JudikaturJustizBsw24430/94

Bsw24430/94 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
31. Januar 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Lanz gegen Österreich, Urteil vom 31.1.2002, Bsw. 24430/94.

Spruch

Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK - Überwachung der Kontakte zwischen Verteidiger und Mandanten während der Untersuchungshaft. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig)

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. b und c EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 3.000,- für immateriellen Schaden, EUR 493,96 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 25.10.1991 wurde über den Bf. von einem Untersuchungsrichter am LG Graz die Untersuchungshaft verhängt, da er iZm. seinen geschäftlichen Tätigkeiten des Betrugs und der Urkundenfälschung verdächtig war. Eine Bsw. des Bf. gegen die Verhängung der Untersuchungshaft wurde nach einer mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des Bf., seines Verteidigers und des Staatsanwalts von der Ratskammer am 6.11.1991 abgewiesen: Zwar bestehe keine Fluchtgefahr, jedoch Verdunkelungsgefahr, da der Bf. versuchen könnte, Zeugen zu beeinflussen oder noch nicht beschlagnahmte Dokumente zu vernichten. Dagegen erhob der Bf. am 20.11.1991 Bsw. an das OLG. Am 11.11.1991 wurde vom Untersuchungsrichter angeordnet, dass die Kontakte des Bf. mit seinem Verteidiger wegen Verdunkelungsgefahr unter Aufsicht des Gerichts stattzufinden hätten. Eine dagegen erhobene Bsw. wurde von der Ratskammer am 21.11.1991 abgewiesen. Am 28.11.1991 gab der Oberstaatsanwalt eine Stellungnahme zur Bsw. des Bf. vom 20.11.1991 ab, die dem Bf. nicht zur Kenntnis gebracht wurde. Am 12.12.1991 wurde die Bsw. vom OLG abgewiesen. Am 21.6.1992 verurteilte das LG Graz den Bf. wegen schweren Betrugs zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von viereinhalb Jahren. Dagegen erhob der Bf. Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung, jeweils ohne Erfolg. Weder die Stellungnahme des Generalprokurators bezüglich der Nichtigkeitsbeschwerde noch die des Oberstaatsanwalts bezüglich der Berufung wurden dem Bf. zur Kenntnis gebracht.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK (Recht auf gerichtliche Haftkontrolle), Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 6 (3) (b) und (c) EMRK (Verteidigungsrechte im Strafverfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (4) EMRK:

Der Bf. behauptet, dass er im Haftprüfungsverfahren keine Gelegenheit zu einer Stellungnahme auf das Vorbringen der Staatsanwaltschaft hatte.

Art. 5 (4) EMRK garantiert das Recht jeder festgenommenen oder angehaltenen Person auf ein Verfahren zur Überprüfung der formellen und materiellen Bedingungen ihres Freiheitsentzugs. Ein zur Haftprüfung zuständiges innerstaatliches Gericht muss dafür Garantien eines gerichtlichen Verfahrens aufweisen. Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und immer die Waffengleichheit zwischen den Parteien – Staatsanwalt und Inhaftiertem – gewährleisten. Diese Voraussetzungen leiten sich aus dem Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren nach Art. 6 (1) EMRK ab, wonach sowohl die Anklagebehörde als auch die Verteidigung die Möglichkeit haben müssen, von Stellungnahmen und Beweisen der Gegenseite Kenntnis zu erlangen und diese zu erörtern. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann diese Anforderung auf verschiedene Weise erfüllen, jedoch muss die von ihr vorgesehene Methode gewährleisten, dass die Gegenpartei von der Einbringung von Stellungnahmen informiert wird und eine konkrete Möglichkeit hat, sich dazu zu äußern.

Nach Ansicht des GH wirft das erstinstanzliche Verfahren vor der Ratskammer noch keine Probleme auf, da Verhandlungen stattfanden, an denen der Bf. und die Staatsanwaltschaft teilnahmen. Im Verfahren vor dem OLG aufgrund der Berufung gegen die Entscheidung der Ratskammer vom 6.11.1991 übermittelte der leitende Staatsanwalt am 28.11.1991 eine schriftliche Stellungnahme, die dem Bf. nicht zur Kenntnis gebracht wurde. Die Reg. bringt vor, dass ein solcher Mangel keine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK darstellt, da diese Bestimmung nur verlange, dass Stellungnahmen mit erheblichen neuen Informationen dem Inhaftierten zur Kenntnis gebracht werden müssen. Sie bezieht sich dabei auf die (unveröffentlichte) ZE im Fall Moser/A v. 13.4.1994, Bsw. 20055/92.

