JudikaturJustiz9ObA107/16z

9ObA107/16z – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. November 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Dehn und Dr. Weixelbraun Mohr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martina Rosenmayr Khoshideh und Robert Hauser als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Gemeinsamer Betriebsrat der Ö***** GmbH *****, vertreten durch Mag. German Storch, Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Ö***** GmbH, *****, vertreten durch CMS Reich Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung gemäß § 54 Abs 1 ASGG (Streitwert 694 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 17. Mai 2016, GZ 10 Ra 9/16s 15, mit dem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 11. Mai 2015, GZ 31 Cga 32/14y 11, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts (Punkt 1 des Urteils sowie der Ausspruch über den Aufwandersatz in Punkt 4) zur Gänze wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich den mit 475 EUR bestimmten Aufwandersatz des Berufungsverfahrens sowie der klagenden Partei die mit 210,84 EUR (darin 35,14 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der klagende Betriebsrat begehrte (neben zwei anderen, nicht mehr revisionsgegenständlichen Punkten) die Feststellung, dass die Arbeitnehmer der Beklagten, auf deren Dienstverhältnis die Allgemeinen Vertragsbedingungen für Dienstverträge bei den Ö***** (im Folgenden: AVB) Anwendung finden, Anspruch auf Bewertung der zu erbringenden Arbeitsleistung zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr gemäß dem Nachtfaktor in § 8 Abs 3 ÖBB Arbeitszeit KV (im Folgenden: KV) haben, wenn diese Arbeitsleistung in der geltenden Diensteinteilung festgelegt war, aber wegen einer Dienstverhinderung infolge Krankheit oder Unfall oder eines Kuraufenthalts ausfällt und für die Dienstverhinderung Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht.

Der Kläger brachte vor, für die seit 1. Jänner 2005 bei der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer gelte bei Dienstverhinderung wegen Krankheit, Unfall oder Kuraufenthalt das EFZG bzw das AngG. Die Arbeitnehmer hätten daher Anspruch auf das Zeitguthaben aufgrund des Nachtfaktors auch für solche Zeiten, in denen sie zum Dienst eingeteilt gewesen seien und ein Entgeltfortzahlungsanspruch bei Dienstverhinderung wegen Krankheit, Unfall oder eines genehmigten Kuraufenthalts bestehe.

Die Beklagte argumentierte zusammengefasst, die Bestimmung des KV spreche ausdrücklich von „tatsächlicher“ Arbeitszeit in den Nachtstunden als Anspruchsvoraussetzung für den Nachtfaktor; der Wortlaut dieser Regelung könne daher nicht anders verstanden werden, als dass nur bei tatsächlicher Mehrbelastung durch solche Tätigkeit für den Arbeitnehmer auch ein zusätzlicher Erholungsbedarf entstehe. Der im KV geregelte Nachtfaktor gewähre dem Arbeitnehmer kein zusätzliches Entgelt. Der Oberste Gerichtshof habe bereits entschieden, dass diese Bestimmung des KV eine rein arbeitszeitrechtliche sei.

Das Erstgericht gab dem (gesamten) Feststellungsbegehren statt. Es sei bedenklich, wenn eine Regelung dazu führe, dass kranke Arbeitnehmer auf ihre Krankheit nicht Rücksicht nehmen würden, um keine finanziellen Einbußen zu erleiden. Wenngleich es sich hier um eine arbeitszeitrechtliche Bestimmung handle, dürfe die Beklagte nicht einseitig von der Berücksichtigung des Nachtfaktors absehen.

Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung über die Berufung der Beklagten (teilweise) dahin ab, dass es das Feststellungsbegehren in seinem nun den Gegenstand der Revision bildenden Punkt 1 abwies. Die hier zu beurteilende Gewährung eines auf die Normalarbeitszeit anzurechnenden Freizeitausgleichs sei kein (zusätzliches) Entgelt für das Zurverfügungstellen der Arbeitskraft, sondern durch die Gewährung der Ersatzruhezeit werde die Mehrdienstleistung während der Nacht ausgeglichen. Die Inanspruchnahme von Zeitausgleich führe lediglich zu einer anderen Verteilung der Arbeitszeit, ohne dass dies ein zusätzliches Entgelt darstellen könne. Der Oberste Gerichtshof habe zu der hier maßgeblichen Bestimmung des § 8 ÖBB Arbeitszeit KV bereits ausgesprochen, dass damit den Arbeitnehmern für die Nachtarbeit kein zusätzliches Entgelt zugesichert werde, mit dem sie rechnen konnten, sondern nur eine Verringerung der Arbeitspflicht. Ein durch Krankheit verhinderter Arbeitnehmer erleide bei dieser Auslegung der Bestimmung im Übrigen auch keine Entgelteinbuße. Die Gewährung eines auf die Normalarbeitszeit anzurechnenden Freizeitausgleichs, der ähnliche Zwecke verfolge wie ein Erholungsurlaub, habe keinen Entgeltcharakter.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die – in der Rechtsprechung bisher nicht behandelte – Frage der Auslegung des im KV vorgesehenen Nachtfaktors für Zeiten der Dienstverhinderung bei festgelegter Diensteinteilung über den Einzelfall hinausgehe.

Der Kläger beantragt in seiner Revision die Abänderung der Entscheidung dahin, dass die Klagsstattgebung des Erstgerichts wiederhergestellt werde.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

1. § 8 des ÖBB Arbeitszeit KV regelt die Nachtarbeit. Die Bestimmung lautet auszugsweise wie folgt:

1. Als Nachtarbeit gilt die Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr. [...]

3. Der tatsächlichen Arbeitszeit im Nachtzeitraum ist ein Nachtfaktor von 0,8 zugrunde zu legen. Das heißt, dass 8/10tel einer Zeiteinheit als ganze Zeiteinheit zu werten sind (zB 48 Minuten tatsächliche Arbeitszeit = 60 Minuten Anrechnung).

Die durch den Nachtfaktor zusätzlich entstehenden Zeitwerte sind bei der Ermittlung und Verteilung der Normalarbeitszeit im Durchrechnungszeitraum [- der Durchrechnungszeitraum der Normalarbeitszeit beträgt unstrittig einen Kalendermonat] zu berücksichtigen, gelten jedoch nicht als tatsächliche Arbeitszeit und sind daher für die Ermittlung der Höchstgrenze an täglicher und wöchentlicher Arbeitszeit nicht zu berücksichtigen.

Durch den Nachtfaktor entstandene Zeitguthaben, die nicht im Durchrechnungszeitraum des Entstehens oder im darauffolgenden Durchrechnungszeitraum 1:1 ausgeglichen werden können, werden übertragen und sind grundsätzlich innerhalb von zwölf Monaten ab Ende des Durchrechnungszeitraums, in dem sie entstanden sind, im Verhältnis 1:1 als Zeitausgleich zu konsumieren. Dieser Zeitausgleich ist zu vereinbaren und hat, sofern das Zeitguthaben das Ausmaß einer für den konkreten Tag vorgesehenen Dienstschicht übersteigt, durch Freigabe ganzer Dienstschichten zu erfolgen. Zeitguthaben aus dem Nachtfaktor, die innerhalb von zwölf Monaten so nicht konsumiert werden können, sind auf Verlangen des Mitarbeiters im gleichen Ausmaß (1/164 ohne Überstundenzuschläge) bar auszubezahlen, jedenfalls jedoch nach 36 Monaten.

