JudikaturJustiz2Ob177/11k

2Ob177/11k – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Mai 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** K*****, (nunmehr) vertreten durch Dr. Karl Muzik, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W*****AG, *****, vertreten durch Dr. Christian Leskoschek, Rechtsanwalt in Wien, wegen 5.678,74 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 12. Juli 2011, GZ 37 R 83/11x 26, womit das Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 18. Jänner 2011, GZ 20 C 146/10p 22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 2.839,37 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 10. 2007 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei auch schuldig, der klagenden Partei weitere 2.839,37 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 10. 2007 zu bezahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 946,37 EUR (darin 90,16 EUR USt und 405,69 EUR Barauslagen) bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 28. 9. 2007 ereignete sich in Wien auf dem Kreisverkehr Kratochwjlestraße - Leonard-Bernstein-Straße - Ein-/Ausfahrt UNO-City ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker seines Motorrads und R***** R***** als Lenkerin eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren. Der Kreisverkehr weist einen Außenradius von etwa 28 m und einen Innenradius von ca 13 m auf. Die Fahrbahnbreite beträgt etwa 7,5 m, davon sind im Kreisinneren etwa 2,5 m mit Kleinsteinpflaster belegt.

Der Kläger näherte sich aus der Leonard Bernstein-Straße kommend dem Kreisverkehr, die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs kam aus der (aus Sicht des Klägers) rechts davon gelegenen Ausfahrt der UNO-City. Vor beiden Einmündungen ist das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ angebracht, außerdem sind Begrenzungslinien markiert. Die beiden Mündungstrichter sind nur rund 10 m voneinander entfernt.

Der Kläger hatte seine Geschwindigkeit bis ca 4 m vor der Begrenzungslinie auf 5 bis 10 km/h reduziert. Sodann beschleunigte er und fuhr nach rechts in den Kreisverkehr ein, wo er eine „um etwa einen Meter nach rechts von der Fahrbahnmitte versetzte“ Fahrlinie einhielt.

Unterdessen war auch die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs in den Kreisverkehr eingefahren. Sie hatte zuvor in einer Position angehalten, in der sich die linke Frontecke ihres Fahrzeugs auf Höhe der Begrenzungslinie befand. Bei ihrem Blick nach links konnte sie kein im Kreisverkehr herannahendes Fahrzeug sehen. Als sie sich daraufhin entschloss, in den Kreisverkehr einzufahren, befand sich das Motorrad noch außerhalb des Kreisverkehrs im Bereich des Mündungstrichters. Dieser war für die Pkw Lenkerin nicht einsehbar, weil ihr eine links von ihr auf einem Fahrbahnteiler stehende Säule samt einer daran befestigten Tafel die Sicht auf diese Einmündung nahm. Sie fuhr in einem Zug in den Kreisverkehr ein. Nach ca 3 Sekunden und einer Wegstrecke von 8,5 m erreichte sie ihre Kollisionsposition. Die Kollisionsgeschwindkeit des Beklagtenfahrzeugs betrug ca 20 km/h. Die Pkw-Lenkerin bemerkte die Annäherung des Motorrads erst so knapp vor der Kollision, dass ihr Bremseinsatz mit dem Erstkontakt der beiden Fahrzeuge zusammenfiel.

Der Kläger legte bis zur Kollisionsstelle rund 15 m im Kreisverkehr zurück. Etwa 2,15 Sekunden und rund 12 m vor Erreichen seiner Kollisionsposition bemerkte er das von rechts in den Kreisverkehr einfahrende Beklagtenfahrzeug, das sich in diesem Augenblick noch etwa 6 m von der Kollisionsstelle entfernt befand. Der Kläger reagierte „auf das Auffälligwerden des Losfahrens“ des Beklagtenfahrzeugs mit einer Reaktionsverspätung von ca 0,15 Sekunden, indem er eine Vollbremsung einleitete und nach links auslenkte. Dennoch kam es zu einem „hart streifenden“ Kontakt zwischen der linken Seite des Pkws auf Höhe der Fahrertür und des linken Außenspiegels sowie der rechten Seite des Motorrads. Durch seine Abwehrmanöver hatte der Kläger die Geschwindigkeit des Motorrads bis zur Kollision auf ca 22 km/h vermindert.

Der Kläger begehrte Schadenersatz von zuletzt 5.678,74 EUR sA und brachte vor, die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs sei ohne Beachtung des im Kreisverkehr herannahenden und daher bevorrangten Motorrads selbst in den Kreisverkehr eingefahren und habe dadurch seinen Vorrang verletzt.

