JudikaturJustizBsw31039/11

Bsw31039/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. März 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Novruk u.a. gg. Russland, Urteil vom 15.3.2016, Bsw. 31039/11.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 34 EMRK, Art. 46 EMRK - Ausweisung wegen HIV-Infektion.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden; € 2.000,– an Herrn Novruk, € 4.000,– an Frau Kravchenko, € 4.320,– an Herrn Khalupa, € 850,– an Frau Ostrovskaya und € 850,– an Herrn V. V. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Dieses Urteil betrifft fünf Beschwerden von Personen, die nicht die russische Staatsbürgerschaft besitzen und wegen ihrer HIV-Infektion Russland verlassen mussten.

Herr Novruk lebte seit 2005 in Russland. Er war von 2005 bis 2008 mit einer russischen Staatsbürgerin verheiratet, mit der er einen Sohn hat. Im April 2010 heiratete er eine weitere Staatsangehörige Russlands. Im Juni 2010 beantragte er eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die jedoch unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Z. 13 Ausländergesetz verweigert wurde, wonach Fremde nachweisen müssen, nicht HIV-positiv zu sein. Diese Entscheidung wurde von den Gerichten bestätigt.

Die Bf. Anna Kravchenko heiratete 2003 einen russischen Staatsbürger, mit dem sie in Moskau zusammenlebte. Im April 2003 kam ihr Sohn zur Welt, der ebenfalls die russische Staatsbürgerschaft besitzt. Im Mai 2009 wurde ihr Antrag auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis unter Verweis auf § 7 Abs. 1 Z. 13 Ausländergesetz abgewiesen und sie aufgefordert, Russland zu verlassen. Das BG Zamoskvoretskiy behob diese Entscheidung und trug der Ausländerbehörde auf, den Antrag erneut zu prüfen. Der Antrag der Bf. wurde jedoch wieder mit derselben Begründung abgewiesen. Das von der Bf. angerufene BG Zamoskvoretskiy setzte die Ausweisung vorläufig aus und trug der Behörde auf, die Entscheidung zu überdenken. Die Bf. bekämpfte diese Entscheidung beim Stadtgericht Moskau, weil das BG ihrer Ansicht nach die Entscheidung der Behörde für rechtswidrig erklären hätte müssen. Das Stadtgericht wies ihre Berufung ab.

Der Bf. Roman Khalupa lebte mit seiner russischen Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern in St. Petersburg. Als er sich 2008 einem HIV-Test unterzog, um einen Aufenthaltstitel beantragen zu können, wurde seine HIV-Infektion festgestellt. Das Krankenhaus übermittelte das Resultat an die Ausländerbehörde, die am 4.6.2008 eine Entscheidung erließ, wonach der Aufenthalt des Bf. in Russland unerwünscht sei, weil er eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstelle. Ein Antrag an die Behörde auf Überprüfung dieser Entscheidung blieb ebenso erfolglos wie ihre gerichtliche Überprüfung.

Die Bf. Irina Ostrovskaya zog im September aus Usbekistan zu ihrem Sohn und zu ihrer Schwester nach Russland. Ihr Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis wurde abgewiesen, weil sie HIV-positiv war. Im Juni 2012 wurde sie aufgefordert, das Land zu verlassen. Die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung brachte nicht den erhofften Erfolg.