§ 16 der AVB lautet (auszugsweise):

Anspruch bei Dienstverhinderung

(1) Ist der Ö*****-Angestellte nach Antritt seines Dienstes durch Krankheit oder Unfall an der Leistung seines Dienstes verhindert, ohne dass er die Verhinderung vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat, so behält er seinen Anspruch auf das Entgelt (Monatsentgelt iSd § 24 Abs 1 und Nebenbezüge mit Entgeltcharakter iSd § 40 Abs 1) bis zur Dauer von sechs Wochen. Beruht die Dienstverhinderung jedoch auf einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit im Sinne der Vorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung, so verlängert sich die Frist ... […]

(4) Der Ö*****-Angestellte behält ferner den Anspruch auf das Entgelt, wenn er durch andere wichtige seine Person betreffende Gründe ohne sein Verschulden während einer verhältnismäßig kurzen Zeit an der Leistung seiner Dienste verhindert wird. [...]“

Entgegen der Annahme der Beklagten (und ihr folgend des Berufungsgerichts) geht es hier nicht vorrangig um die Auslegung des § 8 Abs 3 des ÖBB Arbeitszeit KV, der in seinem Geltungsbereich den sogenannten Nachtfaktor bei Nachtarbeit regelt. Diese Bestimmung ist, soweit hier relevant, genau genommen unstrittig. Dass nämlich eine Regelung der Nachtarbeit auf „tatsächlicher“ Arbeitszeit im Nachtzeitraum als Regelfall aufbaut, ist selbstverständlich. Damit ist jedoch nichts über die Entgeltfortzahlung bei Krankheit, Unfall oder Kuraufenthalt gesagt, der typischerweise eine Situation zugrunde liegt, in der vom Arbeitnehmer gerade keine tatsächliche Leistung, also auch keine tatsächliche Nachtarbeit erbracht wird. § 8 ÖBB Arbeitszeit KV regelt nicht die Entgeltfortzahlung bei unterbliebener Nachtarbeit. Diese wird, wie vorstehend ausgeführt, in § 16 AVB geregelt.

2. Nach § 16 AVB haben die Arbeitnehmer der Beklagten Anspruch auf Entgeltfortzahlung entsprechend den §§ 2 EFZG und 8 AngG. Die Bestimmungen über die Entgeltfortzahlung gehen vom Ausfallsprinzip aus, nach dem der Arbeitnehmer während eines Urlaubs oder Krankenstands grundsätzlich jenes Entgelt zu erhalten hat, das er verdient hätte, wenn er in dieser Zeit gearbeitet hätte (RIS Justiz RS0058728; RS0058546; Drs in ZellKomm 2 , § 1154b ABGB Rz 10 mwN). Auch das ist hier nicht weiter strittig. Das vorliegende Klagebegehren zielt nicht auf die Gewährung von Entgeltfortzahlung ab, sondern setzt das Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs voraus.

Richtig ist, dass die Gewährung einer auf die Normalarbeitszeit anzurechnenden Ersatzruhezeit für den Nachtdienst nach der – von der Beklagten sowie vom Berufungsgericht zitierten – Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kein (zusätzliches) Entgelt für die Zurverfügungstellung von Arbeitskraft ist (RIS Justiz RS0051781; RS0052257; RS0051784). Daraus ist jedoch für die Position der Beklagten nichts zu gewinnen. Der Kläger will im vorliegenden Verfahren ohnehin kein Entgelt. Das Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs wird vielmehr, wie schon erwähnt, vorausgesetzt.

Das hier zu beurteilende Feststellungsbegehren zielt darauf ab, dass in bestimmten Fällen, in denen ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung wegen einer Dienstverhinderung besteht und die in der Diensteinteilung festgelegte Dienstleistung aus diesem Grund tatsächlich nicht erbracht werden kann, die für diese Dienstleistung als Ausgleich für die damit verbundene Mehrbelastung (Nachtarbeit) zugesicherte Höherbewertung dieser Arbeitszeit in Form eines Zeitguthabens zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen ist. Die gegenteilige Position der Beklagten unterlaufe nach Auffassung des Klägers das Prinzip der Entgeltfortzahlung.

