JudikaturJustizBsw77633/16

Bsw77633/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
13. Juni 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Marcello Viola gg. Italien (Nr. 2), Urteil vom 13.6.2019, Bsw. 77633/16.

Spruch

Art. 3 EMRK - Keine vorzeitige Entlassung eines Mafioso aus lebenslanger Haft wegen fehlender Kooperation mit der Justiz.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 6.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Der Bf., der sich derzeit in Haft befindet, war ab Mitte der 1980er Jahre bis 1996 als Anführer einer der beteiligten Gruppierungen in die Auseinandersetzung zwischen den Mafia-Clans von Radicena und von Iatrinoli in der Stadt Taurianova (Kalabrien) verwickelt. In zwei Strafverfahren wurde er wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und in diesem Kontext begangener weiterer Delikte wie Mord, Entführung oder Freiheitsberaubung mit Todesfolge zu einer insgesamt lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Seine Führungsrolle wurde dabei erschwerend berücksichtigt.

Zwei Anträge des Bf. auf Hafturlaub wurden 2011/12 bzw. 2015/16 abgewiesen. Die Gerichte verwiesen insbesondere darauf, dass Hafturlaub für Individuen ausgeschlossen war, die aufgrund eines der in Art. 4bis des Strafvollzugsgesetzes genannten Delikte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden waren, sofern sie sich weigerten, iSd. Art. 58ter dieses Gesetzes »mit der Justiz zu kooperieren«. Dem Vorbringen des Bf., wonach seine Rehabilitierung im Gefängnis einen positiven Verlauf genommen und er seine Verbindungen zur Mafia gelöst habe, wurde kein Gehör geschenkt.

Im März 2015 hatte der Bf. mit Verweis auf seine positive Entwicklung in der Haft auch einen Antrag auf bedingte Entlassung gestellt. Dieser wurde allerdings ebenfalls abgewiesen, da die Gerichte betonten, dass auch eine bedingte Entlassung nur möglich wäre, wenn er mit der Justiz kooperierte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Strafe), weil die gegen ihn verhängte lebenslange Freiheitsstrafe nicht reduzierbar wäre und ihm keine Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung bieten würde. Er beschwerte sich auch darüber, dass das Haftregime mit den Zielen der Rehabilitierung und gesellschaftlichen Wiedereingliederung unvereinbar wäre.

?

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Zulässigkeit

(56) Der GH befindet, dass die von der Regierung erhobene Einrede [wegen fehlender Opfereigenschaft] eng mit der Frage verbunden ist, ob die lebenslange Haftstrafe, zu welcher der Bf. verurteilt wurde, de iure und de facto reduzierbar ist, und damit mit der inhaltlichen Rüge der Verletzung von Art. 3 EMRK. Er beschließt deshalb, sie mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden (einstimmig).

(66) [...] [Der GH] kommt zum Schluss, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist und daher für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).

In der Sache

(95) Der GH beobachtet im vorliegenden Fall, dass das auf die lebenslange Freiheitsstrafe anwendbare Regime das Resultat der kombinierten Anwendung von Art. 22 StGB und Art. 4bis und 58ter des Strafvollzugsgesetzes ist. Diese spezielle Kategorie lebenslanger Strafe wird [...] als »ergastolo ostativo« [lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung] bezeichnet.

(96) Die genannten Bestimmungen sehen eine differenzierte Strafbehandlung vor, welche die Gewährung einer bedingten Entlassung sowie den Zugang zu anderen Strafvollzugsvergünstigungen und Alternativen zur Haft [...] verhindert, wenn die notwendige Voraussetzung der Kooperation mit der Justiz nicht erfüllt ist. [...]