Der aus Kasachstan stammende Bf. V. V. kam 2006 zu Studienzwecken nach Russland, wo er seit November 2007 mit seinem Lebenspartner X. zusammenlebt, der ihn auch im vorliegenden Verfahren vertritt. Sein Antrag auf einen Aufenthaltstitel wurde wegen seiner HIV-Infektion abgewiesen. Diese Entscheidung wurde vom BG Yekaterinburg mit der Begründung bestätigt, er würde eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen. Das Zusammenleben mit Herrn X. würde kein Familienleben begründen. Das Berufungsgericht Sverdlovsk behob diese Entscheidung am 21.11.2012. Unter Verweis auf das Urteil des EGMR im Fall Kiyutin/RUS stellte es fest, dass die HIV-Infektion für sich kein Grund für eine Einschränkung seiner Rechte sein könne. Das Gericht verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung zurück. Am 15.3.2013 erklärte die Konsumentenschutzbehörde die Anwesenheit von V. V. in Russland für unerwünscht. Im April 2013 wurde ihm bei der Rückkehr von einer Reise nach Kasachstan die Einreise verweigert. Das Berufungsgericht Sverdlovsk wies die gegen die Entscheidung der Konsumentenschutzbehörde gerichtete Beschwerde ab. Eine Kassationsbeschwerde wurde nicht für zulässig erklärt. Eine Berufung an den Obersten Gerichtshof wurde von diesem als unzulässig zurückgewiesen. Nach Zustellung der vorliegenden Beschwerde an die russische Regierung wurde Herr X. von der lokalen Staatsanwaltschaft (für die er früher selbst gearbeitet hatte) zu seiner Beziehung zu V. V. und zu dessen Aufenthalt in Russland befragt.

Das russische Verfassungsgericht stellte am 12.3.2015 fest, dass § 7 Abs. 1 Z. 13 Ausländergesetz sowie weitere Bestimmungen insofern mit der russischen Verfassung unvereinbar seien, als sie die Ausweisung bzw. Verweigerung der Einreise von Personen, deren Familie dauerhaft in Russland niedergelassen ist, nur aufgrund ihrer HIV-Infektion gestatteten. Das Verfassungsgericht forderte den Gesetzgeber auf, die notwendigen Änderungen vorzunehmen. Daraufhin wurde im August 2015 ein Entwurf im Parlament eingebracht, mit dem die betroffenen Gesetze an das Urteil des Verfassungsgerichts angepasst werden sollen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

Verbindung der Beschwerden

(68) Angesichts ihres ähnlichen faktischen und rechtlichen Hintergrunds beschließt der GH, die fünf Beschwerden [...] zu verbinden (einstimmig).

Zulässigkeit

(69) Die Bf. brachten vor, die unterschiedliche Behandlung, der sie wegen ihres Gesundheitszustands unterzogen wurden, stelle eine Diskriminierung iSv. Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK dar. [...]

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(70) Die Regierung brachte vor, die Bf. Khalupa und Ostrovskaya hätten die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft, weil sie erst nach Ablauf der dafür gesetzlich vorgesehenen Frist von drei Monaten Beschwerden gegen die Entscheidungen erhoben hatten, mit denen ihre Anwesenheit in Russland für unerwünscht erklärt worden war. Weiters hat ihrer Ansicht nach V. V. die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft, weil er es verabsäumt hätte, eine Kassationsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof zu erheben oder eine Aufsichtsprüfung durch das Präsidium dieses Gerichts zu beantragen.

(73) Herr Khalupa und Frau Ostrovskaya bekämpften beide die Entscheidung, mit der ihre Anwesenheit in Russland für unerwünscht erklärt wurde. Die Gerichte nahmen ihre Beschwerden an und behandelten die aufgeworfenen Fragen in der Sache [...]. Da die innerstaatlichen Instanzen [...] in der Sache über die nun an den GH herangetragenen Fragen entschieden, kann nicht behauptet werden [...], dass die Bf. die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft hätten.

(74) Wie der GH kürzlich festgestellt hat, ist die neue Kassationsbeschwerde in Folge der am 1.1.2012 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen des russischen Zivilprozesses nicht länger mit der zuvor bestehenden Unsicherheit behaftet. Jede Person, die eine Beschwerde wegen einer Verletzung ihrer Konventionsrechte erheben will, muss daher zuerst die vom neuen Kassationsverfahren gebotenen Rechtsmittel ausschöpfen, einschließlich einer zweiten Kassationsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof. [...]

(75) Es wird jedoch festgestellt, dass die Angelegenheit der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe in der Regel in Bezug auf das Datum entschieden wird, an dem die Beschwerde an den GH erhoben wurde. [...]

