JudikaturJustiz7Ob134/23s

7Ob134/23s – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. August 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I* J*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei A* SE *, vertreten durch die Themmer, Toth Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 24. Mai 2023, GZ 50 R 8/23t 14, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 25. November 2022, GZ 6 C 392/22y 9, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 912,41 EUR (darin enthalten 152,07 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.513,92 EUR (darin enthalten 762 EUR Barauslagen und 125,32 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Dem Rechtsschutzversicherungsvertrag zwischen der Klägerin als Versicherungsnehmerin und der Beklagten liegen deren Allgemeine Bedingungen für die Rechtsschutz Versicherung (ARB 2015) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:

Artikel 8

Welche Pflichten hat der Versicherungsnehmer zur Sicherung seines Deckungsanspruches zu beachten? (Allgemeine Obliegenheiten)

1. Wird die Wahrnehmung rechtlicher Interessen nach Eintritt eines Versicherungsfalles notwendig, dann ist der Versicherungsnehmer verpflichtet,

1.1. [den Versicherer] unverzüglich, vollständig und wahrheitsgemäß über die jeweilige Sachlage aufzuklären;

[...]

Artikel 9

Wann und wie hat [der Versicherer] zum Deckungsanspruch des Versicherungsnehmers Stellung zu nehmen?

[...]

2. Davon unabhängig hat [der Versicherer] das Recht, jederzeit Erhebungen über den mutmaßlichen Erfolg der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung anzustellen. Kommt [der Versicherer] nach Prüfung des Sachverhaltes unter Berücksichtigung der Rechts und Beweislage zum Ergebnis,

2.1. dass hinreichende Aussicht besteht, in einem Verfahren im angestrebten Umfang zu obsiegen hat [der Versicherer] sich zur Übernahme aller Kosten nach Maßgabe des Artikels 6 (Versicherungsleistungen) bereit zu erklären;

2.2. dass diese Aussicht auf Erfolg nicht hinreichend, d.h. ein Unterliegen in einem Verfahren wahrscheinlicher ist als ein Obsiegen, ist [der Versicherer] berechtigt, die Übernahme der an die Gegenseite zu zahlenden Kosten abzulehnen;

2.3. dass erfahrungsgemäß keine Aussicht auf Erfolg besteht, hat [der Versicherer] das Recht, die Kostenübernahme zur Gänze abzulehnen.

[...]

ARB 2015: Besondere Bestimmungen

[...]

Artikel 21

Allgemeiner Schadenersatz-Rechtsschutz

[...]

2. Was ist versichert?

Der Versicherungsschutz umfasst

2.1. die Geltendmachung von Ansprüchen aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privat-rechtlichen Inhalts wegen eines erlittenen Schadens;

[...]

3. Was ist nicht versichert?

3.1. Neben den in Artikel 7 (allgemeine Risikoausschlüsse) genannten Fällen besteht jedenfalls kein Versicherungsschutz (spezielle Risikoausschlüsse) für die Geltendmachung von

3. 1.1. Schadenersatzansprüchen wegen eines immateriellen Schadens, ausgenommen Personenschäden, Schäden aus der Verletzung der persönlichen Freiheit und der geschlechtlichen Selbstbestimmung sowie Trauerschäden;

3.1.2. Schadenersatz oder Herausgabeansprüchen zwischen Miteigentümern oder Pfandrechtsgläubigern.

3.2. Der Versicherungsschutz im Allgemeinen Schadenersatz Rechtsschutz umfasst nicht

3.2.1. Fälle, welche beim Versicherungsnehmer und den mitversicherten Personen in ihrer Eigenschaft als Eigentümer, Halter, Zulassungsbesitzer, Leasingnehmer oder Lenker von Motorfahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft sowie Anhängern einschließlich Ersatzteilen und Zubehör eintreten;

3.2.2. die Geltendmachung von Schadenersatz- und Herausgabeansprüchen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Sinne des § 51 ASGG (siehe im Anhang);

3.2.3. die Geltendmachung von reinen Vermögensschäden gegen den Sozialversicherungsträger;

3.2.4. die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen wegen reiner Vermögensschäden, die aus der Verletzung gesetzlicher oder vertraglicher Pflichten zwischen den Vertragspartnern oder aus der Verletzung vorvertraglicher Pflichten entstehen;

3.2.5. Fälle, welche beim Versicherungsnehmer in seiner Eigenschaft als Eigentümer oder Besitzer von Grundstücken, Gebäuden oder Gebäudeteilen entstehen;

3.2.6. die Geltendmachung von reinen Vermögensschäden oder Herausgabeansprüchen im Zusammenhang mit einer Erb oder Familienrechtssache.

