JudikaturJustiz2Ob16/21y

2Ob16/21y – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P***** M*****, vertreten durch Dr. Erik Kroker und andere Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. M*****, vertreten durch Dr. Gernot Murko und andere, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, 2. S*****, vertreten durch Mag. Alexander Jelly, Rechtsanwalt in Villach, und 3. A*****, vertreten durch Dr. Robert Kerschbaumer, Rechtsanwalt in Lienz, wegen 65.271,77 EUR sA, Rente (Streitwert 36.279 EUR) und Feststellung (Streitwert 8.254,94 EUR), über die außerordentlichen Revisionen der erstbeklagten und der zweitbeklagten Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 11. November 2020, GZ 4 R 95/20b 99, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentlichen Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der Ehemann der Klägerin verunglückte am 22. 7. 2016 bei einem Absturz von einem in Teilbereichen alpinen und ausgesetzten Wandersteig tödlich. Ursache dafür war, dass das zur Versicherung des Steigs verwendete, nicht UV-beständige Polypropylen-Seil, das der Getötete ergriffen hatte, im Zuge seines Absturzes beiderseits der Griffstelle abgerissen war.

[2] Die Klägerin begehrte von den Beklagten, die sie als Wegehalter in Anspruch nahm, ua den Ersatz der Begräbniskosten, Trauerschmerzengeld, entgangenen Unterhalt und eine monatliche Rente, wobei sie zuletzt ein Mitverschulden des Getöteten im Ausmaß von einem Viertel zugestand.

[3] Das Berufungsgericht bejahte die Wegehaltereigenschaft (§ 1319a ABGB) der Erst und der Zweitbeklagten und deren grobe Fahrlässigkeit betreffend den mangelhaften Zustand des Steigs und ging von einem Mitverschulden des Getöteten von einem Viertel aus.

[4] Mit ihren außerordentlichen Revisionen machen die Erst und die Zweitbeklagte im Wesentlichen geltend, sie seien jeweils nicht Wegehalter, hilfsweise falle ihnen jeweils keine grobe Fahrlässigkeit zur Last, hilfsweise treffe den Getöteten ein gleichteiliges Mitverschulden.

Rechtliche Beurteilung

[5] Dazu ist auszuführen:

[6] 1. Erst- und Zweitbeklagte als Wegehalter

[7] 1.1. Alle angelegten Wanderwege, alpinen Steige und versicherte Klettersteige sind Wege iSd § 1319a ABGB (RS0030333; 4 Ob 536/87; 9 Ob 4/15a mwN). Wird ein alpiner Weg eröffnet und ua mit Seilsicherungen versehen, so wird – sofern nicht später ein entsprechendes Warnschild angebracht oder eine Sperre verfügt wird – das Vertrauen erzeugt, dass dieser Weg mehr Sicherheit biete als das freie Gelände im Ödland (RS0030320). Die bei einem Klettersteig oder Kletterweg angebrachten Versicherungen – wie etwa Drahtseile – gehören als dem „Verkehr dienende Anlagen“ zum Weg (RS0030307).

[8] 1.2. Halter eines Weges ist derjenige, der die Kosten für die Errichtung und bzw oder (vgl 8 Ob 610/89; 3 Ob 36/98k; 2 Ob 78/99f) Erhaltung des Weges trägt sowie die Verfügungsmacht hat, die entsprechenden Maßnahmen zu setzen (RS0030011). Dieser Begriff des Halters ist also grundsätzlich derselbe wie der in § 5 EKHG. Mithalter haften zur ungeteilten Hand (RS0030011 [T3]; vgl auch 6 Ob 122/11a).

[9] 1.3. Die Mithaltereigenschaft wird jedenfalls durch die vertragliche Übernahme der Instandhaltung hergestellt (RS0030011 [T5, T8]). Das bloße Interesse am Bestehen einer Verkehrsfläche (etwa: Bedeutung eines Weges für den Tourismus in einer Gemeinde) begründet die Haltereigenschaft hingegen noch nicht (3 Ob 36/98k). Auch ohne vertragliche Vereinbarung kann aber Mithaltereigenschaft entstehen (vgl 8 Ob 610/89; 2 Ob 78/99f).

[10] 1.4. Nach den hier maßgeblichen Feststellungen wurde der Steig von der Zweitbeklagten um das Jahr 1900 angelegt. Damit wurde sie jedenfalls Wegehalterin. Die Feststellungen bieten keinen Anhaltspunkt, dass sie die Haltereigenschaft jemals verloren hat. Entlang des Zustiegs befinden sich mit Wissen und Billigung der Zweitbeklagten mehrere Schilder, die den Weg zu Höhlen ausweisen und auf denen die Zweitbeklagte genannt ist, was ein weiteres Indiz für ihre Haltereigenschaft ist.