(97) Der GH hält fest, dass diese Kooperation durch Art. 58ter geregelt wird: Der Verurteilte muss den Behörden entscheidende Elemente liefern, die es erlauben, die späteren Folgen des Delikts vorherzusehen oder die Feststellung der Tatsachen und die Identifikation der Verantwortlichen für Straftaten zu erleichtern. Der Verurteilte ist von dieser Verpflichtung befreit, wenn die genannte Kooperation als »unmöglich« oder »unzumutbar« qualifiziert werden kann und wenn er den Abbruch jeder aktuellen Verbindung mit der mafiösen Gruppierung beweist.

Zur Aussicht auf Entlassung und zur Möglichkeit, die bedingte Entlassung zu verlangen

(98) Der GH beobachtet [...], dass die mögliche Kooperation des Betroffenen infolge [...] des erschwerenden Umstands seiner Führungsrolle innerhalb der ihm vorgeworfenen mafiösen Gruppierung nicht als »unmöglich« oder »unzumutbar« im Sinne der geltenden Gesetzgebung und der Rechtsprechung des Kassationsgerichts angesehen werden kann.

(99) Um im vorliegenden Fall zu entscheiden, ob die lebenslange Strafe [...] de jure und de facto nicht reduzierbar ist, ob sie also eine Aussicht auf Entlassung und eine Möglichkeit zur erneuten Prüfung bietet, konzentriert sich der GH daher auf die einzige Option, die dem Bf. offensteht: Im Rahmen der von den Gerichten vorgenommenen Ermittlungs- und Verfolgungsaktivitäten zu kooperieren [...].

(101) Der GH hält fest, dass die innerstaatliche Gesetzgebung im vorliegenden Fall den Zugang zur bedingten Entlassung und den anderen Vergünstigungen im Strafvollzugssystem nicht absolut und automatisch untersagt, sondern sie von einer »Kooperation mit der Justiz« abhängig macht.

(102) Tatsächlich liegt die Situation des Bf., die sich aus Art. 4bis ergibt, somit zwischen jener eines gewöhnlichen zu einer lebenslangen Haft Verurteilten [...], dessen Strafe de jure und de facto reduzierbar ist, und jener eines Häftlings, dem vom System aufgrund eines rechtlichen oder praktischen Hindernisses unter Verletzung von Art. 3 EMRK jede Möglichkeit zur Entlassung versagt ist.

(103) Der GH nimmt die Behauptungen der Regierung zur Kenntnis, wonach Art. 4bis zum Zweck hat, von den Verurteilten die eindeutige Demonstration ihrer »Trennung« vom kriminellen Milieu und eines erfolgreichen Weges der Resozialisierung zu verlangen, indem sie auf nützliche Weise eine Kooperation mit der Justiz eingehen, die auf die »Zerschlagung« der mafiösen Vereinigung und die Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit abzielt [...]. Für ihn ist das Ziel der Kriminalpolitik, die Art. 4bis zugrunde liegt, deshalb klar festgelegt [...]: Der Gesetzgeber hat ausdrücklich den Zwecken der Generalprävention und des Schutzes der Allgemeinheit den Vorzug gegeben, indem er von den wegen der fraglichen Delikte Verurteilten verlangt, ihre Kooperation mit den Behörden zu beweisen – ein Instrument, das im Kampf gegen das Phänomen der Mafia als entscheidend angesehen wird. Laut der Regierung ist es diese Besonderheit des Phänomens, welches das Erfordernis begründet, ein Regime der lebenslangen Freiheitsentziehung vorzusehen, das sich vom gewöhnlichen Regime nach Art. 22 StGB unterscheidet.

(104) Im Hinblick auf das Phänomen der Mafia erachtet es der GH als nützlich, sich auf die Stellungnahme der Regierung und das Urteil des Geschworenengerichts [...] zu beziehen, die auf die Besonderheit der kriminellen Vereinigung der Mafia und des unter ihren Mitgliedern geschlossenen Paktes verwiesen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er besonders solide ist und Kontinuität aufweist.