Es trifft zu, dass im genannten Fall die unterlassene Übermittlung der Stellungnahmen des leitenden Staatsanwalts keine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK darstellten, da diese keine relevanten neuen Aspekte enthielten. Aber auch wenn es nicht immer notwendig ist, dass im Verfahren nach Art. 5 (4) EMRK die selben Garantien beachtet werden wie jene, die nach Art. 6 (1) EMRK für Strafprozesse verlangt werden, so müssen sie doch „wahrhaftig kontradiktorisch" (truly adversarial) sein und immer die Waffengleichheit zwischen den Parteien gewährleisten. Es ist Sache der Verteidigung einzuschätzen, ob eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft nach einer Reaktion verlangt. Dies ergibt sich aus Art. 6 EMRK und der GH sieht keinen Grund, warum es nach Art. 5 (4) EMRK anders sein sollte. Verletzung von Art. 5 (4) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (3) (b) und (c) EMRK:

Der Bf. behauptet, dass sein Recht auf Verteidigung beeinträchtigt wurde, da die Gespräche mit seinem Verteidiger während der ersten beiden Monate der Untersuchungshaft unter der Aufsicht des Untersuchungsrichters stattfanden.

Der GH erinnert daran, dass das Recht des Angeklagten auf ein Gespräch mit seinem Verteidiger außer der Hörweite Dritter einen Teil der grundlegenden Erfordernisse eines fairen Verfahrens in einer demokratischen Gesellschaft darstellt und aus Art. 6 (3) EMRK abzuleiten ist. Wenn ein Anwalt sich mit seinem Mandanten nicht ohne eine solche Überwachung besprechen und von ihm vertrauliche Anweisungen erhalten könnte, würde sein Beistand viel von seinem Nutzen verlieren.

Die Überwachung der Kontakte des Bf. mit seinem Anwalt dauerten vom 25.10. bis 25.12.1991, da der Bf. Zeugen beeinflussen oder noch nicht beschlagnahmte Dokumente vernichten hätte können.

Der GH erachtet diese Gründe jedoch als nicht ausreichend, um diese Maßnahme zu rechtfertigen. Die Überwachung der Kontakte eines Inhaftierten mit seinem Verteidiger durch den Untersuchungsrichter ist ein schwerer Eingriff in die Rechte des Angeklagten, für deren Rechtfertigung sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden müssen. Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte diese Maßnahme va. mit der Verdunkelungsgefahr begründeten, dies aber bereits der eigentliche Grund war, aus dem die Untersuchungshaft überhaupt verhängt wurde. Die Beschränkung der Kontakte mit seinem Verteidiger für eine Person, über die bereits die Untersuchungshaft verhängt wurde, ist eine zusätzliche Maßnahme, für die weitere Argumente vorgebracht werden müssten. Die österr. Gerichte bzw. die Reg. brachten in dieser Hinsicht keine überzeugenden Argumente vor. Verletzung von Art. 6 (3) (b) und (c) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der Bf. behauptet, dass ihm im Verfahren über seine Nichtigkeitsbeschwerde vor dem OGH die Stellungnahme des Generalprokurators nicht zur Kenntnis gebracht wurde. Der GH wiederholt, dass gemäß dem Prinzip der Waffengleichheit, jede Partei eine vernünftige Möglichkeit haben muss, ihren Fall unter Bedingungen zu präsentieren, die sie in keine nachteilige Position gegenüber ihrem Gegner versetzen. In diesem Zusammenhang kommt der äußeren Erscheinung ebenso Bedeutung zu, wie der erhöhten Sensibilität gegenüber einer fairen Rechtspflege.

Was den Inhalt der Stellungnahmen der Verfolgungsbehörde anlangt, erinnert der GH weiters daran, dass das Prinzip der Waffengleichheit nicht von einer weiteren, aus einer prozessualen Ungleichheit erfließenden quantifizierbaren Unfairness abhängt. Die Einschätzung, ob eine Stellungnahme einer Reaktion bedarf, ist Sache der Verteidigung.

Im vorliegenden Fall verfasste der Generalanwalt eine kurze Anmerkung zur Nichtigkeitsbeschwerde des Bf., die diesem nicht zur Kenntnis gebracht wurde. Bereits im Fall Bulut/A wurde bei einem vergleichbaren Sachverhalt eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK festgestellt. Der GH sieht keinen Anlass, von seiner Rspr. abzuweichen.

Was das Berufungsverfahren betrifft, so stimmen die Parteien darin überein, dass die Stellungnahmen des Oberstaatsanwalts dem Bf. nicht zur Kenntnis gebracht wurden. Die Reg. bringt vor, dass wegen der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung, in der der leitende Staatsanwalt im Wesentlichen seine schriftlichen Ausführungen wiederholte, eine Übermittlung der schriftlichen Stellungnahme an den Bf. nicht notwendig war.

Diese Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Die Situation ist weitgehend dieselbe wie jene im Fall Brandstetter/A. Der GH sieht keine Veranlassung, von seinen dort gemachten Feststellungen abzuweichen. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 3.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 493,96 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Brandstetter/A v. 28.8.1991, A/211 (= NL 1991/1, 13 = EuGRZ 1992,

190).

Bulut/A v. 22.2.1996 (= NL 1996, 44).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 31.1.2002, Bsw. 24430/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 19) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_1/Lanz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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