Die beklagte Partei wandte ein, die Pkw Lenkerin habe keine Vorrangverletzung zu verantworten, weil sie vor dem Kläger in den Kreisverkehr eingefahren sei. Auf das auf den Kreisverkehr zufahrende Motorrad habe sie keine Sicht gehabt. Das Alleinverschulden treffe den Kläger, der unachtsam und mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stützte sich auf den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt und erörterte rechtlich, die Vorrangsituationen an den beiden Kreuzungen der Einfahrten in den Kreisverkehr seien unabhängig voneinander zu beurteilen. So erstrecke sich der vom Kläger bei seiner Einfahrt in den Kreisverkehr zu beachtende Vorrang nicht auf das Beklagtenfahrzeug, das diese (erste) Kreuzung gar nicht befahren habe. Zu der darauf folgenden Kreuzung sei der Kläger bereits im Kreisverkehr gefahren, sodass die Pkw Lenkerin - obwohl sie vor dem Kläger in die (zweite) Kreuzung eingefahren sei - aufgrund des Vorschriftszeichens „Vorrang geben“ ihm gegenüber gemäß § 19 Abs 4 StVO benachrangt gewesen sei. Der Pkw-Lenkerin sei vorzuwerfen, dass sie vor dem Losfahren die Möglichkeit eines sich aus der vorangehenden Einfahrt dem Kreisverkehr nähernden Fahrzeugs nicht berücksichtigt habe. Sie hätte den beschränkten Sichtverhältnissen durch Vortasten Rechnung tragen müssen. Das Einfahren in die Kreuzung in einem Zug stelle jedenfalls eine Vorrangverletzung dar. Dieser gegenüber sei die geringfügige Reaktionsverspätung des Klägers von 0,15 Sekunden zu vernachlässigen. Da sonstige Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Klägers nicht vorlägen, sei vom Alleinverschulden der Pkw-Lenkerin auszugehen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, wonach die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs damit habe rechnen müssen, dass aus der vorangehenden Einfahrt ein Verkehrsteilnehmer in den Kreisverkehr einfahren würde, dem gegenüber sie dann benachrangt sei. Der Umstand, dass sich das Motorrad bei Fassen ihres Losfahrentschlusses noch knapp außerhalb des Kreisverkehrs befunden habe, habe sie nicht von ihrer Wartepflicht entbunden.

Die Revision sei zulässig, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Frage vorliege, „wieweit im Falle eines Kreisverkehrs, bei dem die Einfahrenden benachrangt sind, die Wartepflicht bei einer Einfahrt Auswirkungen auf die Vorrangverhältnisse bei der darauffolgenden Einfahrt hat“.

Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen zu Unrecht von einer Vorrangverletzung durch die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs ausgegangen sind. Sie ist auch teilweise berechtigt.

Die beklagte Partei macht geltend, die Pkw Lenkerin sei zeitlich und örtlich (aus Sicht des Klägers) vor dem Motorrad in den Kreisverkehr eingefahren. Hätte sie tatsächlich mit aus der vorherigen Einmündung kommenden Fahrzeugen rechnen müssen, hätte sie konsequenterweise nie in den Kreisverkehr einfahren dürfen. Der Unfall sei auf die unangemessene Fahrweise des Klägers zurückzuführen.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu wurde erwogen:

1. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs trifft bei einer Schutzgesetzverletzung den Geschädigten die Beweislast für den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes, wobei der Nachweis der Tatsache ausreichend ist, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Der Schädiger hat dagegen zu beweisen, dass ihm die objektive Übertretung der Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, etwa weil ihn an der Übertretung kein Verschulden traf (2 Ob 152/11h mwN; RIS-Justiz RS0112234).

Stützt der Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch auf eine Vorrangverletzung, so hat er den von der Schutznorm erfassten Tatbestand, also das Bestehen einer Vorrangsituation nachzuweisen (2 Ob 181/97z; 2 Ob 23/09k; 2 Ob 152/11h). Dies setzt die Klärung der Frage voraus, welches Fahrzeug aus welcher Straße kam und in welchem Verhältnis die betreffenden Verkehrsflächen zueinander stehen (2 Ob 181/97z; 2 Ob 152/11h; RIS-Justiz RS0112234).

