2Ob126/22a – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache des I*, geboren am *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Betroffenen, vertreten durch den gerichtlichen Erwachsenenvertreter Vertretungsnetz Erwachsenenvertretung, *, dieser vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. Mai 2022, GZ 44 R 169/22m 203, womit infolge des Rekurses des Betroffenen der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 13. April 2022, GZ 35 P 13/14w-198, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass die Einbringung einer Klage gegen den vormaligen Sachwalter Dr. V* wegen 34.901,64 EUR sA pflegschaftsgerichtlich genehmigt wird.
Text
Begründung:
[1] Der Betroffene wurde von 2008 bis Herbst 2018 von einem Rechtsanwalt als (nach damaliger Rechtslage) Sachwalter für alle Angelegenheiten vertreten. Der Sachwalter stellte keinen Antrag auf Waisenpension für den Betroffenen.
[2] Mit Beschluss vom 2. 10. 2018 erfolgte eine Umbestellung in der Person des gerichtlichen Erwachsenenvertreters.
[3] Mit Mail vom 20. 2. 2019 teilte eine Mitarbeiterin der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) dem Erwachsenenvertreter mit, dass sie die Geburtsurkunde des Betroffenen aufgefunden habe und dessen Vater 2001 verstorben sei. Weiters lautete das Mail:
„Bitte stellen Sie für Ihren Klienten den Antrag auf Waisenpension. Den Link schicke ich mit.
Dokumente werden keine benötigt. Ev. einen aktuellen Befund mitschicken.“
[4] Am 22. 2. 2019 brachte der Erwachsenenvertreter einen Antrag auf Gewährung von Waisenpension bei der Pensionsversicherungsanstalt ein. Mit dem dem Erwachsenenvertreter am 13. 6. 2019 zugestellten Bescheid gewährte die PVA die beantragte Waisenpension ab 22. 2. 2019.
[5] Am 7. 2. 2022 stellte der Erwachsenenvertreter beim späteren Prozessgericht einen Verfahrenshilfeantrag, der ihm zur Verbesserung unter anderem durch Beschreibung des Anspruchs zurückgestellt wurde. Der Antrag wurde am 10. 3. 2022 unter Anschluss des Entwurfs einer Mahnklage verbessert, woraufhin das Prozessgericht die Verfahrenshilfe bewilligte.
[6] Am 16. 3. 2022 beantragte der (anwaltlich vertretene) Betroffene die Genehmigung der Klagsführung gegen den Sachwalter. Der Sachwalter wäre zur Prüfung und Geltendmachung von Ansprüchen aus Waisenpension verpflichtet gewesen, wodurch dem Betroffenen im Zeitraum 1. 1. 2009 bis 22. 2. 2019 ein Schaden von 34.901,29 EUR entstanden sei. Die dreijährige Verjährungsfrist könne erst mit Zustellung des Bescheids über die Gewährung der Waisenpension zu laufen beginnen.
[7] Das Erstgericht versagte die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Klage. Zwar sei bei einer ersten Beurteilung der vorgelegten Unterlagen davon auszugehen, dass dem Betroffenen durch das schuldhafte Versäumnis des rechtskundigen Sachwalters ein Schaden entstanden sei. Allerdings sei das „Thema der Verjährung fraglich“. Der Betroffene setze den Beginn der Verjährungsfrist mit 13. 6. 2019 an; es sei jedoch die Annahme „ebenso vertretbar“, dass dem „Kläger“ Schaden und Schädiger bereits bei Antragstellung im Februar 2019 bekannt gewesen seien, zumal ihn die Pensionsversicherungsanstalt am 20. 2. 2019 aufgefordert habe, einen Antrag zu stellen. Der Antrag auf Verfahrenshilfe sei zu kursorisch gewesen, um die Verjährungsfrist zu wahren. Insgesamt erscheine das Prozessrisiko trotz Gewährung der Verfahrenshilfe sehr hoch, weil der Betroffene bei Prozessverlust die Kosten der Gegenseite zu tragen habe, aber über kein Vermögen und nur sehr geringe Einkünfte verfüge.