(76) Der Bf. V. V. erhob seine Beschwerde an den GH am 10.2.2014, also innerhalb von sechs Monaten ab dem Urteil, mit dem das Berufungsgericht seinen Anspruch abgewiesen hatte. Parallel zum Verfahren vor dem GH verfolgte er den innerstaatlichen Instanzenzug weiter und gab den Gerichten weitere Gelegenheiten, seine Beschwerden zu behandeln, indem er sowohl an das Berufungsgericht als auch an den Obersten Gerichtshof Kassationsbeschwerden richtete, obwohl er dazu nicht verpflichtet war, bevor der GH das reformierte Kassationsverfahren als effektiven Rechtsbehelf anerkannt hatte. Was die Aufsichtsbeschwerde betrifft, deren Anwendung vom Ermessen staatlicher Organe abhängt, war – und ist – diese kein effektiver Rechtsbehelf iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK. Der GH verwirft daher die Einrede der Regierung auch hinsichtlich der behaupteten Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Fall von Herrn V. V.

Opfereigenschaft von Frau Kravchenko

(77) Die Regierung behauptete, dass Frau Kravchenko keine Beeinträchtigung ihrer Rechte erlitten habe, weil die innerstaatlichen Gerichte zu ihren Gunsten entschieden hätten.

(79) Wie der GH feststellt, beschwerte sich Frau Kravchenko über die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis wegen ihres Gesundheitszustands. Obwohl das Bezirksgericht am 23.9.2009 zu ihren Gunsten entschied und der Einwanderungsbehörde eine neue Prüfung ihres Antrags [...] auftrug, wurde ihr neuer Antrag aus denselben Gründen wie zuvor abgewiesen. Das Stadtgericht wies ihre folgende Beschwerde ab [...]. Folglich war die Situation von Frau Kravchenko hinsichtlich ihres Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis nicht anders als vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens. Daraus folgt, dass sie nach wie vor behaupten kann, »Opfer« der behaupteten Verletzung zu sein.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit

(80) Diese Beschwerdepunkte sind nach Ansicht des GH nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Fallen die Tatsachen des Falls in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK?

(83) [...] Obwohl Art. 8 EMRK kein Recht enthält, sich in einem bestimmten Land niederzulassen oder eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, muss der Staat seine Einwanderungspolitik in einer Art und Weise ausüben, die mit den Menschenrechten eines Ausländers, insbesondere dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und dem Recht, nicht diskriminiert zu werden, vereinbar sind.

(84) [...] Für die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK ist es notwendig und ausreichend, dass die Tatsachen des Falls »in den Anwendungsbereich« eines oder mehrerer der Artikel der Konvention und ihrer Protokolle fallen.

(86) Wie der GH feststellt, waren die Bf. Novruk, Kravchenko und Khalupa alle rechtmäßig mit ihren russischen Ehepartnern bzw. Ehepartnerinnen verheiratet. In ihren Ehen geborene Kinder [...] erhielten mit der Geburt die russische Staatsbürgerschaft. Das Konzept des »Familienlebens« muss zumindest Beziehungen einschließen, die sich aus einer rechtmäßigen und echten Eheschließung ergeben, und in einer Beziehung geborene Kinder sind ipso iure Teil der Familieneinheit [...]. Der GH stellt fest, dass diese Bf. »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK genossen.

(87) Der Bf. V. V. gab an, seit 2007 mit seinem Partner X. zusammengelebt zu haben. [...] Der GH ist davon überzeugt, dass V. V. und Herr X. in einer stabilen de facto-Partnerschaft gelebt haben, die unter den Begriff des »Privatlebens« und des »Familienlebens« fällt.

(88) Die Bf. Ostrovskaya übersiedelte nach Russland, um sich ihrer erweiterten Familie anzuschließen. [...] Die Verbindung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern fällt unter das »Privatleben« iSv. Art. 8 EMRK. [...]

(89) Dementsprechend fallen die Tatsachen des Falls »in den Anwendungsbereich« von Art. 8 EMRK.

War die Gesundheit der Bf. vom Begriff »sonstiger Status« iSv. Art. 14 EMRK umfasst?

