JudikaturJustiz2Ob160/23b

2Ob160/23b – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. September 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon. Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Dr. Schartner § Mag. Kofler Rechtsanwälte GmbH in Altenmarkt im Pongau, gegen die beklagte Partei K*, vertreten durch Mag. Friedrich Kühleitner Mag. Franz Lochbichler Rechtsanwälte-Strafverteidiger OG in Schwarzach im Pongau, wegen 31.130 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 22. Juni 2023, GZ 1 R 76/23m 36, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 24. März 2023, GZ 8 Cg 7/23g 27, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.450,40 EUR (darin 408,40 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Am 17. 6. 2022 ereignete sich auf der Salzachtal-Bundesstraße B159 bei Straßenkilometer 33,2 ein Verkehrsunfall, an dem einerseits der Kläger mit seinem Motorrad der Marke KTM und andererseits der von der Beklagten gehaltene LKW beteiligt waren. Beide Fahrzeuge waren auf der Bundesstraße in Fahrtrichtung Salzburg unterwegs.

[2] Der Lenker des LKW wollte von der Bundesstraße in einen Güterweg nach links (in Fahrtrichtung der Fahrzeuge gesehen) einbiegen. Wegen des Gegenverkehrs hielt der LKW auf Höhe der Einfahrt zum Güterweg an. Die Einfahrt befand sich in einer Rechtskurve der Bundesstraße. Hinter dem LKW kamen zwei PKW zum Stillstand. Der Kläger, der von zwei weiteren Motorradfahrern begleitet wurde, konnte in der Kurve wegen der von ihm gewählten Geschwindigkeit von 110 bis 120 km/h nicht mehr rechtzeitig hinter den stehenden Fahrzeugen anhalten. Er wich deshalb nach links aus, kam dabei zu Sturz und verletzte sich schwer.

[3] Der Lenker des LKW wollte zum Güterweg abbiegen, um in weiterer Folge auf diesem Weg zu einem Grundstück (im Folgenden „Deponie“) zu gelangen und dort Schwemmmaterial von einer Wildbachräumung abzulagern. Diese landwirtschaftlichen Aufschüttungen nahm die Beklagte zum Unfallszeitpunkt bereits seit einer Woche vor (auch zu anderen Grundstücken). Für die notwendigen Fahrten über die Bundesstraße mit LKW (auch) zur gegenständlichen „Deponie“ erhielt die Beklagte von der zuständigen Bezirkshauptmannschaft noch vor dem Unfall eine bescheidmäßige Ausnahmegenehmigung, die mit der erforderlichen Wildbachräumung begründet wurde.

[4] Zum Unfallszeitpunkt bestanden keine behördlichen Auflagen zur Absicherung der Zufahrt. Erst nach dem Unfall wurde ein davor von der Beklagten bei der Bezirkshauptmannschaft gestellter Antrag auf straßenpolizeiliche Bewilligung der Sicherung der Zufahrten von der Bundesstraße zur „Deponie“ gemäß § 90 StVO bewilligt. Der Beklagten wurden mit diesem zweiten Bescheid auch bestimmte Auflagen erteilt.

[5] Der Kläger stützt seinen Schadenersatzanspruch – soweit für das drittinstanzliche Verfahren noch von Relevanz – darauf, dass im Anlassfall eine Absicherung der Baustelle gefehlt habe und § 90 StVO Anwendung finde. Die Beklagte treffe das Alleinverschulden, weil sie die Schutznorm des § 90 StVO und ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt habe.

[6] Die Beklagte wandte das Alleinverschulden des Klägers ein. Dieser habe der Straße nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zugewendet und sei zu schnell unterwegs gewesen. Der LKW-Lenker habe den Linksabbiegevorgang ordnungsgemäß angezeigt. Der Unfall stehe in keinem Zusammenhang mit dem Betrieb der „Deponie“. Für das Zufahren mit LKW über die Bundesstraße sei eine entsprechende Bewilligung erteilt worden.

