JudikaturJustiz9Ob143/98i

9Ob143/98i – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juni 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Steinbauer, Dr.Spenling, Dr.Hradil und Dr.Hopf als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj.Sabrina K*****, geboren am 29.9.1991, in vorläufiger Obsorge der Bezirkshauptmannschaft Sch***** als Jugendwohlfahrtsträger, derzeit in Pflege bei Anna F*****, vertreten durch Offer Partner KEG, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Übertragung der Obsorge, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Pflegemutter, vertreten durch Dr.Josef-Michael Danler, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgerichtes vom 20.März 1998, GZ 52 R 43/98z-85, womit infolge Rekurses der Pflegemutter der Beschluß des Bezirksgerichtes Schwaz vom 20.Februar 1998, GZ P 1165/95b-79, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die mj.Sabrina ist das eheliche Kind von Reinhard und Edith K*****. Sie befindet sich seit 9.8.1995 aufgrund eines Antrages der Bezirkshauptmannschaft Sch***** bei der Pflegemutter Anna F*****, die das Kind als Tagesmutter bereits seit Februar 1995 betreut hat. Grund der beantragten Maßnahme war nach dem Vorbringen des Referates für Jugendwohlfahrt eine psychische Erkrankung der Mutter, die Mängel der Pflege und Erziehung des Kindes seit Beginn 1994 herbeigeführt hätten. Weil auch der Vater mit der Situation leichtfertig umgegangen und von den Ansprüchen offenbar überfordert worden sei, sei Gefahr in Verzug wegen einer massiven Gefährdung der Sicherheit des Kindes gegeben. Im Februar 1997 beantragte der Jugendwohlfahrtsträger, die Pflege und Erziehung der Minderjährigen an die Pflegemutter zu übertragen und den Kindeseltern bis auf weiteres jeglichen Kontakt zur Minderjährigen pflegschaftsgerichtlich zu untersagen. Als Begründung wurde angeführt, daß es Hinweise darauf gebe, daß seitens des Kindesvaters sexuelle Übergriffe auf die Minderjährige stattgefunden hätten.

Anfang März 1997 beantragten die Eltern, das Kind mit sofortiger Wirkung aus dem Einflußbereich und der Umgebung der Pflegemutter und deren Tochter zu entfernen und die Pflege und Erziehung bis zur endgültigen Entscheidung des Pflegschaftsgerichtes der Schwägerin der Mutter oder allenfalls einer anderen geeigneten Person zu übertragen. Der Vowurf sexuellen Mißbrauchs entbehre jeglicher Grundlage. Es bestehe der Verdacht, daß sexuelle Übergriffe im Bereich der Pflegemutter und deren Tochter geschehen seien. Die Übertragung der Pflege und Erziehung an die Pflegemutter werde abgelehnt und würde nur zu einer weitreichenden Schädigung des Kindes führen.

Bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Obsorgefrage wurde die Obsorge für das Kind vorläufig dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen.

Das Erstgericht wies den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers und der Pflegemutter die Obsorge über das Kind der Pflegemutter zu übertragen, ab, hob den Beschluß, womit dem Vater bis auf weiteres jeder Kontakt zum Kind untersagt wurde, auf, wies den Antrag, der Mutter den Kontakt zum Kind bis auf weiteres zu untersagen, ab und sprach aus, daß die Obsorge weiterhin den Eltern zukomme und das Kind den leiblichen Eltern zu übergeben sei. Zugleich wurde den Eltern die Weisung erteilt, bei der Rückführung des Kindes psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen.

Das Erstgericht traf im wesentlichen folgende Feststellungen:

Die Mutter leidet an einer psychischen Störung aus dem schizophrenen Formenkreis im Remissionsstadium. Sie befindet sich in ärztlicher medikamentöser Behandlung. In ihrem Zustand ist eine Stabilisierung eingetreten. Sie ist in der Lage, ihren Pflege- und Erziehungsaufgaben hinsichtlich der Minderjährigen nachzukommen, insbesondere in der Lage, die Bedürfnisse und Belange des Kindes kindgerecht einzuschätzen. Nach der langen Trennung vom Kind ist jedoch bei der Anbahnung der Beziehungen zwischen Eltern und Kind psychologische Beratung erforderlich. Ein sexueller Mißbrauch der Minderjährigen durch den Vater kann nicht festgestellt werden und erscheint äußerst unwahrscheinlich. Der Vater wurde im Strafverfahren vom Verdacht des Verbrechens des Beischlafes mit Unmündigen und der Unzucht mit Unmündigen freigesprochen. Es besteht die Möglichkeit, daß der Minderjährigen in der Pflegefamilie Vorstellungen über einen Mißbrauch durch den Vater einsuggeriert worden sind.

