JudikaturJustiz5Ob190/23m

5Ob190/23m – OGH Entscheidung

Entscheidung
30. November 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi, die Hofrätin Dr. Weixelbraun Mohr und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person P*, geboren am *, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des einstweiligen Erwachsenenvertreters Dr. H*, Rechtsanwalt, *, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 7. September 2023, GZ 54 R 186/23h 15, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Das Rekursgericht bestätigte die vom Erstgericht vorgenommene Bestellung eines Rechtsanwalts zum einstweiligen Erwachsenenvertreter zur Besorgung bestimmter dringende r Angelegenheiten ( Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten; Entscheidung über medizinische Behandlungen und Abschluss von damit in Zusammenhang stehenden Verträgen; Änderung des Wohnortes und Abschluss von Heimverträgen; Abschluss von Rechtsgeschäften; Vertretung bei Geltendmachung sozialer Leistungen und in Aufenthaltsangelegenheiten).

[2] Der Rechtsanwalt beantragt mit seinem außerordentlichen Revisionsrekurs, die Entscheidung des Rekursgerichts dahin abzuändern, dass er des Amts als einstweiliger Erwachsenenvertreter enthoben werde. Er lehne die Übernahme der Erwachsenenvertretung ab. Dies es Ablehnungsrecht stehe ihm nach § 275 Z 1 ABGB zu, weil i m vorliegenden Fall die Besorgung der Angelegenheiten nicht überwiegend Rechtskenntnisse erfordere.

Rechtliche Beurteilung

[3] Damit zeigt der Rechtsmittelwerber keine erhebliche Rechtsfrage iSv § 62 Abs 1 AußStrG auf.

[4] 1. Wenn es das Wohl der betroffenen Person erfordert, so hat ihr nach § 120 Abs 1 AußStrG das Gericht zur Besorgung dringender Angelegenheiten längstens für die Dauer des Verfahrens einen einstweiligen Erwachsenenvertreter mit sofortiger Wirksamkeit zu bestellen. Nach § 120 Abs 3 AußStrG gelten – von einem hier nicht relevanten Sonderfall abgesehen – für die einstweilige Erwachsenenvertretung die Regelungen über die gerichtliche Erwachsenenvertretung.

[5] Nach einhelliger Auffassung sind daher die Regeln der §§ 273 ff ABGB für die Auswahl des Erwachsenenvertreters auch auf die Auswahl eines Rechtsbeistands im Verfahren und eines einstweiligen Erwachsenenvertreters anzuwenden (RIS-Justiz RS0110987 [T2, T4]; RS0048291).

[6] 2. Die Voraussetzungen der Bestellung eines einstweiligen Erwachsenenvertreters sind demnach gemäß den Vorgaben der §§ 273 ff ABGB zu prüfen (4 Ob 41/23t). Das Pflegschaftsgericht ist daher auch dabei grundsätzlich an den gesetzlichen „Stufenbau“ des § 274 ABGB gebunden. Wenn – wie hier – weder eine vom Betroffenen selbst gewählte noch eine ihm nahestehende Person, oder ein Vereins-Erwachsenenvertreter zur Verfügung steht, so ist grundsätzlich ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder Notar (Notariatskandidat) zu bestellen (RS0123297).

[7] Angehörige d ieser Rechtsberufe müssen nach § 275 ABGB gerichtliche Erwachsenenvertretungen grundsätzlich übernehmen, es sei denn, es liegt ein in dieser Bestimmung genannter Ablehnungsgrund vor. Die Möglichkeit der Ablehnung nach § 275 ABGB gilt dabei nur für jene Notare (Notariatskandidaten) oder Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsanwärter), die nicht aufrecht in die von den jeweiligen Kammern zu führenden Listen als zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeignete Notare oder Rechtsanwälte eingetragen sind (6 Ob 125/23k; 1 Ob 41/22v; RS0123440 [T13]).

[8] Eine Ablehnung nach § 275 Z 1 ABGB setzt voraus, dass die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert.

[9] 3. Der Revisionsrekurswerber ist unstrittig nicht in die Liste nach § 28 Abs 1 lit o RAO eingetragen. Ihm kommt daher nach § 275 Z 1 ABGB grundsätzlich ein Ablehnungsrecht zu, wenn als weitere Voraussetzung die Besorgung der ihm übertragenen Angelegenheiten nicht überwiegend Rechtskenntnisse erfordert (6 Ob 125/23k; 4 Ob 41/23t).