(90) Art. 14 EMRK verbietet nicht jede unterschiedliche Behandlung, sondern nur eine solche, die auf einem bestimmten objektiven oder persönlichen Merkmal oder »Status« beruht. [...]

(91) Der GH hat festgestellt, dass eine Unterscheidung aufgrund der Gesundheit einer Person, einschließlich solcher Zustände wie einer HIV-Infektion – entweder als Behinderung oder als eine Form davon – als vom Begriff »sonstiger Status« iSv. Art. 14 EMRK umfasst sein sollte. Die Parteien haben im vorliegenden Fall nichts Gegenteiliges vorgebracht.

(92) Daraus folgt, dass Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist.

Vereinbarkeit mit Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

(95) Wie der GH in seiner Rechtsprechung festgestellt hat, bedeutet Diskriminierung eine unterschiedliche Behandlung von Personen in vergleichbaren Situationen ohne sachliche und vernünftige Rechtfertigung.

(96) [...] Da die Behörden auf keine andere Vorschrift verwiesen, als sie ihnen Aufenthaltstitel verweigerten oder ihre Anwesenheit für unerwünscht erklärten, war der Status der Bf. als HIV-positive Person das einzige Element, das sie einer Behandlung aussetzte, die sich von der Behandlung HIV-negativer Ausländer unterschied.

(97) Die Bf. können daher behaupten, sich in einer Situation zu befinden, die mit jener anderer Fremder, die HIV-negativ sind, vergleichbar ist.

(98) Sobald ein Bf. eine unterschiedliche Behandlung aufgezeigt hat, ist es Sache der belangten Regierung zu zeigen, dass diese unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt werden kann. Eine solche Rechtfertigung muss sowohl sachlich als auch vernünftig sein, oder in anderen Worten ein legitimes Ziel verfolgen und es muss ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel bestehen. Die Vertragsstaaten genießen bei der Einschätzung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede bei ansonsten ähnlichen Situationen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, einen Ermessensspielraum. Der Umfang dieses Spielraums hängt von den Umständen, dem Gegenstand und dem Hintergrund ab.

(99) Das Bestehen eines europäischen Konsenses ist eine zusätzliche Überlegung bei der Bestimmung, ob dem belangten Staat ein enger oder ein weiter Ermessensspielraum zugestanden werden soll. [...]

(100) Wenn eine Einschränkung von Grundrechten auf eine besonders verwundbare gesellschaftliche Gruppe anwendbar ist, die in der Vergangenheit erhebliche Diskriminierung erlitten hat, ist der Spielraum des Staates deutlich enger und er muss sehr gewichtige Gründe für die fraglichen Einschränkungen haben. [...] Der GH hat bereits festgestellt, dass Personen, die mit HIV leben, eine verletzliche Gruppe sind und dass dem Staat nur ein enger Ermessensspielraum einzuräumen ist, wenn er Maßnahmen ergreift, die diese Gruppe für eine unterschiedliche Behandlung wegen ihres Gesundheitszustands herausgreift.

(101) Der GH bemerkt eine deutliche Verbesserung der Situation von Personen, die mit HIV leben, in Hinblick auf Einschränkungen bei Einreise, Aufenthalt und Niederlassung in einem fremden Land. [...] Derzeit ist Russland der einzige Mitgliedstaat des Europarats und einer von 16 Staaten weltweit, die Abschiebungen von HIV-positiven Ausländern durchführen. Da die Ausweisung von HIV-positiven Personen keinen europäischen Konsens widerspiegelt und in anderen Mitgliedstaaten keine Unterstützung erfährt, ist der belangte Staat verpflichtet, eine besonders zwingende Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung vorzulegen, deren Opfer die Bf. zu sein behaupten.

(102) In Kiyutin/RUS stellte der GH fest, dass Einschränkungen der Aufenthaltsrechte von HIV-positiven Fremden zwar das legitime Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verfolgen, jedoch international anerkannte Experten und Organisationen, die auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit aktiv sind [...], einhellig der Ansicht sind, dass Einschränkungen von Einreise, Aufenthalt und Niederlassung von Personen, die mit HIV leben, nicht mit dem Verweis auf die öffentliche Gesundheit gerechtfertigt werden können.

