JudikaturJustizBsw58675/00

Bsw58675/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. April 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Martinie gegen Frankreich, Urteil vom 12.4.2006, Bsw. 58675/00.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Verfahrensrechtliche Garantien für staatliche Buchhalter.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der fehlenden öffentlichen Verhandlung vor dem Cour des comptes (einstimmig). Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der fehlenden Fairness des Verfahrens vor dem Cour des comptes (14:3 Stimmen). Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der fehlenden Fairness des Verfahrens vor dem Conseil d'Etat (14:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil selbst eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (einstimmig). € 9.338,54 für immateriellen Schaden (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Staatsbeamter und war als Buchhalter im Lycée René Cassin in Bayonne tätig. Im Juni 1987 unterzeichneten Letzteres und der französische Verband für Basque Pelota (ein baskisches Ballspiel) eine Vereinbarung zur Errichtung eines nationalen Schul- und Trainingszentrums, das über das allgemeine Schulbudget finanziert wurde. Der Leiter des Gymnasiums wurde zum Geschäftsführer des Trainingszentrums bestellt, während der Bf. als Buchhalter fungierte. Ferner setzte der Schuldirektor für sich und den Bf. eine monatliche Zulage fest.

Im Zuge einer Überprüfung der vom Bf. für die Jahre 1989 bis 1993 übermittelten Abrechnungen kam die Landesrechnungskammer (chambre régionale des comptes) zu dem Ergebnis, dass der Bf. der Schule insgesamt mehr als FRF 221.000,– schulde. (Anm.: Gemäß Art. 60-I des Finanzgesetzes Nr. 63-156 vom 23.2.1963 haften staatliche Buchhalter gemäß den allgemeinen Regelungen über das öffentliche Rechnungswesen persönlich – also mit ihrem Vermögen – für die Richtigkeit der von ihnen getätigten Abrechnungen.) Dieser Betrag wäre von ihm in seiner Eigenschaft als staatlicher Buchhalter während des genannten Zeitraums ausgezahlt worden und habe unter anderem die Summen für monatliche Zulagen bzw. Urlaubsabgeltungen für sich und den Geschäftsführer des NST umfasst. Begründend wurde ausgeführt, dass der Vorstand der Schule diese Geldleistungen nicht genehmigt habe. Der Bf. wandte sich an den Rechnungshof (Cour des comptes), der das Urteil bestätigte und lediglich die Strafe herabsetzte. Ein an den Conseil d'Etat gerichtetes Rechtsmittel wurde am 22.10.1999 für unzulässig erklärt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, das Verfahren vor dem Rechnungshof bzw. dem Conseil d'Etat habe sein Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.

Zur Verfahrenseinrede der Regierung:

Die Regierung wendet ein, die vorliegende Beschwerde sei unzulässig ratione materiae, wobei sie sich auf das Urteil des GH im Fall Pellegrin/F beruft.

Es stellt sich die Frage, ob der vorliegende Fall eine Streitigkeit über eine zivilrechtliche Verpflichtung des Bf. iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK betrifft.

Der GH kam im Fall Pellegrin/F zu dem Ergebnis, dass vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK lediglich Streitigkeiten in Bezug auf jene Beamten ausgenommen seien, deren Pflichten für die besonderen Tätigkeiten des öffentlichen Dienstes insoweit typisch seien, als Letzterer als Beauftragter der öffentlichen Gewalt auftrete und für den Schutz der allgemeinen Interessen des Staates oder anderer staatlicher Behörden verantwortlich sei. Im vorliegenden Fall war der Bf. in seiner Eigenschaft als staatlicher Buchhalter für das Rechnungswesen einer höheren Schule sowie des Trainingszentrums verantwortlich. Weder der Beschaffenheit seiner Pflichten noch der mit ihnen verbundenen Verantwortung nach lässt sich entnehmen, dass er an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Pflichten zum Schutz der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften partizipierte. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der gegenständliche Streit zwischen dem Bf. und seinem Dienstgeber unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt. Der Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum der Richterinnen Tulkens und Fura-Sandström und von Richter Maruste).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