[8] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen nicht Folge, bewertete den Entscheidungsgegenstand mit über 30.000 EUR und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.
[9] Der Beginn der Verjährungsfrist knüpfe im vorliegenden Fall nicht an die Beendigung des Verwaltungsverfahrens an, weil bereits zuvor gesicherte Verfahrensergebnisse bestanden hätten, wonach die Antragstellung erfolgreich sein werde. Fristauslösend sei im konkreten Fall die Mitteilung der PVA vom 20. 2. 2019. Zum Zeitpunkt der Verbesserung des zuvor unsubstantiierten Verfahrenshilfeantrags am 10. 3. 2022 sei der Anspruch bereits verjährt gewesen.
[10] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des durch den gerichtlichen Erwachsenenvertreter vertretenen Betroffenen, mit dem er die Genehmigung der Klagsführung anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[11] Der Betroffene hat keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
[12] Der außerordentliche Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinn des Abänderungsantrags auch berechtigt .
[13] Der Betroffene argumentiert, dass die Antragstellung allein nichts über den Verfahrensausgang aussage und der Beginn der Verjährungsfrist daher nicht mit dem Mail der PVA vom 20. 2. 2019 angesetzt werden könne. Außerdem dürfe das Pflegschaftsgericht im Genehmigungsverfahren diffizile Rechtsfragen zur Verjährung nicht vorwegnehmen.
Dazu hat der erkennende Senat erwogen:
[14] 1. Bei der Prüfung der Genehmigungsfähigkeit einer Klage ist nicht unter Vorwegnahme des Zivilprozesses zu untersuchen, ob der Anspruch besteht, vielmehr ist unter Einbeziehung aller Eventualitäten lediglich das Prozessrisiko abzuwägen. Eine abschließende Beurteilung der Tat- und Rechtsfrage ist somit nicht vorgesehen. Maßgebend ist, ob in vergleichbaren Fällen ein verantwortungsbewusster gesetzlicher Vertreter den Klageweg beschreiten würde (RS0108029 [insb auch T9]). Das ist jedenfalls dann nicht anzunehmen, wenn die Erfolgsaussichten gering sind und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit ein erheblicher Vermögensnachteil des Pflegebefohlenen durch die Belastung mit Prozesskosten droht (RS0048156).
[15] 2. Die Gewährung einer Waisenpension setzt nach Vollendung des 18. Lebensjahres eine „besondere“ Antragstellung voraus, muss doch der Sozialversicherungsträger prüfen, ob die besonderen Voraussetzungen nach § 252 Abs 2 ASVG für die (Weiter-)Gewährung vorliegen. Wird die Hinterbliebenenleistung mehr als sechs Monate nach dem Tod des Versicherten beantragt, fällt die Leistung erst mit dem Tag der Antragstellung an ( Neumayr in Mosler / Müller / Pfeil , Der SV-Komm § 260 ASVG Rz 7 ff). Nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft nach Vollendung des 18. Lebensjahres – soweit hier von Relevanz – nur weiter, wenn und solange das Kind „seit der Vollendung des 18. Lebensjahres […] infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist“.
[16] 3. Die Stellung eines Antrags auf Gewährung einer Waisenpension hat der Sachwalter, der als Rechtsanwalt für den Sorgfaltsmaßstab nach § 1299 ABGB einzustehen hat, nach dem vom Erstgericht zugrunde gelegten Sachverhalt trotz bestehender Anhaltspunkte, dass dem Betroffenen ein Anspruch zustehen könnte, unterlassen (vgl 4 Ob 26/10t).
[17] 4. Für einen gemäß § 1489 ABGB verjährenden Schadenersatzanspruch beginnt der Fristenlauf, wenn dem Geschädigten der Schaden und die Person des Schädigers bekannt geworden sind. Dies ist der Fall, wenn der Sachverhalt dem Geschädigten so weit bekannt ist, dass dieser mit Aussicht auf Erfolg klagen kann, also in der Lage ist, das zur Begründung seines Ersatzanspruchs erforderliche Sachvorbringen konkret zu erstatten; erforderlich ist insbesondere auch die Kenntnis des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Schaden und einem bestimmten, dem Schädiger anzulastenden Verhalten (RS0034524 [insb auch T24 bzw T25 und T49]). Bloße Mutmaßungen genügen nicht, erst objektives Bekanntsein der maßgeblichen Tatumstände bedeutet Kenntnis des Schadens (RS0034547).
