durchschnitt 238 Stunden pro Monat. Zusätzlich bestehe ein außergewöhnlicher Pflegebedarf in Form der Notwendigkeit von mehr als fünf – jeweils planbaren – Pflegeeinheiten, davon zumindest eine auch während der Nachtstunden. Dies rechtfertige gemäß § 4 Abs 2 BPGG iVm § 6 EinstV ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 5. Hingegen seien keine zeitlich unkoordinierbaren (also nicht planbaren) Betreuungsmaßnahmen regelmäßig während Tag und Nacht und auch keine dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während Tag und Nacht aufgrund der Gefahr von Eigen- und/oder Fremdgefährdung erforderlich. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 7 seien nicht erfüllt, weil der Klägerin derzeit noch zielgerichtete Bewegungen der vier Extremitäten möglich seien. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 6 oder höher lägen daher nicht vor.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer vollinhaltlichen Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte erstattet keine Berufungsbeantwortung, beantragt jedoch, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
I.1. Die Entscheidung, ob eine Berufungsverhandlung erforderlich ist, steht im Ermessen des Berufungssenates (RS0127242). Die Parteien haben hingegen kein Antragsrecht, sodass der dahingehende Antrag zurückzuweisen war. Im konkreten Fall hielt das Berufungsgericht die Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung nicht für erforderlich, weshalb in nicht-öffentlicher Sitzung zu entscheiden ist (§ 480 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG).
I.2. Die Klägerin hat mit dem Rechtsmittel eine neue Urkunden vorgelegt, nämlich den neurologischen Befund vom 17. Juli 2025. Damit verstößt sie jedoch gegen das auch in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot, weshalb die Urkunde zurückzuweisen war (RS0042049).
II. Zur Berufung:
II. 1.: Zum Berufung der Mangelhaftigkeit des Verfahrens:
Als mangelhaft rügt die Berufungswerberin, dass sie zur Verhandlung am 8. Juli 2025 nicht erschienen sei, weshalb eine Parteieneinvernahme nicht stattgefunden habe. Auf eine solche sei jedoch nicht verzichtet worden. Im Falle ihrer Einvernahme als Partei hätte sie die in den Punkten 1.-10. in der Berufung angeführten Angaben machen können, woraus sich die (im Einzelnen auch ausgeführten) Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld ergeben hätten.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung in Sozialrechtssachen, dass die Parteienvernehmung kein geeignetes Beweismittel darstellt, um Feststellungen zum Bestand und Ausmaß eines Leidenszustandes zu gewinnen. Diese ist insbesondere dann entbehrlich, wenn die Klägerin, wie im vorliegenden Fall, im Rahmen der Anamnese und Untersuchung die Gelegenheit hatte, dem Sachverständigen ihre Leidenszustände zu schildern (SVSlg 65.833, 63.534, 61.096, 52.442). Dies gilt auch für das Pflegegeldverfahren ( Greifeneder/Liebhart Pflegegeld 5 Rz8.115, 8.116 ff, 8.195). Im Übrigen könnte ein Sachverständigengutachten nicht durch die Aussage einer Partei (oder von Zeugen) widerlegt werden (RS0040598; OLG Innsbruck 23 Rs 4/24w mwN).
Insbesondere betrifft dies die von der Berufungswerberin aufgeworfenen Fragen, welche zielgerichteten Bewegungen sie mit den Extremitäten durchführen kann und in welchen Pflegeeinheiten die Pflege erfolgen muss. Zu ergänzen ist noch, dass die Klägerin, wenn sie auch nicht persönlich anwesend war, durch ihren Vertreter in der Tagsatzung das Sachverständigengutachten auch erörtern konnte.
Der Klägerin ist durchaus zuzugestehen, dass sie einen sehr hohen Pflegebedarf aufgrund ihrer Erkrankung hat, der sich in den festgestellten notwendigen Hilfsverrichtungen deutlich manifestiert. Beispielsweise ist ihre äußerst eingeschränkte Mobilität in der Mobilitätshilfe im engeren wie im weiteren Sinn, aber letztlich auch im Erfordernis der weiters noch zu erbringenden Pflegemaßnahmen und im Zubilligen eines außergewöhnlichen Pflegebedarfs berücksichtigt.
Zusammenfassend liegt daher ein Verfahrensmangel im Sinne eines Fehlers des Gerichts nicht vor.
II. 2.: Zum Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung:
Unter diesem Berufungsgrund bekämpft die Berufungswerberin die eingangs in Kursivschrift dargestellten Feststellungen zu den erforderlichen Pflegemaßnahmen, zum Einhalten eines Pflegeplanes, zur Eigen- und Fremdgefährdung sowie zur dauernden Bereitschaft bzw. Anwesenheit.
Ersatzweise soll festgestellt werden:
„Die genannten Pflegemaßnahmen können nicht koordiniert und nicht geplant am Tag und in der Nacht vorgenommen werden. Diesbezüglich kann kein Pflegeplan eingehalten werden. Das gilt auch für den Positionswechsel, der zur Verhinderung eines Dekubitus regelmäßig erforderlich ist. Eine Wechseldruckmatratze, die das Risiko für das Auftreten von Rötungen reduzieren könnte, ist bei der Klägerin nicht vorhanden. Es besteht daher Eigen- und Fremdgefährdung. Somit ist die Dauer der Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich der Klägerin erforderlich.“
Die gesetzmäßige Ausführung einer Beweisrüge erfordert nach ständiger Rechtsprechung die Darlegung, welche Feststellung bekämpft wird, aufgrund welcher unrichtigen Beweiswürdigung das Erstgericht die bekämpfte Feststellung getroffen hat, welche Ersatzfeststellung begehrt wird und aufgrund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen das Erstgericht richtigerweise die begehrte Ersatzfeststellung treffen hätte müssen (RS0041835; Kodekin Rechberger/Klicka ZPO 5§ 471 Rz 15). Sie muss eindeutig erkennen lassen, aufgrund welcher Umwürdigung bestimmter Beweismittel welche vom angefochtenen Urteil abweichenden Feststellungen angestrebt werden (RS0041835 [T2]). Dabei müssen stichhaltige Bedenken gegen die Richtigkeit der vom Erstgericht vorgenommenen Beweiswürdigung ins Treffen geführt werden (RS0043175).
Diesen Kriterien entspricht die Beweisrüge nicht. Insbesondere hält sie der Beweiswürdigung des Erstgerichts, das die Feststellungen auf das eingeholte Sachverständigengutachten gründet, welches in der mündlichen Streitverhandlung vom 8. Juli 2025 auch erörtert wurde, nichts entgegen, sondern beruft sich auf die „Ausführungen der klagenden Partei“. Damit zeigt sie eine unrichtige Beweiswürdigung nicht auf.
Das Berufungsgericht übernimmt daher die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen gemäß § 498 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG.
Eine Rechtsrüge wurde nicht erhoben, weshalb die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts nicht mehr weiter zu überprüfen ist ( Kodekin Rechberger/Klicka ZPO 5 § 471 Rz 16).
Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet, noch liegen sie vor.
Da im vorliegenden Fall keine Rechtsfragen zu klären waren, war die Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zuzulassen.