(103) Zugegebenermaßen sind Reisebeschränkungen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit vor hoch ansteckenden Krankheiten dienlich, die durch flüchtigen Kontakt oder über die Luft übertragen werden können. Das Beispiel von Einschränkungen im Zusammenhang mit Tuberkulose [...] ist hier besonders treffend. [...]

(104) Im Gegensatz zu Tuberkulose stellt die Anwesenheit einer HIV-positiven Person in einem Land, sei es kurzfristig oder für eine ausgedehntere Zeitspanne, für sich keine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit dar: HIV wird nicht durch beiläufigen Kontakt oder über die Luft übertragen, sondern vielmehr durch spezielle Verhaltensweisen wie ungeschützten Geschlechtsverkehr oder das gemeinsame Benützen von kontaminierten Spritzen [...].

(105) Die eingeschränkten Wege, auf denen HIV übertragen werden kann, stellen die Prävention nicht in die ausschließliche Kontrolle der HIV-positiven Person, sondern ermöglicht es HIV-negativen Personen, Schritte zu setzen, um sich selbst durch sichere sexuelle Beziehungen und sichere Injektionen vor der Infektion zu schützen. HIV-positive Fremde von der Einreise oder dem Aufenthalt auszuschließen, um die Übertragung von HIV zu vermeiden, beruht auf der Annahme, dass sie spezifischen unsicheren Verhaltensweisen nachgehen werden, und dass die oder der Staatsangehörige es verabsäumen wird, sich zu schützen. Diese Annahme bedeutet eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung, die keine Tatsachengrundlage hat und die spezielle Situation der betroffenen Person außer Acht lässt.

(108) Der GH betont, dass einer Entscheidung, die geeignet ist, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Person zu beschneiden, eine individuelle gerichtliche Einschätzung aller relevanten Tatsachen vorangehen muss. Wenn eine solche Entscheidung auf einer vorgegebenen Klassifizierung einer ganzen Gruppe verletzlicher Personen als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit alleine wegen ihres Gesundheitszustands beruht, kann sie nicht als mit dem in Art. 14 EMRK enthaltenen Schutz vor Diskriminierung vereinbar angesehen werden. Wie der GH in Kiyutin/RUS feststellte, sind die umstrittenen Bestimmungen des russischen Rechts [...] zwingender Art, da sie keinen Raum für eine individuelle Einschätzung anhand der Tatsachen eines Einzelfalls lassen. In den Fällen von Herrn Novruk und Frau Ostrovskaya wiesen die Gerichte wie in Kiyutin/RUS ihre Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis einzig mit einem Verweis auf das Ausländergesetz ab, ohne ihre Bindungen zu Familienmitgliedern in Russland zu berücksichtigen. Herr Khalupa konnte aus rein formalen Gründen keine neue Einschätzung der Konventionskonformität der Ausweisungsentscheidungen erhalten. [...]

(109) In den Fällen [von Frau Kravchenko und Herrn V. V.] gründeten die Verwaltungsbehörden ihre neuen Entscheidungen einzig auf die anwendbaren rechtlichen Bestimmungen, ohne die familiäre Situation der Bf. zu erwähnen oder individuell zu prüfen. Nach Ansicht des GH zeigen diese Elemente das Fehlen eines wirklichen Willens, über einen formalistischen Zugang hinauszugehen und eine ehrliche Abwägung unter gebührender Berücksichtigung der Position des russischen Verfassungsgerichts und den Anforderungen der Konvention vorzunehmen.

