JudikaturJustizBsw18294/03

Bsw18294/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Stempfer gegen Österreich, Urteil vom 26.7.2007, Bsw. 18294/03.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Fehlen eines Rechtsbehelfs gegen Verfahrensverzögerungen vor VwGH und VfGH. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung

von Art. 2 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. verursachte am 21.12.1995 einen Verkehrsunfall, bei dem der Lenker eines anderen Fahrzeugs verletzt wurde.

Das BG Mattighofen verurteilte ihn am 16.4.1996 wegen fahrlässiger Körperverletzung und sprach ihn vom Vorwurf des Imstichlassens eines Verletzten (§ 94 StGB) frei. Da keine Rechtsmittel erhoben wurden, erwuchs das Urteil in Rechtskraft.

Bereits am 8.2.1996 erließ die BH Braunau eine Strafverfügung nach § 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 iVm. § 99 Abs. 2 lit. a StVO, weil es der Bf. verabsäumt hatte, nach dem Unfall anzuhalten und die nächste Polizeidienststelle zu verständigen. Die BH verhängte eine Geldstrafe in der Höhe von ATS 1.600,– (ca. € 116,–). In seinem gegen die Strafverfügung erhobenen Einspruch brachte der Bf. vor, diese verstoße angesichts des gegen ihn anhängigen gerichtlichen Strafverfahrens gegen das Doppelbestrafungsverbot. Die BH Braunau erließ am 12.9.1996 ein Straferkenntnis, mit dem sie ihre Strafverfügung bestätigte. Die Behörde stellte fest, Gegenstand des Verfahrens sei im Gegensatz zum gerichtlichen Strafverfahren das Versäumnis des Bf., die Polizei zu informieren und nicht die unterlassene Hilfeleistung.

Die Berufung des Bf. wurde vom UVS Ober­österreich am 21.10.1996 abgewiesen. Auf die Durchführung einer Verhandlung hatte der Bf. ausdrücklich verzichtet. Der UVS stellte fest, dass das Vergehen des Imstichlassen eines Verletzten nach § 94 StGB Vorsatz erfordere und daher voraussetze, dass dem Täter bewusst sei, jemanden bei einem Unfall verletzt zu haben. Die Verwaltungsübertretung nach § 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 StVO könne hingegen auch fahrlässig begangen werden. Wäre der Bf. mit der nötigen Aufmerksamkeit gefahren, so hätte er den Unfall bemerkt.

In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde an den VfGH machte der Bf. eine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots geltend und behauptete außerdem, dass der UVS seine Strafbemessung auf eine verfassungswidrige Bestimmung gestützt habe. Der VfGH gab der Beschwerde am 10.10.1997 statt und behob den Bescheid, weil der UVS eine am 9.10.1997 als verfassungswidrig aufgehobenen Norm angewendet hatte (Anm.: Der VfGH erklärte am 9.10.1997 (G 216/96) den Verweis auf § 20 VStG in § 100 Abs. 5 StVO für verfassungswidrig, durch den das außerordentliche Milderungsrecht bei einer Verwaltungsübertretung nach § 99 StVO nicht zur Anwendung kam).

Der UVS bestätigte am 21.11.1997 seinen ersten Bescheid und stellte fest, dass die Strafe selbst bei einer Anwendung des außerordentliche Milderungsrechts angemessen sei.

Der Bf. bekämpfte auch diesen Bescheid beim VfGH, der jedoch die Behandlung der Beschwerde am 17.6.2000 mangels Aussicht auf Erfolg ablehnte.

Am 25.9.2000 wurde die Beschwerde an den VwGH zur Behandlung abgetreten. Der VwGH lehnte die Behandlung der Beschwerde am 28.2.2003 ab, da die verhängte Geldstrafe den Betrag von € 726,– nicht überstieg und die Sache keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwarf.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 2 7. Prot. EMRK (Rechtsmittel in Strafsachen) und Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot). Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Dauer des Verfahrens und das Fehlen einer Verhandlung im zweiten Verfahrensgang vor dem UVS oder dem VwGH begründeten eine Verletzung von Art. 6 EMRK. Außerdem behauptet er, die Feststellungen über seine Fahrlässigkeit würden die Unschuldsvermutung verletzen.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

a) Zur Verfahrensdauer:

Die zu berücksichtigende Zeitspanne begann am 8.2.1996 und endete am 22.4.2003. Das Verfahren dauerte somit über sieben Jahre und zwei Monate.

Der GH stellt fest, dass dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet ist und auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Dieser Teil der Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

b) Zum Fehlen einer Verhandlung:

Da der UVS in Verwaltungsstrafsachen der einzige Spruchkörper ist, der als Tribunal iSv. Art. 6 EMRK anzusehen ist und volle Jurisdiktion hat, hatte der Bf. grundsätzlich einen Anspruch auf eine Verhandlung vor dem UVS.

Im ersten Verfahrensgang verzichtete der anwaltlich vertretene Bf. ausdrücklich auf eine Verhandlung und auch im zweiten Verfahrensgang beantragte er eine solche vor dem UVS nicht. Dieses Versäumnis ist umso wesentlicher, als die Berufung nur die Höhe der Strafe betraf.