[7] Das Erstgericht ging davon aus, dass dem Kläger insgesamt ein Schaden in der Höhe von 27.110 EUR entstanden sei, sprach ihm (unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens) davon 50 % zu und gab dem Feststellungsbegehren im Ausmaß von 50 % statt. Dem Kläger sei überhöhte Geschwindigkeit und ein Verstoß gegen das Fahren auf Sicht vorzuwerfen. Der Beklagten warf das Erstgericht einen Verstoß gegen § 90 StVO vor. Diese habe zwar um die straßenpolizeiliche Bewilligung zur Sicherung der Zufahrt zu den Schüttflächen angesucht, die „Deponie“ allerdings bereits in Betrieb genommen, ohne den bewilligenden Bescheid samt den darin vorgesehenen Auflagen abzuwarten.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht, hingegen jener der Beklagten Folge und wies die Klage zur Gänze ab. § 90 Abs 1 StVO sei nicht anzuwenden, weil diese Regel nur Arbeiten auf oder neben der Straße erfasse, die den Straßenverkehr beeinträchtigen. Es müsse sich dabei um Bauarbeiten handeln, zumindest aber um Tätigkeiten, die mit Bauführungen und Abtragungen in einem unmittelbaren Zusammenhang stünden, wie zB Lagerung von Baustoffen oder Bauschutt, Aufstellung von Baugerüsten und Baumaschinen. Im Anlassfall seien keine Verkehrsbehinderungen durch die Aufschüttungsarbeiten bei der „Deponie“ behauptet worden. Es gehe ausschließlich um das Linksabbiegen des LKW von der Bundesstraße auf den bereits zuvor bestehenden Wirtschaftsweg, damit der LKW in weiterer Folge zur „Deponie“ zufahren könne. Es sei nicht ersichtlich, dass die für andere Verkehrsteilnehmer ergebenden Gefahren irgendwie anders gelagert gewesen wären, wenn der LKW nicht nach mehr oder weniger kurzer Strecke am Güterweg auf ein Grundstück zugefahren wäre, sondern die Baustelle hunderte Meter oder gar Kilometer von der Straße entfernt gewesen wäre. Bei einer solchen Entfernung wäre aber – trotz völlig gleichartiger Gefahrenlage – schon aufgrund des Wortlauts des § 90 Abs 1 StVO („neben der Straße“) die Bestimmung nicht anwendbar. Ein Bauführer, der Arbeiten auf einem Grundstück neben einer Straße durchführen lässt und dabei (nur) genau jene Verkehrsbeeinträchtigungen verursacht wie ein Bauführer, dessen Grundstück weit davon entfernt liegt, brauche daher keine Bewilligung nach § 90 Abs 1 StVO. Er hafte weder für die verspätete Beantragung einer Bewilligung noch die Missachtung erteilter Auflagen. Vielmehr setze § 90 Abs 1 StVO voraus, dass die Verkehrsbeeinträchtigungen mit der Nähe der Baustelle zur Straße unmittelbar zusammenhängen. Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang (zB bei einem baustellenbedingten längeren Abbiegevorgang) liege hier nicht vor. Mangels Anwendbarkeit des § 90 Abs 1 StVO habe kein Anlass bestanden, eine Bewilligung zur Absicherung der Zufahrt bei der Behörde einzuholen, weshalb der Beklagten auch nicht vorgeworfen werden könne, sie habe den (zweiten) Bescheid nicht abgewartet.

[9] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil diese einschränkende Auslegung des § 90 Abs 1 StVO über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung habe.

[10] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im stattgebenden Sinn.

[11] Die Beklagte macht in ihrer Revisionsbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision geltend; sie tritt ihr auch inhaltlich entgegen.

[12] Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[13] 1. Die hier zu prüfende Bestimmung des § 90 Abs 1 StVO lautet:

„Wird durch Arbeiten auf oder neben der Straße der Straßenverkehr beeinträchtigt, so ist hiefür unbeschadet sonstiger Rechtsvorschriften eine Bewilligung der Behörde erforderlich. Die Bewilligung ist auf Antrag des Bauführers zu erteilen, wenn die Beeinträchtigung nicht wesentlich ist oder wenn es möglich ist, für die Aufrechterhaltung der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs in anderer Weise zu sorgen.“

[14] 2. Die bisherige Judikatur prüfte Verstöße gegen § 90 StVO (zB Umfang der Absicherungen, Einholung von Bewilligungsbescheiden und deren Befolgung) ausschließlich dann, wenn sich der Unfall im Zusammenhang mit Bauarbeiten oder Baustellen (auch) direkt auf oder neben der Straße ereignete (zB 2 Ob 201/77 [Hineinragen einer Spleißgrube in die Fahrbahn]; 8 Ob 95/78 ZVR 1979/154 [Arbeiten im Bereich des Banketts]; 2 Ob 136/78 ZVR 1979/223 [Absicherung einer Straßenbaustelle]; 2 Ob 46/84 [Absperrung einer Straßenbaustelle]; 2 Ob 2171/96w [Betonleitwände entlang der Fahrbahn]; 2 Ob 157/09s [Baustelle auf Fahrbahn] etc).

[15] 3. Das entspricht dem Normzweck des § 90 Abs 1 StVO. Diese Regel will durch die Bewilligungspflicht eine Gefährdung oder Behinderung des Verkehrs durch die Arbeiten verhindern ( ErläutRV 22 BlgNR 9. GP 70 ). Der Gesetzgeber sieht eine behördliche Bewilligungspflicht folgerichtig nur wegen der mit den Arbeiten verbundenen Gefahren oder Behinderungen vor. Somit sind vom Normzweck des § 90 StVO (nur) jene zusätzlichen Gefahren umfasst, die mit den Arbeiten auf oder neben der Fahrbahn einhergehen. Es ist erforderlich, dass die für den Verkehr verbundenen Beeinträchtigungen (= Gefahren oder Behinderungen) bei den Arbeiten auf oder neben der Straße über jene Gefahren hinausgehen müssen, die typischerweise bereits mit dem Straßenverkehr an sich verbunden sind.