2. § 2 Abs 1 Z 3c StVO definiert den Kreisverkehr als eine kreisförmige oder annähernd kreisförmig verlaufende Fahrbahn, die für den Verkehr in eine Richtung bestimmt ist. Die Anbringung des Vorschriftszeichens „Vorrang geben“ vor einer Begrenzungslinie verpflichtet zur Wahrung des Vorrangs des Verkehrs jenseits der Begrenzungslinie (vgl RIS-Justiz RS0074269), hier also des Verkehrs auf dem Kreisverkehr.

Als die Lenkerin des Beklagtenfahrzeugs den Entschluss fasste, aus ihrer Stillstandposition loszufahren, befuhr kein anderes Fahrzeug den - für sie uneingeschränkt überblickbaren (die festgestellte Sichtbehinderung betraf einen Bereich im Mündungstrichter der vorherigen Einfahrt) - Kreisverkehr. Das - für sie nicht sichtbare - Klagsfahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der bevorrangten Verkehrsfläche im Mündungstrichter der Leonard-Bernstein-Straße. Beim Losfahren des Beklagtenfahrzeugs lag somit noch keine Vorrangsituation vor. Unter diesen Umständen hat der Kläger schon den ihm obliegenden Beweis der objektiven Übertretung der Schutznormen des § 19 Abs 4 und 7 StVO durch die Pkw Lenkerin nicht erbracht. Dieser ist deshalb entgegen der Meinung der Vorinstanzen keine Vorrangverletzung anzulasten (idS auch zur deutschen Rechtslage OLG Hamm NZV 2000, 413 = DAR 2000, 316; vgl auch LG Detmold DAR 2005, 222; Zieres in Geigel , Der Haftpflichtprozess 26 Kap 27 Rn 253).

3. Es lag daher an sich am Kläger, seine Fahrgeschwindigkeit an die gegebenen Verhältnisse anzupassen (§ 20 Abs 1 StVO), wozu es auch gehörte, dass er mit einem aus der rechts von ihm gelegenen Einmündung zeitlich noch vor ihm in den Kreisverkehr einfahrenden Fahrzeug rechnen musste. Fuhr der Kläger auf das Beklagtenfahrzeug seitlich auf, weil er seine Geschwindigkeit nicht rechtzeitig zu reduzieren vermochte, traf ihn daher jedenfalls selbst ein Verschulden an der Kollision.

Andererseits war aber auch die Pkw-Lenkerin angesichts der im Unfallbereich insgesamt doch schwierig zu beurteilenden Vorrangsituation zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet (2 Ob 119/08a mwN). Diese Verpflichtung umfasste auch die Beobachtung des Verkehrsgeschehens im Mündungstrichter der nur rund 10 m entfernten vorherigen Einfahrt, musste sie doch jederzeit mit einem von dort - knapp vor oder nach ihr oder gar gleichzeitig - in den Kreisverkehr einfahrenden Fahrzeug rechnen. Da der Pkw Lenkerin aus ihrer Stillstandposition die Sicht auf den Mündungstrichter verwehrt war, hätte sie - wie die Vorinstanzen insoweit richtig erkannten - nur mit besonderer Vorsicht und unter weiterer Beobachtung auch des links von ihr gelegenen Bereichs der Kreisfahrbahn in dieselbe einfahren dürfen.

Im Hinblick auf die etwa gleich schwer wiegenden Sorgfaltswidrigkeiten beider Fahrzeuglenker erscheint eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 angemessen.

4. Die Urteile der Vorinstanzen sind demnach in teilweiser Stattgebung der Revision in diesem Sinne abzuändern.

Die neu zu fassende Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 1, § 50 ZPO.

Der Kläger ist in den drei Verfahrensabschnitten des Verfahrens erster Instanz mit 31 %, 46 % und 50 % durchgedrungen. Das bedeutet, dass er der beklagten Partei 38 % der Kosten des ersten Abschnitts zu ersetzen hat. Die von der beklagten Partei verzeichneten Kosten für die Schriftsätze vom 20. 4. 2010 und 12. 8. 2010 dienten allerdings nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung und sind daher nicht zuzusprechen. In den beiden weiteren Verfahrensabschnitten ist mit Kostenaufhebung vorzugehen. Letzteres gilt auch für das Rechtsmittelverfahren. Die von den Parteien in allen Instanzen getragenen Pauschal- und Sachverständigengebühren sind nach der jeweiligen Obsiegensquote zu ersetzen.

Rechtssätze
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