(110) Schließlich muss bedacht werden, dass die Entscheidungen, mit denen die Anwesenheit von Herrn Khalupa, Frau Ostrovskaya und Herrn V. V. in Russland für unerwünscht erklärt wurde, ihren Ausschluss vom russischen Staatsgebiet nicht befristeten. Da sie im Zusammenhang mit ihrer Infektion mit HIV ergingen, was nach heutigem medizinischem Standard ein lebenslanger Zustand ist, bewirken sie nach dem geltenden Recht ein dauerhaftes Verbot ihrer Wiedereinreise nach Russland. Der GH erinnert daran, dass die Verhängung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots eine überaus drastische Maßnahme ist, die er in vielen früheren Fällen als unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel erachtet hat. Unter diesen Umständen war die unbeschränkte Gültigkeit der gegen die drei Bf. ergangenen Entscheidungen über ihre Unerwünschtheit ein Faktor, der Teil der Einschätzung der innerstaatlichen Behörden hätte sein müssen. Die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und die Urteile der russischen Gerichte sagen jedoch nichts zu dieser Angelegenheit.

(111) In Summe stellt der GH angesichts des überwältigenden auf die Abschaffung der verbleibenden Einschränkungen von Einreise, Aufenthalt und Niederlassung HIV-positiver Ausländer, die eine besonders verletzliche Gruppe darstellen, abzielenden europäischen und internationalen Konsenses fest, dass die belangte Regierung keine zwingenden Gründe oder irgendeine objektive Rechtfertigung für deren unterschiedliche Behandlung aus Gesundheitsgründen vorgebracht hat.

(112) Die Bf. wurden daher Opfer einer Diskriminierung wegen ihrer Gesundheit, was eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK begründet (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK

(113) Der Bf. V. V. brachte vor, [...] die Vorladung seines Partners zu einer Befragung durch die Staatsanwaltschaft begründe eine Hinderung an der Ausübung seines Rechts auf Individualbeschwerde [...].

(115) Es ist von höchster Bedeutung für das effektive Funktionieren des Systems der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK, dass (potentielle) Bf. frei mit dem GH kommunizieren können, ohne irgendeiner Form von Druck seitens der Behörden ausgesetzt zu werden, ihre Beschwerde zurückzuziehen oder zu ändern. »Druck« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur direkten Zwang und offenkundige Einschüchterungen, sondern auch unangemessene indirekte Handlungen oder Kontakte [...]. Selbst eine informelle Befragung des Bf. oder seines Vertreters und erst recht seine förmliche Befragung hinsichtlich des Verfahrens vor dem GH kann als Form der Einschüchterung angesehen werden.

(116) Allerdings kann nicht jeder Kontakt zwischen Behörden und dem Bf. im Zusammenhang mit einer vor dem GH anhängigen Beschwerde als »Einschüchterung« angesehen werden. Art. 34 EMRK hindert den Staat nicht daran, Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation des Bf. zu verbessern oder das Problem zu untersuchen, das der Beschwerde an den GH zu Grunde liegt. [...]

(117) Im vorliegenden Fall kontaktierten die russischen Behörden den Vertreter von V. V. und luden ihn zu einer Befragung in einem lokalen Büro der Staatsanwaltschaft. [...] Die Befragung berührte die familiäre Situation des Bf., seine Ausbildung, Beschäftigung und seinen Aufenthaltsstatus. Einige der Fragen waren persönlicher Natur, Herr X. scheint sich jedoch nicht gezwungen gefühlt zu haben, zu antworten, da er sich beispielsweise entschied, keine Details seines Privatlebens preiszugeben. Als früherer Bediensteter derselben Staatsanwaltschaft und Jurist war Herr X. in der Lage, den Unterschied zwischen einer förmlichen Vernehmung und dem stattfindenden, der Tatsachenerhebung dienenden Gespräch zu erkennen. [...] Der GH ist daher überzeugt, dass sich die Befragung auf die Pflicht des Staatsanwalts bezog, Informationen über die Beschwerde des Bf. zum Zweck der Stellungnahme der Regierung an den GH zu sammeln, und dass kein Druck auf den Vertreter des Bf. ausgeübt wurde. Die von der Polizei und der Einwanderungsbehörde durchgeführten Befragungen dienten demselben Zweck und lassen keine Hinweise auf eine Einschüchterung erkennen.