(105) Er verweist ebenso auf das Urteil des Kassationsgerichts Nr. 46.103 vom 7.11.2014, worin dieses daran erinnert hat, dass das Delikt der kriminellen Vereinigung in der Form der Mafia, bei dem es sich um ein Dauerdelikt handelt [...], die Existenz einer umfassenden kriminellen Agenda voraussetzt, die auf die Zukunft gerichtet ist und keine zeitliche Begrenzung hat. [...]

(106) Art. 4bis sieht deshalb eine Vermutung der Gefährlichkeit des Verurteilten vor, die mit der Art des Delikts verbunden ist, das ihm vorgeworfen wird. Diese Gefährlichkeit und die Verbindung mit dem ursprünglichen kriminellen Milieu verschwinden nicht allein durch die Freiheitsentziehung. Laut der Regierung ist dies der Grund dafür, dass die fragliche Norm vom Verurteilten verlangt, durch seine Kooperation konkret zu beweisen, dass er sich von dem betreffenden kriminellen Milieu losgesagt hat. Dies würde zugleich auf den Erfolg des Resozialisierungsprozesses deuten.

(108) Der GH hat [...] bereits geurteilt, dass die Bestrafung zwar eines der Ziele der Haft bleibt, die europäischen Strafpolitiken aber mittlerweile das Ziel der Resozialisierung betonen [...], auch im Fall von zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilten Häftlingen. Dies gilt insbesondere gegen Ende einer langen Haftstrafe. Der Grundsatz der Resozialisierung spiegelt sich in den internationalen Normen wider und ist heute in der Rechtsprechung des GH anerkannt.

(109) Auf innerstaatlicher Ebene betont der GH, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Funktion der Strafe seit seinem Urteil Nr. 313 aus 1990 von der zentralen Rolle der Resozialisierung zeugt, welche die Strafe von ihrer abstrakten normativen Formulierung bis zu ihrer konkreten Vollstreckung begleiten muss [...].

(110) Diese ersten Überlegungen führen den GH dazu, sich mit der zentralen Frage zu befassen, die sich im Fall des Bf. stellt, nämlich ob die Balance zwischen den Zwecken der Strafpolitik und der Funktion der Resozialisierung in ihrer praktischen Anwendung nicht die Perspektive des Betroffenen auf seine Entlassung und seine Möglichkeit, die Überprüfung seiner Strafe zu verlangen, übermäßig beschränkt.

(111) Der GH beobachtet, dass das italienische Strafvollzugssystem auf dem Grundsatz der fortschreitenden Behandlung [...] des Häftlings im Gefängnis beruht, wonach die aktive Beteiligung am individuellen Rehabilitierungsprogramm und das Verstreichen der Zeit positive Auswirkungen auf den Verurteilten haben und seine vollständige Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördern können. Je nachdem, wie sehr er sich im Gefängnis weiterentwickelt [...], wird dem Verurteilten durch das System die Möglichkeit geboten, von schrittweisen Maßnahmen zu profitieren (von der Arbeit außerhalb der Anstalt bis zur bedingten Entlassung), die ihn auf seinem »Weg in die Freiheit« begleiten sollen.

(113) Der GH erinnert außerdem daran, bestätigt zu haben, dass der Grundsatz der »Menschenwürde« es verhindert, eine Person zwangsweise ihrer Freiheit zu berauben, ohne zugleich auf ihre Rehabilitierung hinzuwirken und ohne ihr eine Chance zu bieten, diese Freiheit eines Tages wiederzuerlangen. Er hat präzisiert, dass »ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Häftling das Recht hat zu wissen, was er tun muss, damit seine Freilassung in Frage kommt und welches die Bedingungen dafür sind« (Vinter u.a./GB).

Er hat auch geurteilt, dass die nationalen Behörden zu lebenslanger Haftstrafe verurteilten Häftlingen eine reale Chance zur Rehabilitierung geben müssen. Es handelt sich dabei eindeutig um eine positive Verpflichtung im Hinblick auf die Mittel, nicht aber im Hinblick auf das Ergebnis. Das schließt ein, diesen Häftlingen die Existenz von Strafvollzugsregimen zu garantieren, die mit dem Ziel der Rehabilitierung vereinbar sind und die es ihnen erlauben, diesen Weg weiterzuverfolgen. [...]

