JudikaturJustizBsw20981/10

Bsw20981/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. April 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Mladina d.d. Ljubljana gg. Slowenien, Urteil vom 17.04.2014, Bsw. 20981/10.

Spruch

Art. 10 EMRK - Kritik an homophober Äußerung eines Parlamentariers .

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung bietet für sich bereits eine ausreichende Entschädigung für den von der Bf. erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig). € 2.921,05- für materiellen Schaden, € 5.850,29- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der Bf. handelt es sich um ein privates Unternehmen mit Sitz in Ljubljana, das Herausgeber der Wochenzeitschrift Mladina ist.

Am 16.6. und 22.6.2005 behandelte die Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf über gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. Später nahm sie das Gesetz über die Eintragung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften an. Während der parlamentarischen Debatte zu diesem Thema ergriffen bestimmte Abgeordnete der Slowenischen Nationalen Partei (»SNP«), die gegen die rechtliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften war, das Wort, um ihren Widerstand gegen den Entwurf kundzutun.

Die Zeitschrift Mladina veröffentlichte am 27.6.2005 einen Artikel, in welchem sie die parlamentarische Debatte vor der Annahme des Gesetzes zusammenfasste. Darin wurde auch über den Abgeordneten S. P. von der »SNP« berichtet. Dieser habe unter anderem behauptet, dass niemand im Saal sich wünschen würde, einen Sohn oder eine Tochter zu haben, der oder die sich für eine derartige Ehe entscheidet. Er imitierte in diesem Zusammenhang auch einen Vater, der sein Kind von der Schule abholt, und verwendete dabei unmännliche Sprache und Gesten. Der Artikel bezeichnete dies als »typische Haltung eines Mannes, der seinen geistigen Bankrott erklärt hat und von Glück sagen kann, in einem Land mit so geringen menschlichen Ressourcen zu leben, dass eine Person mit seinen Eigenschaften es sogar bis in das Parlament schaffen könne, während er in einem normalen Land nicht einmal als Hausmeister einer durchschnittlichen städtischen Grundschule tätig sein könnte«.

Am 26.8.2005 brachte S. P. vor dem BG Ljubljana gegen die Bf. eine Klage wegen Schädigung seines guten Rufes und seiner Ehre ein. Insbesondere verwies er darauf, dass es sich bei seiner Darstellung als Mann, der seinen geistigen Bankrott erklärt hat, um eine objektiv und subjektiv beleidigende Bemerkung handle, die allein beabsichtigen würde, ihn schlecht zu machen. Das BG verurteilte die Bf. zur Zahlung von umgerechnet € 2.921,05 und dazu, Teile des Urteils in der Mladina abzudrucken.

Das Obergericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil im Wesentlichen und betonte, dass auch unter der Annahme, dass die Rede von S. P. für Homosexuelle beleidigend gewesen war, dies nicht die grobe Antwort durch die Bf. rechtfertigen konnte, die auf ihn persönlich abzielte.

Die Berufung der Bf. an den VfGH wurde von diesem am 10.9.2009 abgewiesen, da die unterinstanzlichen Gerichte seiner Ansicht nach die Meinungsäußerungsfreiheit und die persönliche Würde von S. P. gerecht gegeneinander abgewogen hätten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch die Entscheidungen der nationalen Gerichte.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Die entscheidende Frage ist, ob der Eingriff in das Recht der Bf. »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

Zum einen erfolgte die Aussage durch die Bf. in der Presse, der eine bedeutende Rolle in einer demokratischen Gesellschaft zukommt. Zum anderen wurde sie im Zusammenhang mit einer politischen Debatte über eine Frage von öffentlichem Interesse getätigt, wo unter Art. 10 Abs. 2 EMRK nur wenige Einschränkungen hinnehmbar sind, und gegenüber einem Politiker. Der GH hat schon häufig betont, dass ein Politiker ein größeres Maß an Toleranz zeigen muss als eine Privatperson, vor allem wenn er selbst öffentliche Aussagen tätigt, die für Kritik empfänglich sind. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass die journalistische Freiheit auch einen Rückgriff auf Übertreibung oder gar Provokation und damit überzogene Aussagen umfasst.

Der GH bemerkt, dass die nationalen Gerichte die Wichtigkeit der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. sowie ihr Recht, kritische Bemerkungen über S. P. zu veröffentlichen, anerkannt haben. Sie waren jedoch der Ansicht, dass die Charakterisierung des Beitrags von S. P. als »typische Haltung eines Mannes, der seinen geistigen Bankrott erklärt hat« ein beleidigendes Urteil über dessen Persönlichkeit darstellte und daher über die Grenzen zulässiger Kritik hinausging. Die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe waren »stichhaltig« für die Zwecke von Art. 10 Abs. 2 EMRK. Es ist somit nun zu untersuchen, ob sie auch »ausreichend« waren.