3. Der Kläger hat zutreffend darauf hingewiesen, dass nach dem Konzept des § 8 Abs 3 ÖBB Arbeitszeit KV grundsätzlich die Sollarbeitszeit im Durchrechnungszeitraum durch den Erwerb der (um den Nachtfaktor erhöhten) Zeitwerte erreicht werden soll und daher im Regelfall (durch entsprechende Berechnung der Arbeitszeit im einmonatigen Durchrechnungszeitraum) kein Zeitguthaben entsteht. Nur als Ausnahme davon gestattet die Bestimmung die Übertragung eines durch den Nachtfaktor entstandenen Zeitguthabens, wobei es dessen Konsumation innerhalb von (weiteren) 12 Monaten als Zeitausgleich vorsieht. Kann auch ein solcher Verbrauch durch Zeitausgleich nicht erfolgen, so sind Zeitguthaben aus dem Nachtfaktor auf Verlangen des Arbeitnehmers nach dieser Bestimmung letztlich auszubezahlen.

Die Nichtanwendung des Nachtfaktors gemäß § 8 Abs 3 ÖBB Arbeitszeit KV für solche Zeiten, in denen ein Arbeitnehmer zwar nach der jeweils geltenden Diensteinteilung zur Nachtarbeit eingeteilt ist, seine (geplante) Arbeitsleistung jedoch (insbesondere wegen Krankheit) nicht erbringen kann, hätte daher zur Folge, dass der Arbeitnehmer für seine (krankheitsbedingte) Abwesenheit – im Ausmaß des nicht erworbenen Zeitguthabens – zusätzliche Arbeitszeit leisten (oder wie der Kläger es plastisch formuliert: „den Krankenstand teilweise einarbeiten“) müsste. Ohne Anwendung des Nachtfaktors für die eingeteilte Arbeitszeit hätte der Arbeitnehmer dann nämlich in diesem Umfang zusätzliche Stunden zu arbeiten, um im Durchrechnungszeitraum seine Normalarbeitszeit zu erfüllen. Dies liefe aber dem geltenden Verständnis vom Wesen der Entgeltfortzahlung zuwider, das gerade darauf beruht, dass der Arbeitnehmer in den Entgeltfortzahlungsfällen so gestellt werden soll, als hätte er die ausgefallene Arbeit tatsächlich erbracht, also so, als ob die Arbeitsleistung nicht entfallen wäre ( Vogt in Mazal / Risak , Arbeitsrecht Kap XII Rz 16, 25 ua).

4. Aus der von der Revisionsgegnerin zitierten Entscheidung 9 ObA 213/88 ist für die Position der Beklagten nichts zu gewinnen. Sie betrifft einen anderen Sachverhalt und eine andere Streitfrage.

Zusammenfassend unterläuft die Position der Beklagten, Arbeitnehmern bei Dienstverhinderungen infolge Krankheit, Unfall oder Kuraufenthalt zwar das Entgelt fortzuzahlen, die während der Dienstverhinderung entfallene Arbeitszeit aber nur teilweise als erbracht anzuerkennen, das geltende Verständnis von der Entgeltfortzahlung. § 8 Abs 3 ÖBB Arbeitszeit KV trägt die Auffassung der Beklagten nicht. Es wurden von ihr auch keine anderen zielführenden Argumente dargelegt. Das Feststellungsbegehren des Klägers erweist sich daher (auch in dem hier zu prüfenden Punkt 1) als berechtigt, weshalb die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wurde.

5. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf den §§ 2 ASGG, 58a ASGG iVm § 1 AufwandersatzG und § 1 AufwandersatzVO. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Bemessungsgrundlage für das Feststellungsbegehren bildet allerdings im Revisionsverfahren nur noch ein Drittel der vom Kläger mit 694 EUR bewerteten, drei Punkte umfassenden Klage (daher rund 230 EUR).

Rechtssätze
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