§ 51e Abs. 2 StVG in der damals geltenden Fassung sah vor, dass in solchen Fällen eine Verhandlung unterbleiben konnte, wenn die Partei nicht ausdrücklich die Durchführung einer Verhandlung verlangte. Unter diesen Umständen muss das Versäumnis, eine Verhandlung zu beantragen, als unmissverständlicher Verzicht angesehen werden. Daher ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 iVm. Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

c) Zur Verletzung der Unschuldsvermutung:

Der UVS stützte seine Feststellungen auf die Rechtfertigung des Bf., er habe den Unfall nicht bemerkt. Der UVS kam zu dem eingehend begründeten Schluss, der Bf. habe fahrlässig gehandelt. Der GH sieht darin keine Anzeichen für eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss gemäß Art. 35 Abs. 3 iVm. Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

2. Zur Entscheidung in der Sache:

Der GH erinnert daran, dass bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer insbesondere die Komplexität des Falles und das Verhalten des Bf. und jenes der Behörden berücksichtigt werden müssen.

Der vorliegende Fall betraf keinen komplexen Sachverhalt. Während die Verfahren vor den Verwaltungsbehörden und das erste Verfahren vor dem VfGH in angemessener Zeit geführt wurden, erklärt die von der Regierung ins Treffen geführte Komplexität der im Zusammenhang mit dem Doppelbestrafungsverbot aufgeworfenen Rechtsfragen nicht die Dauer des zweiten Verfahrensgangs vor dem VfGH, der drei Jahre und sechs Monate in Anspruch nahm. Vor dem VwGH kam es schließlich zu einer mehr als zwei Jahre dauernden Phase der völligen Inaktivität. Da die Dauer des Verfahrens unangemessen war, stellt der GH eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. rügt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen die Dauer von Verwaltungsstrafverfahren.

Da dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Art. 13 EMRK garantiert hinsichtlich behaupteter Verletzungen des Rechts auf eine Entscheidung in angemessener Frist eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz. Rechtsbehelfe gegen die Dauer eines Verfahrens sind dann wirksam iSv. Art. 13 EMRK, wenn sie die behauptete Verletzung oder ihre Fortsetzung verhindern oder angemessene Wiedergutmachung für eine bereits erfolgte Verletzung gewähren. Art. 13 EMRK bietet daher eine Wahlmöglichkeit: eine Beschwerde ist dann wirksam, wenn sie entweder dazu verwendet werden kann, die Entscheidung zu beschleunigen oder wenn sie dem Bf. angemessene Wiedergutmachung für bereits eingetretene Verzögerungen gewährt.

Die Regierung brachte im Wesentlichen vor, dass Art. 13 EMRK von den Vertragsstaaten nicht verlange, ein Rechtsmittel gegen Verzögerungen durch die Höchstgerichte zur Verfügung zu stellen. Wie der GH feststellt, sind die Staaten in erster Linie dazu verpflichtet, ihr Rechtsprechungssystem so zu gestalten, dass die Gesamtdauer von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren, einschließlich der Dauer vor den Höchstgerichten, angemessen bleibt. Was Rechtsbehelfe gegen die überlange Dauer von Verfahren betrifft, haben die Staaten eine beträchtliche Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung.

Die Regierung hat nicht gezeigt, dass hinsichtlich der Verzögerungen vor dem VfGH und dem VwGH oder der Gesamtdauer des Verfahrens irgendeine Abhilfe – sei es präventiv oder kompensatorisch – zur Verfügung gestanden wäre. Daher liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Malinverni, gefolgt von den Richtern Rozakis und Jebens). Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung sei nicht von einem übergeordneten Gericht nachgeprüft worden.

Wie der GH bereits im Fall Weh und Weh/A festgestellt hat, kann die Ablehnung der Behandlung einer Beschwerde durch den VwGH nach § 33a VwGG einer Entscheidung über die Zulassung eines Rechtsmittels gleichgehalten werden, die ihrerseits als Überprüfung iSv. Art. 2

7. Prot. EMRK anzusehen ist.

Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung nach § 4 Abs. 2 StVO nach seinem Freispruch von der Anklage wegen § 94 Abs. 1 StGB würde gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen.

Der GH erinnert an sein Urteil im Fall Franz Fischer/A, in dem er festgestellt hat, dass die bloße Tatsache, dass eine Handlung mehr als einen Tatbestand erfüllt, nicht gegen Art. 4 7. Prot. EMRK verstoße. Wo aber verschiedene strafbare Handlungen, die auf einer Tathandlung beruhen, nacheinander verfolgt werden, muss der GH prüfen, ob diese Delikte die gleichen wesentlichen Tatbestandsmerkmale aufweisen oder nicht.

Der vorliegende Fall betraf nach Ansicht des VfGH keinen Fall der Idealkonkurrenz. Tatsächlich ist das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass die beiden verfolgten Delikte nicht die gleiche Unterlassung bestrafen: § 94 Abs. 1 StGB bestraft das Versäumnis, einer Person zu helfen, deren Verletzung man verursacht hat, während § 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 StVO das Versäumnis unter Strafe stellen, nach einem Unfall anzuhalten und die Polizei zu informieren. Der GH hat bereits in dem genau die gleiche Angelegenheit betreffenden Fall Hauser-Sporn/A festgestellt, dass sich die beiden Delikte in ihren wesentlichen Tatbestandsmerkmalen unterscheiden. Der Bf. wurde daher nicht wegen einer Straftat, wegen der er bereits freigesprochen wurde, erneut verfolgt.

Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Gradinger/A v. 23.10.1995, A/328-C, NL 1995, 195; ÖJZ 1995, 954. Oliveira/CH v. 30.7.1998, NL 1998, 142; ÖJZ 1999, 77. Kudla/PL v. 26.10.2000, NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908. Franz Fischer/A v. 29.5.2001, NL 2001, 112; ÖJZ 2001, 657. Weh und Weh/A v. 4.7.2002 (ZE), ÖJZ 2002, 736.

Hauser-Sporn/A v. 7.12.2006, NL 2006, 305; ÖJZ 2007, 511.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2007, Bsw. 18294/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 199) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_4/Stempfer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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