(114) Der GH nimmt die Position der Regierung zur Kenntnis, wonach das Hindernis, das durch das Fehlen von »Kooperation mit der Justiz« bewirkt wird, nicht Ergebnis eines gesetzgeberischen Automatismus sei, der dem Bf. auf absolute Weise jede Aussicht auf Entlassung raubt, sondern vielmehr die Folge einer individuellen Wahl. [...]

(115) Der GH nimmt ebenfalls die Behauptung des Bf. zur Kenntnis, die Kooperation mit den Behörden würde für ihn oder seine nahen Angehörigen die Gefahr mit sich bringen, durch die Mafia Vergeltungsmaßnahmen unterworfen zu werden, und seiner tiefen Überzeugung zuwiderlaufen, unschuldig zu sein. Er kritisiert auch die instrumentelle Logik des Systems, das seine Möglichkeit für Hafturlaub vom Angebot seiner völligen Kooperation abhängig macht.

(116) Mag es auch zutreffen, dass das innerstaatliche Regime dem Verurteilten die Wahl bietet, mit der Justiz zu kooperieren oder nicht, so zweifelt der GH an der Freiheit der Wahl und auch an der Möglichkeit, eine Äquivalenz zwischen der mangelnden Kooperation und der gesellschaftlichen Gefährlichkeit des Bf. herzustellen.

(117) [...] Der GH stellt fest, dass [der Bf.] nur behauptet, entschieden zu haben, nicht mit der Justiz zu kooperieren, um nicht gegen seine innerste Überzeugung vorzugehen und um nicht Opfer gewalttätiger Reaktionen von der Seite seiner früheren Partner zu werden. [...]

(118) Der GH leitet daraus ab, dass die mangelnde Kooperation nicht immer mit einer freiwilligen Wahl verbunden ist und auch nicht alleine durch den Fortbestand der Anlehnung an »kriminelle Werte« und die Aufrechterhaltung von Verbindungen mit der betreffenden Gruppierung gerechtfertigt werden kann. [...]

(119) Zudem betont der GH [...] dass man realistischerweise mit der Situation konfrontiert werden könnte, dass der Verurteilte mit den Behörden kooperiert, ohne dass sein Verhalten eine Änderung seinerseits oder seine wirksame »Trennung« vom kriminellen Milieu widerspiegelt, und er mit dem alleinigen Ziel handelt, die vom Gesetz vorgesehenen Vergünstigungen zu erhalten.

(120) Er hält fest, dass wenn andere Umstände oder Überlegungen den Verurteilten dazu treiben können, seine Kooperation zu verweigern, oder wenn die Kooperation womöglich mit einer rein opportunistischen Zielsetzung vorgeschlagen werden kann, die unmittelbare Äquivalenz zwischen der fehlenden Kooperation und der unwiderlegbaren Vermutung der sozialen Gefährlichkeit nicht dem tatsächlichen Verlauf der Rehabilitierung des Bf. entspricht.

(121) Wenn die Kooperation mit den Behörden als der einzig mögliche Nachweis für die »Trennung« des Verurteilten und seine Änderung gesehen wird, werden andere Indizien nicht berücksichtigt, die es erlauben, die vom Häftling gemachten Fortschritte zu beurteilen. Tatsächlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die »Trennung« vom Mafia-Milieu anders zum Ausdruck kommen kann als durch die Kooperation mit der Justiz.

(122) [...] Das italienische Strafvollzugssystem bietet eine Reihe von stufenweisen Kontaktmöglichkeiten mit der Gesellschaft, die von Arbeit außerhalb der

Anstalt bis zur bedingten Entlassung reichen, einschließlich der Genehmigung von Hafturlaub und des offenen Vollzugs, die bezwecken, den Prozess der Resozialisierung des Häftlings zu fördern. Der Bf. hat jedoch von diesen stufenweisen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Rehabilitierung nicht profitiert.