Infolge der Wiederherstellung des psychischen Gesundheitszustandes der Mutter könne sie ihren Betreuungs- und Aufsichtspflichten ordnungsgemäß nachkommen. Ein sexueller Mißbrauch durch den Vater sei nicht erwiesen worden, so daß keine gesetzliche Grundlage bestehe, den Eltern die Obsorge zu entziehen und sie der Pflegemutter zu übertragen, bei der das Wohl des Kindes gefährdet erscheine, weil sie offenbar das Kind negativ gegen die Eltern beeinflußt habe.

Dem dagegen erhobenen Rekurs der Pflegemutter gab das Rekursgericht keine Folge. Es vertrat die Rechtsauffassung, daß die schwerwiegendste Belastung und Beeinträchtigung aus den Ereignissen das Kind zu tragen habe und, was die Vorwürfe gegen den Vater anlange, die im Strafverfahren hervorgekommenen Unabwägbarkeiten verblieben. Nach eingehender Befassung mit den mannigfachen Beweisergebnissen im Straf- und Pflegschaftsverfahren teile das Rekursgericht die vom Schöffengericht und vom Erstgericht gewonnene Einsicht, daß aus den Äußerungen des Kindes bei objektiver Betrachtung keineswegs die Überzeugung zu gewinnen sei, der Vater habe sich in der vorgeworfenen Weise an seiner Tochter vergangen. Es sprächen gewichtige Gründe dafür, daß die Schilderungen des Kindes, das sich in einer Ausnahmesituation befinde, auf bewußter oder unbewußter oder vielleicht auch von Sorge um das Wohl um das Kind getragener Suggestion (durch die Pflegemutter) beruhen, mögen auch im Sinne der überzeugenden Ausführungen des Schöffengerichtes letztlich nicht alle Zweifel gänzlich ausgeräumt sein. Für die Entziehung und Einschränkung elterlicher Rechte bestehe daher kein gerechtfertigter Anlaß, weil dies voraussetzen würde, daß Tatsachen erwiesen wären, die die Annahme rechtfertigen könnten, daß die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes gefährden.

Das Rekursgericht sprach überdies aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Pflegemutter.

Rechtliche Beurteilung

Er ist zulässig, weil nach der Rechtsprechung eine unkritische Prüfung der Verfahrensergebnisse und der daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Obsorgeverfahren bei einer möglichen Beeinträchtigung der Interessen des Kindeswohles Verfahrensgarantien verletzt und eine sachlich richtige Entscheidung verhindert, was aber eine Rechtsfrage im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG begründet.

Der Rekurs ist auch im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.

Jede Obsorgeentscheidung ist eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung und nur sachgerecht, wenn sie auf einer aktuellen und vollständigen Sachverhaltsgrundlage beruht (SVSlg 68.806; 1 Ob 601/95). Das Kindeswohl als das beherrschende Prinzip des Pflegschaftsrechts (SZ 69/20) geht dem Elternrecht vor und entscheidet primär in der Frage der Obsorgezuteilung (1 Ob 2396/96a mwN) oder der Aufhebung von Maßnahmen, die die Elternrechte einschränken. Es soll grundsätzlich jede Maßnahme, die einen Wechsel des Pflegeplatzes bedeutet und das Kind aus seiner gewöhnlichen Umgebung reißt, möglichst vermieden werden. Es muß daher eindeutig klargestellt sein, daß nunmehr die ordnungsgemäße Pflege und Erziehung durch die Eltern, die infolge Gefährdung des Kindeswohls eingeschränkt war, jedenfalls wieder gewährleistet ist (ÖA 1991, 140).

Im vorliegenden Fall liegen nur Feststellungen vor, daß die Mutter wieder in der Lage sei, ihren Pflege- und Erziehungsaufgaben nach Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes nachzukommen und die Bedürfnisse und Belange des Kindes kindgerecht einzuschätzen, so daß der Grund der seinerzeitigen Pflegeunterbringung weggefallen wäre. Dazu kommt aber, daß auch der Vater mit der seinerzeitigen Situation nach den vorliegenden Behauptungen leichtfertig umgegangen ist und überfordert gewesen war und vor allem der Umstand, daß er beschuldigt wurde, das Kind sexuell mißbraucht zu haben. Von diesem Vorwurf ist er, wenn auch mit verbliebenen Zweifeln, vom Strafgericht infolge des Grundsatzes in dubio pro reo freigesprochen worden. Seine Schuld konnte mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit nicht erwiesen werden; es sprachen vielmehr massive Anhaltspunkte für seine Unschuld.