(118) Den Behörden des belangten Staates kann somit nicht vorgeworfen werden, den Bf. V. V. an der Ausübung seines Individualbeschwerderechts gehindert zu haben. Der belangte Staat hat folglich seine Verpflichtungen nach Art. 34 EMRK nicht verletzt (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden; € 2.000,– an Herrn Novruk, € 4.000,– an Frau Kravchenko, € 4.320,– an Herrn Khalupa, € 850,– an Frau Ostrovskaya und € 850,– an Herrn V. V. für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 46 EMRK

(132) Die vom vorliegenden Fall aufgeworfene Angelegenheit betrifft die Einreise- und Aufenthaltsrechte HIV-positiver Personen, die nicht die russische Staatsbürgerschaft besitzen. In den vergangenen Jahren führte die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung in den Staaten der ehemaligen UdSSR zu großen Migrationsströmen Richtung Russland. [...] Die russischen Behörden haben große Anstrengungen unternommen, um Einwanderer auf übertragbare Krankheiten zu testen, was es ihnen erlaubt hat, tausende HIV-positive Fremde zu identifizieren und ihre Anwesenheit in Russland aus Gesundheitsgründen für unerwünscht zu erklären. Jene, die diese diskriminierenden Entscheidungen erfolglos vor den russischen Gerichten angefochten haben, könnten sich letztendlich an den GH wenden. [...] Der GH stellt daher fest, dass die auf der mangelhaften Gesetzgebung beruhenden Handlungen ein strukturelles Problem darstellen, das Anlass für weitere wiederholte Beschwerden geben kann.

(133) Wie der GH feststellt, sind in der Zeit seit der Zustellung der vorliegenden Beschwerde wichtige rechtliche Entwicklungen auf der innerstaatlichen Ebene erfolgt. Das Urteil des russischen Verfassungsgerichts vom 12.3.2015 stellte für den Schutz der Rechte von mit HIV lebenden Menschen einen großen Schritt vorwärts dar. [...] Der GH bemerkt, dass bereits ein Gesetzesentwurf zur Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts vorbereitet und dem russischen Parlament übermittelt wurde.

(134) Der GH ist darüber besorgt, dass der Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Gesetzesentwurfs auf jene Fremden beschränkt ist, die in Russland dauerhaft niedergelassene Ehegatten, Eltern oder Kinder haben. Die vorgeschlagene Änderung wird daher Personen in der Situation des Bf. V. V. nicht betreffen. Es ist außerdem nicht klar, ob das Gesetz rückwirkend anwendbar sein und damit Personen, die wie Herr Khalupa ausgewiesen wurden, eine neue Beurteilung der Gründe für ihre Ausweisung einräumen würde. Allerdings ist die Reform gerade in Gang und es ist nicht Sache des GH darüber zu spekulieren, welche endgültige Form der vorgeschlagene Entwurf annehmen wird. Ausgehend von der Annahme, dass die oben gegebenen Hinweise helfen werden, die angemessene Durchführung des vorliegenden Urteils unter der Überwachung durch das Ministerkomitee sicherzustellen, wird der GH daher derzeit davon Abstand nehmen, allgemeine Maßnahmen zu formulieren. [...]

(135) Sollten sich die Bemühungen der Regierung, das zu Grunde liegende Problem zu lösen, oder die in Aussicht genommene Reform als unzureichend erweisen, kann der GH die Notwendigkeit, das Piloturteilsverfahren auf diese Art von Fällen anzuwenden, neu beurteilen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Abdulaziz, Cabales und Balkandali/GB v. 28.5.1985 = EuGRZ 1985, 567

Nolan und K./RUS v. 12.2.2009

Glor/CH v. 30.4.2009 = NL 2009, 111

G. N. u.a./I v. 1.12.2009 = NL 2009, 342

Kiyutin/RUS v. 10.3.2011 = NL 2011, 75

I. B./GR v. 3.10.2013 = NLMR 2013, 334

Vallianatos u.a./GR v. 7.11.2013 (GK) = NLMR 2013, 399

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.3.2016, Bsw. 31039/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 162) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/Novruk.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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