1. Zum Verfahren vor dem Rechnungshof:

a) Fehlende öffentliche Verhandlung:

Der Bf. rügt, vom Termin der vor dem Rechnungshof unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Verhandlung nicht in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Es sei weder eine Vorladung zur Verhandlung erfolgt noch sei ihm die Abgabe einer Stellungnahme gestattet worden. Die Regierung bringt vor, das Verfahren vor dem Rechnungshof sei kontradiktorischer Natur und würde dem Schutz der Interessen von Buchhaltern ausreichend Rechnung tragen. Der Bf. habe auch zu keiner Zeit die öffentliche Anhörung seines Falls begehrt. Das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung vor dem Rechnungshof verstoße auch deswegen nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil die Überprüfung der ordnungsgemäßen Widmung öffentlicher Gelder ausschließlich Fragen technischer Natur beträfe.

Der GH hat unter anderem im Fall Miller/S festgestellt, dass die Gerichte in besonderen Fällen von einer öffentlichen Verhandlung absehen können. Ausschlaggebend hierfür sei die Beschaffenheit einer Beschwerdesache. So hat der GH etwa bei Sozialversicherungsfällen, die überwiegend technische Fragen betrafen, festgestellt, dass Streitigkeiten darüber besser in einem schriftlichem Verfahren abgehandelt werden können.

Die Situation ist eine andere, wenn „Zivilverfahren" in erster Instanz und gegebenenfalls im Rechtsmittelweg unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden. Wenn einem Kläger eine öffentliche Verhandlung ungeachtet der Tatsache verwehrt wird, dass seine Sache besondere Charakteristiken aufweist, wird ein derartiges Verfahren schwerlich mit Art. 6 Abs. 1 EMRK in Einklang zu bringen sein, außer es liegen besondere Umstände vor. In jedem Fall aber muss der Kläger zumindest über die Möglichkeit verfügen, eine öffentliche Verhandlung zu beantragen, mag das Verfahren dann auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen.

Im vorliegenden Fall sah das französische Recht weder im Verfahren vor der Landesrechnungskammer noch in jenem vor dem Rechnungshof die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vor. Damit geht auch der Einwand der Regierung ins Leere, der Bf. hätte eine solche ja beim Rechnungshof beantragen können. Der GH zweifelt nicht daran, dass die Prüfung von durch staatliche Buchhalter jährlich abgelieferten Abrechnungen hochtechnische Fragen betrifft, die besser in einem schriftlichen Verfahren abgewickelt werden können. So lange das Verfahren auf die Kontrolle von Abrechnungen beschränkt ist, verbietet Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht dessen Durchführung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sollte allerdings die Rechnungsprüfung seitens einer erstinstanzlichen Behörde einen ungerechtfertigten „Überschuss" bei Abrechnungen eines staatlichen Buchhalters ergeben, für den er persönlich einzustehen hat, so hat eine solche Feststellung unmittelbare Auswirkungen auf seine finanzielle Position. Es ist daher durchaus verständlich, wenn der Betroffene es als eine Art Vorbedingung für den Schutz seiner Rechte ansieht, dass die Überprüfung der von ihm getätigten Abrechnungen zumindest in zweiter Instanz im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung erfolgt. In einem solchen Fall vermag die technische Natur eines Verfahrens nicht automatisch den Ausschluss der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Da die Verfahren vor der Landesrechnungskammer unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen, ist es wesentlich, dass staatliche Buchhalter eine öffentliche Verhandlung vor dem Rechnungshof beantragen können. Da dies nicht der Fall war, liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

b) Fairness des Verfahrens:

Der Bf. rügt, dass im Verfahren vor dem Rechnungshof weder ihm noch seinem Anwalt die Stellungnahme des berichterstattenden Richters übermittelt worden sei, dem Generalanwalt jedoch schon. Ferner habe der berichterstattende Richter an den Beratungen der Richterbank teilgenommen.