Von den dort beigezogenen Sachverständigen sah einer die Glaubwürdigkeit des Kindes hinsichtlich der sexuellen Mißbrauchswahrnehmungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als gegeben an. Während die andere Sachverständige das Kind nur sehr bedingt als annähernd verläßlich eingestuft und eine Konfabulationsneigung und Suggestibilität festgestellt hat und zur speziellen Glaubwürdigkeit unter anderem ausführte, daß die Protokollierung durch die Gendarmerie das Ergebnis einer Mischung aus dem Alltagsleben, aus Konfabulation und aus vorangegangenen suggestiv wirkenden Fragen sei. Die Glaubwürdigkeit sei weitgehend unbeurteilbar, in der Frage der speziellen Glaubwürdigkeit käme man kaum weiter und es müsse festgestellt werden, daß keineswegs auch nur eine annähernde Sicherheit für einen sexuellen Mißbrauch vorliege.

Im vorliegenden Verfahren ist aber nicht über die Glaubwürdigkeit einer kindlichen Zeugenaussage als Voraussetzung für den Verdacht einer strafbaren Handlung zu entscheiden, sondern ob einer Rückführung des Kindes zu den im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern nicht das Kindeswohl gefährdende Hindernisse entgegenstehen. Das bedeutet aber, daß es nicht ausreicht, nur die wiedererlangte Eignung der Mutter zur Pflege und Erziehung zu prüfen, sondern im Zusammenhang mit den Vorwürfen des sexuellen Mißbrauchs auch, ob zwischen Vater und Kind eine Beziehung besteht und möglich ist, die das Kindeswohl in allen seinen Dimensionen, wie das körperliche, geistige und seelische Wohlergehen des Kindes auch bei diesem Elternteil bei gegebenem gemeinsamen Haushalt nicht gefährdet (1 Ob 2396/96a). Während die bisher eingeholten Gutachten jeweils nur Teilaspekte betreffen, wird es zur abschließenden Beurteilung erforderlich sein, ein Gesamtgutachten durch einen bisher am Verfahren nicht beteiligten Sachverständigen unter Einbeziehung aller Beteiligten (vor allem Kind, Mutter, Vater und Pflegemutter) unter Verwertung aller bisherigen Verfahrensergebnisse und Stellungnahmen sowie unter Bedachtnahme auf die bereits vorliegenden (widersprüchlichen) Gutachten einzuholen. Dazu gehört aber nicht nur eine Exploration von Mutter und Kind. In solchen Grenzfällen reicht es nämlich ausgehend vom Untersuchungs- und Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht aus, sich auf in einem ganz andere Ziele verfolgenden Strafverfahren vorliegende Beweisergebnisse oder hiezu erstellte private Gutachten (Stellungnahme Dr.Zangerle) zu beschränken. Die kritische Prüfung der Verfahrensergebnisse zur Erzielung sachlich richtiger Entscheidungen (RZ 97/57; 1 Ob 11/97t, 1 Ob 268/97m) muß im Interesse des Kindeswohles in solch außergewöhnlichen Fällen dazu führen, daß vom Pflegschaftsgericht alle unmittelbar beteiligten Personen, sohin auch die Pflegemutter neben dem Kind und seinen Eltern einer kinderpsychologischen Exploration zu unterziehen und die Beziehungen des Kindes zu diesen Personen, die Vater-Mutter-Kind-Beziehung, die Rollenverteilung, die psychische Verarbeitung der Trennung und Unterbringung bei der Pflegemutter, aber auch die Abhängigkeitsverhältnisse usw selbständig zu prüfen sind. Dann erst bei vollständigen Erhebungsergebnssen kann auch eine verläßlichere Aussage über die Glaubwürdigkeit eines Kindes getroffen werden und auch wie sich die festgestellte Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkt oder allenfalls einer Rückführung des Kindes zu den Eltern entgegensteht. Es darf dabei auch nicht vernachlässigt werden, daß das Kind seit April 1997, sohin seit einem vor der Beschlußfassung des Erstgerichtes liegenden Zeitpunkt nach der im Rekurs gegen die Entscheidung des Erstgerichtes zulässigerweise (EFSlg 64.585; 76.442

f) vorgelegten und daher zu berücksichtigenden Stellungnahme in psychotherapeutischer Behandlung steht und als glaubwürdig angesehen wird. Diese Behandlungsergebnisse sind daher, weil sie im Gegensatz zu einer einmaligen Exploration eine länger dauernde Beobachtung und Behandlung enthalten, auch bei der Entscheidung über die Obsorge und die Glaubwürdigkeit des Kindes einzubeziehen.

Das teilweise Unterbleiben der kritischen Prüfung der Verfahrensergebnisse führte zu einer unvollständigen Sachverhaltsgrundlage und ist daher, ohne einen Nichtigkeitsgrund zu verwirklichen, zu Recht als Verfahrensmangel geltend gemacht worden (RZ 1997/57, 1 Ob 11/97t).

Da eine abschließende Beurteilung infolge Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage noch nicht möglich ist, war mit der Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen vorzugehen.

Rechtssätze
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