[16] 4. Eine von § 90 StVO umfasste Gefahrenquelle, die nicht typischerweise mit dem Straßenverkehr an sich verbunden ist, sondern darüber hinaus geht, könnte etwa darin liegen, dass durch die Arbeiten die Fahrbahn verengt, verschmutzt oder ihr Passieren sonst (etwa durch Bauarbeiter, Materialien, Maschinen oder andere Hindernisse) beeinträchtigt wird und/oder es zu Gegenverkehrssituationen kommt. Diese Beeinträchtigungen verwirklichen wegen der damit – über den normalen Straßenverkehr hinausgehenden – verbundenen Gefahrenquellen den beschriebenen Normzweck des § 90 Abs 1 StVO.

[17] 5.1 Im hier zu beurteilenden Fall haben die Arbeiten der Beklagten auf der – durch einen eigenen Zufahrtsweg zur Bundesstraße verbundenen – „Deponie“ den Straßenverkehr auf der Bundesstraße nicht iSd § 90 Abs 1 StVO beeinträchtigt. Es hat sich damit keine Gefahr verwirklicht, die spezifisch mit den Arbeiten auf der „Deponie“ verbunden waren. Vielmehr hat sich durch den Unfall nur bloß eine allgemeine mit dem Straßenverkehr verbundene Gefahr verwirklicht. Arbeiten „auf oder neben der Straße“ lagen nicht vor.

[18] 5.2 Der bloße Umstand, dass sich durch den Transport des Schwemmmaterials zur „Deponie“ die Frequenz von LKW auf der Bundesstraße und die Abbiegevorgänge zum Güterweg erhöhten, reicht für die Anwendung des § 90 Abs 1 StVO nicht aus. Die von der Beklagten vorgenommenen Aufschüttungsarbeiten haben nämlich keine Verkehrsbehinderungen nach sich gezogen, die mit dem Unfall im (unmittelbaren) Zusammenhang stehen. Vielmehr hat sich der Verkehrsunfall ausschließlich im Zusammenhang mit einem gemäß der StVO ordnungsgemäß durchgeführten Abbiegevorgang ereignet. Mit abbiegenden Fahrzeugen muss auf einer Bundesstraße aber immer gerechnet werden. Der Kläger wäre verpflichtet gewesen, auf Sicht zu fahren (vgl RS0074750 ).

[19] 6. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass von § 90 StVO nicht jegliche mittelbaren Auswirkungen von Arbeiten auf den Straßenverkehr umfasst sind, findet auch Deckung in der Rechtsprechung zu § 90 StVO iVm § 32 Abs 6 ZPO. Demnach trifft einen Bauführer, der Arbeiten auf oder neben einer Straße ausführt, eine Verkehrssicherungspflicht zur Kennzeichnung und Absicherung der Baustelle . ( 2 Ob 2171/96w mwN). Daraus kann für den hier zu beurteilenden Fall aber nicht abgeleitet werden, dass auch ein Zufahrtsweg zur Baustelle (hier: „Deponie“) abgesichert hätte werden müssen. Dem Berufungsgericht ist damit zuzustimmen, dass § 90 Abs 1 StVO nur dann anzuwenden ist, wenn sich die Baustelle odgl unmittelbar auf oder neben der Straße befindet.

[20] 7. Die Klage kann auch nicht auf den Umstand gestützt werden, dass die Beklagte den zweiten Bescheid nicht abgewartet hat. Wohl verstößt auch ein Bauführer, der es unterlässt, die Bewilligung der Behörde gemäß § 90 StVO einzuholen, gegen ein Schutzgesetz iSd § 1311 ABGB ( 2 Ob 157/09s mwN; 2 Ob 212/13k ; RS0027488 ; vgl RS0027415 [T13] ). Ein solcher Verstoß setzt notwendigerweise aber den Anwendungsbereich des § 90 StVO voraus, was aber bei dieser Unfallsstelle aufgrund der oben angeführten Erwägungen zu verneinen ist.

[21] 8.1 Auch abseits der Zulassungsfrage kann das Rechtsmittel keinen haftungsbegründenden Umstand aufzeigen. Mit der durch die Aufschüttung bedingten Notwendigkeit, dass der LKW mehrfach von der Bundesstraße auf den Güterweg zur „Deponie“ einbiegen musste, ist keine besondere von der Beklagten geschaffene Gefahrenquelle verbunden, die diese unter dem Gesichtspunkt von allgemeinen Verkehrssicherungspflichten ( RS0023801 ; R0023559 [T5, T7, T8]) zu besonderen Sicherungsmaßnahmen hätte veranlassen müssen.

[22] 8.2 Insoweit das Rechtsmittel auf „gefährliche Umstände“ hinweist (starker Bewuchs am Straßenrand, Sichteinschränkung, hohe Baustellenfrequenz durch schweres Gerät) findet das in den getroffenen Feststellungen keine Deckung. So betrug die Sichtweite zum Unfallszeitpunkt 105–115 Meter.

[23] 8.3 Ein Verstoß gegen allgemeine Verkehrssicherungspflichten liegt demnach nicht vor.

[24] 9. Dem Rechtsmittel war daher nicht Folge zu geben.

[25] 10. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.