(123) [...] Allerdings belegten die Beobachtungsberichte über den Bf. im Gefängnis [...] eine Entwicklung der Persönlichkeit des Betroffenen, die als positiv beurteilt wurde. [...] Auch der Beschluss des Strafvollzugsgerichts von L’Aquila [...] wies auf die positiven Ergebnisse des Verlaufs der Resozialisierung des Bf. hin.

(124) Weiters hält der GH fest, dass der Bf. zudem erklärt hat, nie Disziplinarsanktionen unterworfen worden zu sein, und dass ihm [...] aufgrund seiner Teilnahme am Rehabilitierungsprogramm eine etwa fünf Jahre frühere Entlassung zustünde. Mangels Kooperation von seiner Seite hätte er jedoch in der Praxis nicht von der Reduktion der Strafe profitieren können.

(127) Im vorliegenden Fall befindet der GH, dass das Fehlen von »Kooperation mit der Justiz« eine unwiderlegbare Vermutung von Gefährlichkeit festlegt, die bewirkt, dass der Bf. jeder realistischen Aussicht auf Entlassung beraubt wird. Dieser läuft Gefahr, sich niemals rehabilitieren zu können: Egal, was er im Gefängnis macht, seine Bestrafung bleibt unveränderlich, nicht überprüfbar und läuft auch Gefahr, sich mit der Zeit zu verstärken.

(128) Der GH betont, dass es dem Bf. unmöglich ist zu zeigen, dass seine Haft durch keinen legitimen Strafzweck mehr gerechtfertigt ist [...], da das geltende Regime [...] die Gefährlichkeit des Betroffenen in Wirklichkeit an dem Moment festmacht, zu dem die Delikte begangen worden sind, anstatt dem Verlauf der Rehabilitierung und eventuell seit der Verurteilung erreichten Fortschritten Rechnung zu tragen.

(129) Außerdem betont der GH, dass die genannte unwiderlegbare Vermutung den zuständigen Richter de facto hindert, den Antrag auf bedingte Entlassung zu prüfen und zu untersuchen, ob der Bf. sich während des Strafvollzugs derart entwickelt und solche Fortschritte bei der Rehabilitierung gemacht hat, dass seine Haft nicht weiter durch irgendwelche Strafzwecke gerechtfertigt ist. Das Einschreiten des Richters ist beschränkt auf die Feststellung der Nichtbeachtung der Bedingung der Kooperation, ohne dass er eine Beurteilung des individuellen Wegs des Häftlings und seiner Entwicklung auf dem Weg der Resozialisierung vornehmen kann. [...]

(130) Der GH anerkennt, dass die Delikte, wegen derer der Bf. verurteilt wurde, ein für die Gesellschaft besonders gefährliches Phänomen betreffen. Auch ist die Einführung von Art. 4bis das Ergebnis der Reform des Strafvollzugs von 1992. Diese Reform war von der Dringlichkeit der Lage gekennzeichnet, die den Gesetzgeber nach einer sehr einschneidenden Episode für Italien in einer besonders kritischen Situation zu einer Intervention veranlasste. Dennoch konnte der Kampf gegen dieses Übel kein Abweichen von der Bestimmung des Art. 3 EMRK rechtfertigen, der unmenschliche oder erniedrigende Strafen absolut verbietet. Die Natur der dem Bf. vorgeworfenen Delikte ist für die Prüfung der vorliegenden Beschwerde unter Art. 3 EMRK daher nicht relevant. Im Übrigen hat der GH bereits festgehalten, dass die Funktion der Resozialisierung letztendlich darauf abzielt, einen Rückfall zu vermeiden und die Gesellschaft zu schützen.