[18] Wenn Ungewissheit darüber besteht, ob überhaupt ein Schaden entstanden ist, und über diese Frage ein Rechtsstreit anhängig ist, beginnt die Verjährungsfrist im Regelfall erst mit Rechtskraft der Gerichtsentscheidung, weil erst dann der Schadenseintritt „unverrückbar“ feststeht und ausreichend sichere Informationen für eine Schadenersatzklage zur Verfügung stehen (RS0083144 [T14, T17, T31]; RS0034908 [T9, T12]). Im Einzelfall kann eine ausreichende Kenntnis vom Schaden allerdings schon vor rechtskräftigem Abschluss eines anhängigen Verfahrens gegeben sein, wenn bereits vorher gesicherte Verfahrensergebnisse vorliegen oder der Geschädigte erdrückende Beweise ignoriert (RS0083144 [T22, T32]; RS0034908 [T14, T18]). Diese Grundsätze gelten auch in Fällen, in denen der Schadenseintritt vom Ausgang eines Verwaltungsverfahrens abhängt (RS0083144 [T21]; RS0034908 [T22]).
[19] 5. Ein der Genehmigung der Klagsführung entgegen stehendes evidentes Verjährungsrisiko (vgl 5 Ob 175/14t) kann ausgehend vom festgestellten Sachverhalt nicht angenommen werden, weil weder der Inhalt des Erwachsenenschutzakts, in dem sich auch zwei Meldungen über ganz kurze geringfügige Beschäftigungen des Betroffenen finden, noch das Mail der PVA vom 20. 2. 2019 mit hinreichender Deutlichkeit nahe legen, dass der gerichtliche Erwachsenenvertreter bereits vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens gesicherte Verfahrensergebnisse oder erdrückende Beweise ignoriert hätte.
[20] Im Übrigen weist der Betroffene im Revisionsrekurs zutreffend darauf hin, dass eine abschließende – also gleichsam unter Vorwegnahme sämtlicher darauf bezogener Einwendungen des künftigen Beklagten erfolgende – Beurteilung der Verjährungsfrage im Genehmigungsverfahren nicht zu erfolgen hat. Maßgeblich ist vielmehr, dass die getroffenen Feststellungen ausreichen, um ein der Genehmigung entgegenstehendes massives Verjährungsrisiko verneinen zu können.
[21] 6. Da der Betroffene die Klage am 10. 6. 2022 – sohin vor dem Ablauf von drei Jahren nach Zustellung des Bescheids der PVA – beim Prozessgericht eingebracht hat, erübrigt sich ein näheres Eingehen auf die Frage, ob die Verbesserung des Verfahrenshilfeantrags am 10. 3. 2022 (vgl dazu RS0034695) und/oder die Einbringung des Antrags auf pflegschaftsgerichtliche Genehmigung am 16. 3. 2022 (vgl dazu 5 Ob 212/04v) zur Unterbrechung der Verjährung nach § 1497 ABGB führten.
[22] 7. Berücksichtigt man schließlich, dass dem vermögenslosen Betroffenen, der auch nur über ein geringes Einkommen verfügt, im Zivilprozess bereits Verfahrenshilfe gewährt wurde (vgl 6 Ob 197/19t), so ist nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls davon auszugehen, dass ein verantwortungsbewusster gesetzlicher Vertreter den Klageweg beschreiten würde.
[23] 8. Auf die im Revisionsrekurs weiters aufgeworfenen Rechtsfragen kommt es nicht (mehr) entscheidend an.
[24] 9. Insgesamt war die Entscheidung des Rekursgerichts damit im Sinn einer Genehmigung der Klagsführung abzuändern.