[...]“

[2] Die Klägerin erwarb im April 2020 einen gebrauchten Audi * (Erstzulassung im November 2014) um 13.900 EUR und einem Kilometerstand von 99.061 km. Das Fahrzeug ist mit einem bestimmten Motortyp ausgestattet.

[3] Sie begehrte vorprozessual Deckung für die Geltendmachung eines deliktischen Schadenanspruchs auf Ersatz des Minderwerts (30 % des Kaufpreises) gegen die Herstellerin wegen des Kaufs eines Fahrzeugs, dessen Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeliefert worden sei. Sie gab der Beklagten das Kaufdatum, den Kaufpreis, das Zulassungskennzeichen und den Motortyp ihres Fahrzeugs bekannt. Diese lehnte am 23. 11. 2021 die Rechtsschutzdeckung ab, weil das Fahrzeug nicht in einer „KBA Liste“ aufscheine.

[4] Die Klägerin begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung. Ihr Fahrzeug sei mit einem bestimmten Motortyp mit einer – aus näher dargelegten Gründen – unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet und entspreche nicht den gesetzlichen Bestimmungen. Die Beklagte habe für die Geltendmachung eines deliktischen Schadenersatzanspruchs gemäß §§ 874, 1295 ABGB gegen die Herstellerin des PKW gemäß Art 21.2.1. ARB 2015 Deckung zu gewähren.

[5] Die Beklagte wendete ein, in der Schadensmeldung habe die Klägerin den Sachverhalt weder vollständig, noch umfassend und auch nicht wahrheitsgemäß wiedergegeben. Sie habe dadurch gegen ihre Aufklärungs- und Informationsobliegenheit verstoßen. Die Klägerin habe ein bewusst altes Fahrzeug am Ende dessen technischer Lebensdauer gekauft. Sie sei in Kenntnis der Spontanmeldung des „V* Konzerns“ in Ansehung des Vorgängermodells des Motortyps gewesen. Infolge „Vollamortisation“ bestünden keine Erfolgsaussichten im Sinn des Art 9 ARB 2015. Außerdem sei die Rechtsverfolgung aussichtslos, weil das Klagebegehren unbestimmt und unschlüssig sei. Der Schadenersatzanspruch sei wegen des Risikoausschlusses in Art 21.3.2.1. ARB 2015 nicht gedeckt.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch sei von Art 21.2.1. ARB 2015 erfasst. Bei Art 21.3.2.1. ARB 2015 handle es sich entgegen der Ansicht der Beklagten um einen Deckungsabgrenzungsausschluss und nicht um einen Risikoausschluss. Eine Obliegenheitsverletzung liege nicht vor, habe doch die Klägerin der Beklagten die wesentlichen Informationen zur Verfügung gestellt, für welches Fahrzeug sie Deckung begehre, zu welchem Preis sie dieses erworben habe, dass das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sei und welchen Minderwert sie gegen die Herstellerin geltend zu machen begehre. Die Beklagte, die die Rechtsschutzdeckung ohne Prüfung in weiteren Belangen abgelehnt habe, hätte jederzeit weitere Unterlagen anfordern können, sofern sie dies für die Beurteilung ihrer Deckung für erforderlich erachtet hätte. Da das Klagebegehren weder unbestimmt noch unschlüssig sei, lägen auch keine mangelnden Erfolgsaussichten im Sinn von Art 9 ARB 2015 vor.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Feststellungsbegehren ab. Bei Art 21.3.2.1. ARB 2015 handle es sich um einen Risikoausschluss. Dieser sei verwirklicht, weil die Klägerin als Eigentümerin beabsichtige, einen deliktischen Schadenersatzanspruch gegen die Herstellerin des Fahrzeugs zu erheben. Damit müsse auf die weiteren Einwände der Beklagten nicht mehr eingegangen werden.

[8] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Entscheidungsgegenstand 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige, und ließ die ordentliche Revision zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung von Art 21.3.2.1. ARB 2015 fehle.

[9] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist auch berechtigt.

[12] 1.1. Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung zu 7 Ob 45/23b mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass Art 21.3.2. ARB 2015 als Deckungsabgrenzungsausschluss und nicht als Risikoausschluss zu qualifizieren ist. Damit ist dieses Thema auch für die Beklagte – wie sie in der Revisionsbeantwortung erklärt – „abschließend geklärt“.