(131) Es ist daran zu erinnern, dass der GH in einem Fall, der sich auf die Dauer der Untersuchungshaft bezog und damit auf Art. 5 EMRK, den Grundsatz wiederholt hat, wonach »eine gesetzliche Vermutung von Gefährlichkeit gerechtfertigt sein kann, insbesondere wenn sie nicht absolut ist, sondern sie durch den Beweis des Gegenteils widerlegt werden kann« (Pantano/I). Diese Feststellung gilt angesichts von dessen absolutem Charakter umso mehr im Bereich von Art. 3 EMRK, der keine Ausnahme duldet.

Ergebnis

(137) [...] Der GH befindet, dass die dem Bf. unter Anwendung von Art. 4bis des Strafvollzugsgesetzes auferlegte lebenslange Freiheitsstrafe [...] dessen Aussicht auf Entlassung und die Möglichkeit der Überprüfung von dessen Strafe übermäßig beschränkt. Deshalb kann diese [...] Strafe nicht als reduzierbar iSd. Art. 3 EMRK angesehen werden. Der GH weist daher die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Opfereigenschaft des Bf. zurück (einstimmig) und k0mmt zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 3 EMRK [...] nicht respektiert wurden. [Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek)].

(138) Dennoch darf die Feststellung der Verletzung im vorliegenden Fall nicht dahingehend verstanden werden, als dass sie dem Bf. eine Aussicht auf sofortige Entlassung geben würde.

Anwendung von Art. 46 EMRK

(141) Der vorliegende Fall bringt ein strukturelles Problem zum Vorschein. Durch dieses sind vor dem GH zur Zeit einige Beschwerden anhängig. In Zukunft kann dadurch auch Anlass für die Erhebung zahlreicher weiterer Beschwerden [...] gegeben sein.

(143) Die unter Art. 3 EMRK festgestellte Verletzung indiziert, dass der Staat vorzugsweise durch eine gesetzgeberische Initiative eine Reform des Regimes der lebenslänglichen Freiheitsstrafe vorsieht, welche die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe garantiert. Das würde es den Behörden erlauben zu beurteilen, ob sich der Häftling im Zuge der Vollstreckung seiner Strafe derart entwickelt und solche Fortschritte bei der Rehabilitierung gemacht hat, dass kein legitimer Strafzweck mehr seine weitere Haft rechtfertigt. Dem Verurteilten würde es gestatten zu erkennen, was er tun muss, damit seine Freilassung ins Auge gefasst wird und welches die anwendbaren Bedingungen sind. Der GH befindet, dass auch wenn er zugesteht, dass der Staat den Nachweis der »Trennung« vom Mafia-Milieu beanspruchen kann, diese anders zum Ausdruck kommen kann als durch die Kooperation mit der Justiz und den aktuell in Geltung stehenden gesetzgeberischen Automatismus.

(144) Die Staaten genießen einen weiten Ermessensspielraum, um über die angemessene Dauer von Haftstrafen für bestimmte Straftaten zu entscheiden. Die einfache Tatsache, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Praxis in ihrer Gesamtheit verbüßt werden muss, bedeutet noch nicht ihre mangelnde Reduzierbarkeit. Folglich impliziert die Möglichkeit der Überprüfung der lebenslangen Freiheitsentziehung für den Verurteilten die Möglichkeit, eine Entlassung zu beantragen, aber nicht zwangsweise, seine Freilassung zu erhalten, wenn er immer noch eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 6.000,– für Kosten und Auslagen (jeweils 6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pantano/I v. 6.11.2003

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Vinter u.a./GB v. 9.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 241

Öcalan/TR (Nr. 2) v. 18.3.2014 = NLMR 2014, 109

Harakchiev und Tolumov/GB v. 8.7.2014

Murray/NL v. 26.4.2016 (GK) = NLMR 2016, 110

Hutchinson/GB v. 17.1.2017 (GK) = NLMR 2017, 7

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.6.2019, Bsw. 77633/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 197) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
6