Die Übermittlung der Stellungnahme des berichterstattenden Richters an den Generalanwalt – und nicht an den Bf. – ist insofern problematisch, als darin seine Rechtsansicht über die materiell-rechtlichen Gesichtspunkte wiedergegeben ist, die auch auf die Frage der Rückzahlung der geschuldeten Beiträge Bezug nimmt. Dazu kommt, dass Buchhalter von der Verhandlung ausgeschlossen sind und daher keine Gelegenheit haben, sich zur Meinung des berichterstattenden Richters zu äußern.

Die Anwesenheit des berichterstattenden Richters bei den Beratungen ist als solche legitim und gerechtfertigt, da er ein Mitglied der Richterbank ist, die über das Rechtsmittel befindet. Im vorliegenden Fall stellt sich vielmehr die Frage, ob die Tatsache, dass der berichterstattende Richter vor der Teilnahme an den Beratungen des Rechnungshofs seine Rechtsansicht über die materiell-rechtlichen Gesichtspunkte des Falles bereits mündlich gegenüber dem Generalanwalt äußern konnte, ein Problem unter Art. 6 Abs. 1 EMRK aufwirft.

Im vorliegenden Fall ist ein Ungleichgewicht zu Ungunsten von staatlichen Buchhaltern mit Rücksicht auf die Stellung des Generalanwalts im Verfahren festzustellen. Im Gegensatz zu einem Buchhalter ist dieser nämlich beim Verfahren anwesend, ist im Vorhinein über die Rechtsansicht des berichterstattenden Richters informiert und vernimmt sowohl dessen Darlegungen als auch jene des Gegenberichterstatters, nimmt voll am Verfahren teil und vermag seinen eigenen Standpunkt mündlich und ohne Widerspruch seitens des Buchhalters darzulegen.

In dieser Hinsicht ist es irrelevant, ob der Generalanwalt als Verfahrenspartei betrachtet wird oder nicht, da er aus den erläuterten Gründen angesichts der ihm aufgrund seiner Funktionen übertragenen Befugnisse in der Lage ist, die Entscheidung der Richterbank in einer für den Buchhalter nachteiligen Weise zu beeinflussen. Nach Ansicht des GH wird dieses Ungleichgewicht angesichts der Durchführung einer Verhandlung in Abwesenheit sowohl des betroffenen Buchhalters als auch der Öffentlichkeit besonders herausgestrichen. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (14:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa, Caflish und Jungwiert).

2. Zum Verfahren vor dem Conseil d'Etat:

Der Bf. rügt die Teilnahme des Regierungskommissars (Commissaire du Gouvernement) an den Beratungen des Conseil d'Etat. Er beruft sich auf das Urteil des GH im Fall Kress/F, der diesen Umstand als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wertete.

Der GH sieht keinen Anlass, von seiner in den Fällen Kress/F, Borgers/B, Vermeulen/B, Lobo Machado/P und Slimane-Kaïd/F zur verfahrensrechtlichen Stellung von Generalanwälten dargelegten Rechtsansicht abzugehen. Er hat in all diesen Fällen festgestellt, dass nicht nur die Teilnahme (in beratender Funktion), sondern auch die bloße Anwesenheit von Generalanwälten bei den Beratungen der Höchstgerichte den Grundsatz der Waffengleichheit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verletze.

Die Anwesenheit des Regierungskommissars bei den Beratungen des Conseil d'Etat stellt folglich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK dar (14:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa, Caflish und Jungwiert).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil

selbst eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (einstimmig). €

9.338,54 für immateriellen Schaden (15:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Borgers/B v. 30.10.1991, A/214-B, EuGRZ 1991, 519.

Lobo Machado/B v. 20.2.1996, NL 1996, 42.

Vermeulen/B v. 20.2.1996, NL 1996, 42; ÖJZ 1996, 673. Reinhardt und Slimane-Kaïd/F v. 31.3.1998, ÖJZ 1999, 151. Pellegrin/F v. 8.12.1999, NL 2000, 13; ÖJZ 2000, 695. Kress/F v. 7.6.2001, NL 2001, 115.

Slimane-Kaïd/F (Nr. 2) v. 27.11.2003.

Miller/S v. 8.2.2005.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.4.2006, Bsw. 58675/00, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 87) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_2/Martinie.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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