[13] 1.2. Da der von der Klägerin geltend gemachte Rechtsschutzanspruch unstrittig weder von der positiven Deckungsumschreibung des Schadenersatz (fahrzeug )Rechtsschutzes nach Art 17.2.1. ARB 2015 noch von jener des Fahrzeug Vertrags Rechtsschutzes nach Art 17.2.4. ARB 2015 umfasst und dort daher auch nicht versicherbar ist, kommt der Deckungsabgrenzungsausschluss des Art 21.3.2.1. ARB 2015 hier nicht zum Tragen.

[14] 2.1. Für das Vorliegen des Versicherungsfalls trifft nach der allgemeinen Risikoumschreibung den Versicherungsnehmer die Beweislast (RS0043438). Der Versicherungsnehmer, der eine Versicherungsleistung behauptet, muss die anspruchsbegründende Voraussetzung des Eintritts des Versicherungsfalls beweisen (RS0080003).

[15] 2.2. Im vorliegenden Fall hat die Versicherungsnehmerin während des versicherten Zeitraums einen gebrauchten Diesel PKW erworben und begehrt Rechtsschutzdeckung für die Geltendmachung eines insbesondere auf § 1295 ABGB sowie § 874 ABGB gestützten Anspruchs auf Ersatz des Minderwerts (30 % des Kaufpreises) gegen die Herstellerin wegen des Kaufs eines Fahrzeugs, dessen Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeliefert worden sei. Die Rechtsansicht des Erstgerichts, damit habe die Klägerin den Versicherungsfall schlüssig dargelegt, entspricht der Rechtsprechung des Fachsenats (vgl etwa 7 Ob 91/22s; 7 Ob 61/22d; 7 Ob 130/22a; 7 Ob 45/23b; 7 Ob 89/23y).

[16] 2.3. Die Klägerin stellte auch die Behauptung auf, dass sie mit Rechtsschutzdeckung gegen die Herstellerin V* AG vorzugehen beabsichtige. Dies wurde von der Beklagten im erstinstanzlichen Verfahren nicht nur nicht bestritten, sondern ihrem eigenen Vorbringen sogar ausdrücklich zugrunde gelegt. Ihre Revisionsausführungen zur allfälligen fehlenden Herstellereigenschaft der V* AG verstoßen damit gegen das Neuerungsverbot (§ 504 Abs 2 ZPO; 7 Ob 82/23v [2.5.1]).

[17] 3.1. In der Rechtsschutzversicherung ist bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten kein strenger Maßstab anzulegen (RS0081929). Eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs genügt (RS0117144).

[18] 3.2. Dass das anspruchsbegründende Vorbringen der Klägerin nicht unschlüssig ist, eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs besteht und die von der Beklagten erhobenen Einwände als Tatfragen im Haftpflichtprozess zu beurteilen und für die Deckungspflicht unbeachtlich sind, hat der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen (vgl 7 Ob 61/22d; 7 Ob 129/22d; 7 Ob 130/22a). Die von der Beklagten erhobenen Einwände, dem Erwerber eines gebrauchten Fahrzeugs stünden keine Schadenersatzansprüche gegen die Herstellerin zu (Klägerin sei nicht getäuscht worden; allfällige Höhe einer Vorteilsanrechnung), sind als Tat und – von österreichischen Gerichten bisher nicht gelöste – Rechtsfragen im Haftpflichtprozess zu beurteilen und daher für die Deckungspflicht unbeachtlich (vgl 7 Ob 82/23v mwN).

[19] 3.3. Der Klägerin ist daher auch bereits deshalb in diesem Zusammenhang keine Obliegenheitsverletzung gemäß Art 8.1.1. ARB 2015 zur Last zu legen.

[20] 4. Da die Voraussetzungen für die Rechtsschutzdeckung der Beklagten vorliegen, ist der Revision der Klägerin Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

[21] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO.

Rechtssätze
6
  • RS0107031OGH Rechtssatz

    11. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommene Gefahr einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zweckes und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhanges erfordert. Den Beweis für das Vorliegen eines Risikoausschlusses als Ausnahmetatbestand hat der Versicherer zu führen.

  • RS0080166OGH Rechtssatz

    11. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Bei der Risikobegrenzung wird von Anfang an ein bestimmter Gefahrenumstand von der versicherten Gefahr ausgenommen, ohne dass es dabei auf ein schuldhaftes, pflichtwidriges Verhalten des Versicherungsnehmers ankäme. Obliegenheiten hingegen fordern gewisse Verhaltensweisen des Versicherungsnehmers und bestimmte Rechtsfolgen nur für ihre willkürliche und schuldhafte Verletzung.