Die Charakterisierung des Verhaltens von S. P. war in der Tat extrem und konnte zurecht als beleidigend empfunden werden. Bei der betreffenden Äußerung handelt es sich jedoch um ein Werturteil. Mangels einer faktischen Grundlage können zwar auch Werturteile als überzogen angesehen werden. Dennoch waren im vorliegenden Fall die Fakten, auf denen die Äußerung gründete, recht detailliert dargestellt; mit Ausnahme der Schlussbemerkung von S. P. wurde seine parlamentarische Rede fast in vollem Umfang wiedergegeben, zusammen mit seiner begleitenden Imitation eines homosexuellen Mannes. Dieser Beschreibung folgte ein Kommentar des Autors, der nach Ansicht des GH nicht nur ein Werturteil darstellte, sondern auch den Charakter einer Metapher hatte. Im Kontext dessen, was eine heftige Debatte zu sein scheint, in der Meinungen ohne große Zurückhaltung kundgetan wurden, würde der GH die strittige Aussage als eine Äußerung starken Widerspruchs oder sogar der Verachtung für die Position von S. P. interpretieren, weniger aber als eine tatsächliche Beurteilung von dessen intellektuellen Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund kann die Beschreibung der Rede und des Verhaltens des Parlamentariers als eine ausreichende Grundlage für die Äußerung des Autors gesehen werden.

Zudem erfolgte die Äußerung als Kontrapunkt zu den Bemerkungen von S. P. selbst. Dieser folgte in seiner Rede der Linie anderer Mitglieder seiner Partei und stellte Homosexuelle als einen allgemein unerwünschten Bereich der Bevölkerung dar, egal ob als Kinder, gleichgeschlechtliche Paare oder Eltern. Um diesen Punkt zu bekräftigen, imitierte er einen homosexuellen Mann durch die Verwendung spezieller Gesten, die laut den nationalen Gerichten an die Gesten erinnerten, welche Schauspieler gebrauchten, um Homosexuelle zu porträtieren. Der GH befindet jedoch, dass die Imitation von S. P. als spöttisch angesehen werden kann und negative Stereotypen fördert.

Zumindest in dem Teil, der auch die strittige Aussage gegenüber S. P. enthielt, passte sich der Artikel nicht nur dessen provokanten Kommentaren an, sondern auch dem Stil, in dem er diese geäußert hatte. Die kritische Meinung des Autors war durch eine Zahl plastischer und übertriebener Ausdrücke gefärbt. Der GH hat bereits festgestellt, dass Art. 10 EMRK sowohl den Inhalt als auch die Form von Äußerungen und daher mitunter auch eine beleidigende Sprache schützt, wenn diese bloß stilistischen Zwecken dient – obwohl eine entsprechende Sprache aus dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit herausfallen kann, wenn sie lediglich beabsichtigt zu beleidigen.

Nach Ansicht des GH haben die nationalen Gerichte den Kontext, in dem die strittige Aussage getätigt wurde, und den im Artikel verwendeten Stil nicht ausreichend berücksichtigt. Im Lichte dieser beiden Faktoren befindet der GH, dass die Aussage keinem unbegründeten persönlichen Angriff auf S. P. gleichkam. Zudem weist der GH darauf hin, dass politische Beschimpfungen oft in den privaten Bereich überschwappen.

Vor dem obigen Hintergrund haben die nationalen Gerichte nicht überzeugend ein dringendes soziales Bedürfnis festgestellt, um den Schutz des guten Rufs von S. P. über das Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit und das allgemeine Interesse an der Förderung der Meinungsäußerungsfreiheit, wo Fragen von öffentlichem Interesse betroffen sind, zu stellen. Die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe können daher nicht als ausreichende Rechtfertigung für den Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. gesehen werden. Die Gerichte haben es somit verabsäumt, einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu schaffen. Dieser Schluss kann nicht dadurch beeinflusst werden, dass die in Frage stehenden Verfahren mehr zivilrechtlicher denn strafrechtlicher Natur waren.

Der Eingriff war daher »in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig«. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Die Festellung einer Verletzung bietet für sich bereits eine ausreichende Entschädigung für den von der Bf. erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig). € 2.921,05 für materiellen Schaden, € 5.850,29 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Oberschlick/A (Nr. 1) v. 23.5.1991 = EuGRZ 1991, 216 = ÖJZ 1991, 641

News Verlags GmbH Co. KG/A v. 11.1.2000 = NL 2000, 24 = ÖJZ 2000, 394

Tusalp/TR v. 21.2.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.4.2014, Bsw. 20981/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 130) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_2/Mladina.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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