[10] Bei der einzelfallbezogenen Beurteilung, ob Angelegenheiten zu besorgen sind, für die vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind, kommt dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zu (6 Ob 125/23k; RS0117452 [T2]; RS0087131). Rechtliche Fachkenntnisse werden in der Regel für die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten (insbesondere zur Durchsetzung von Ansprüchen) oder für den Abschluss komplizierter Verträge erforderlich sein (6 Ob 125/23k; 5 Ob 40/23b). Es muss eine Angelegenheit vorliegen oder konkret absehbar sein, die von einer Person ohne juristische Ausbildung nicht eigenständig erfüllt werden könnte. Die bloß abstrakte Möglichkeit, dass in Zukunft Prozesse und Verfahren anfallen oder Rechtskenntnisse künftig von Vorteil sein könnten, genügt nicht. Vielmehr müssen diese Angelegenheiten aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein (6 Ob 125/23k; 4 Ob 41/23t).

[11] Wenn das Rekursgericht im konkreten Fall aufgrund des laufenden, wegen der ausländischen Staatsbürgerschaft des Betroffenen und seines Aufenthaltsstatus rechtlich komplexeren Pflegegeldverfahrens und einer Lebenssituation, die die Notwendigkeit von Rechtskenntnissen indiziert (befristeter Aufenthaltstitel; Vorstrafenbelastung mit offener P robezeit und B ewährungshilfe; Veränderung des Wohnorts durch Kündig ung eines Mietvertrags und Abschluss eines Heimvertrags ; Sicherstellung der Finanzierung der Heimunterbringung und der notwendigen medizinischen V ersorgung trotz dieser Lebensumstände) davon ausging, es sei ein Notar oder Rechtsanwalt zu bestellen, weil die Besorgung der Angelegenheiten vorwiegend Rechtskenntnisse erfordere, hat es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten ( v gl 4 Ob 83/23v; 3 Ob 102/21b).

[12] Eine Fehlbeurteilung des Rekursgerichts, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste, zeig t d er Rechtsanwalt in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs nicht auf. D as Rekursgericht hat auf die vo n ihm ins Treffen geführte Unterschiedlichkeit der Ergebnisse, die der Oberste G erichtshof in einzelnen der bereits zitierten En tscheidungen gewonnen hat, ausdrücklich Bezug genommen und damit zutreffend den Rahmen für seine eigene einzelfallbezogene Beurteilung abgesteckt.

[13] 4. Mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG war der Revisionsrekurs daher zurückzuweisen.

Rechtssätze
6
  • RS0123297OGH Rechtssatz

    30. November 2023·3 Entscheidungen

    Nach den Gesetzesmaterialien verfolgt der neue § 279 ABGB unter anderem das Ziel, jene Personenkreise abschließend zu regeln, die für die Bestellung als Sachwalter potenziell in Frage kommen. Dabei ist ein Stufenbau vorgesehen. Primär ist als Sachwalter eine von der betroffenen Person selbst gewählte oder von einer nahe stehenden Person empfohlene Person (§ 279 Abs 1 Satz 2 ABGB) heranzuziehen. Sekundär (mangels Wahl beziehungsweise Anregung oder bei fehlender Eignung der vorgeschlagenen Person) ist ein der betroffenen Person nahe stehender Mensch zum Sachwalter zu bestellen (§ 279 Abs 2 ABGB). Ist eine solche geeignete Person nicht verfügbar, ist (mit dessen Zustimmung) der örtlich zuständige Sachwalterverein nach § 1 VSPAG zu bestellen (§ 279 Abs 3 Satz 1 ABGB). Ist ein Vereinssachwalter nicht verfügbar (etwa mangels freier Kapazitäten), so ist ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder Notar (Notariatskandidat) oder - mit ihrer Zustimmung - eine andere geeignete Person zu bestellen (§ 279 Abs 3 Satz 2 ABGB). Rechtsanwälte und Notare (nicht aber Berufskandidaten) trifft nach Maßgabe des § 274 Abs 2 ABGB die Verpflichtung, Sachwalterschaften zu übernehmen. Nur wenn die Besorgung der Angelegenheiten der behinderten Person besondere Fachkenntnisse erfordert, ist von Vornherein - je nach der notwendigen Expertise - ein Rechtsanwalt oder Notar beziehungsweise der Sachwalterverein zum Sachwalter zu bestellen (§ 279 Abs 4 ABGB). Unter Berücksichtigung dieser Prioritätenreihung muss aber im Mittelpunkt der Entscheidung über die Auswahl eines Sachwalters immer das Wohl der betroffenen Person stehen.