[11] Die erstbeklagte Gemeinde betreute den Weg in den letzten Jahren faktisch. Bei Reklamationen über den Zustand des Weges veranlasste sie, dass der Weg durch ihre Mitarbeiter „ausgeputzt“ sowie von Laub und hineinhängenden Baum- und Strauchästen befreit wurde. Im Jahr 2015 führte die Erstbeklagte gemeinsam mit einem gemeinnützigen Unternehmen ein Projekt durch, im Zuge dessen der Weg „ausgeputzt“ und Gebüsch ausgeschnitten wurde und die Stiege zu einer der Höhlen, die sich ca 50 m nach der Unfallstelle befindet, erneuert wurde.

[12] 1.5. Legt man die unter 1.1. bis 1.3. dargestellten Kriterien an diese Feststellungen an, so begegnet die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Erst und die Zweitbeklagte seien Mithalter des Steigs, keinen Bedenken. Insoweit haben die Beklagten keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt.

[13] 2. Grobe Fahrlässigkeit

[14] 2.1. Unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB ist eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falls in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist (RS0030171). Das gilt insbesondere dann, wenn der Halter die Gefährlichkeit einer bestimmten Stelle des Weges kannte und eine zumutbare Behebung unterblieb (2 Ob 37/17f; RS0030171 [T4]; vgl zur Annahme grober Fahrlässigkeit bei Untätigkeit trotz bekannter Gefährlichkeit auch 2 Ob 235/15w; 2 Ob 120/07x; 2 Ob 53/02m).

[15] 2.2. Die Beurteilung des Verschuldens unter Anwendung der richtig dargestellten Grundsätze, ohne dass ein wesentlicher Verstoß gegen maßgebliche Abgrenzungskriterien vorläge, kann wegen ihrer Einzelfallbezogenheit nicht als die Revisionszulässigkeit eröffnende erhebliche Rechtsfrage gewertet werden (RS0087606). Das schließt auch die Beurteilung ein, ob dem Beklagten noch leichte oder bereits grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (RS0087606 [T8]).

[16] 2.3. Nach den Feststellungen wies die Seilsicherungsanlage im Unfallbereich schwere Mängel auf und war in einem äußerst schlechten Zustand. Für die Absicherung des Wandersteigs wurde zum Großteil ungeeignetes Seilmaterial, nämlich ein nicht UV-beständiges Polypropylen-Seil, verwendet. Die Fixierung der Seilversicherung entsprach nicht den allgemein anerkannten bautechnischen Empfehlungen für Klettersteige bzw mit Klettersteigen gleichzusetzenden oder vergleichbaren Absicherungen von exponierten Stellen im alpinen Gelände. Im Normalfall werden zur Fixierung geeignete Anker in den Fels geklebt. Im Bereich der Unfallstelle wurden die Seilfixierungen teilweise mit Kunststoffdübeln und Gewindeschrauben hergestellt. Beschädigte Stellen des Kunststoffseils wurden mit neuen Seilstücken ausgebessert, nicht aber das gesamte Seil ausgetauscht. Die Seile wurden in den Zwischenverankerungen nur vereinzelt fixiert. Die Steiganlage wurde im Bereich der Unfallstelle von nicht fachkundigen Personen mit ungeeigneten Seilen und Verankerungen abgesichert und mangelhaft gewartet. Einer fachlich informierten Person wäre der Instandsetzungs- und Wartungsbedarf der Seilsicherungsanlage jedenfalls aufgefallen. Im Hinblick auf den derart schlechten Zustand im Bereich der Unfallstelle und den desolaten Zustand der Seilversicherungen im unteren Teil des Weges war dies auch für eine fachlich weniger informierte Person erkennbar.

[17] Der Erstbeklagten war die Mangelhaftigkeit des Weges seit mehreren Jahren bekannt, die Zweitbeklagte wiederum kümmerte sich seit vielen Jahren gar nicht um den Weg.

[18] 2.4. Angesichts des dargestellten Zustands des Weges und der jahrelangen Untätigkeit der Erst und der Zweitbeklagten ist die einzelfallbezogene Beurteilung des Berufungsgerichts, diese Beklagten treffe entsprechend den angegebenen Kriterien (2.1.) jeweils ein grobes Verschulden, keinesfalls korrekturbedürftig. Warum den Beklagten ihr Sorgfaltsverstoß nicht subjektiv schwer anzulasten sein sollte, ist nicht nachvollziehbar, war die Mangelhaftigkeit nach den Feststellungen doch selbst für Laien ersichtlich.

[19] 3. Mitverschulden des Getöteten

[20] 3.1. Ob die Verschuldensteilung angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei der im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RS0087606 [T2]; RS0042405 [T15]).

[21] 3.2. Die Beweislast für ein allfälliges Mitverschulden trifft den Schädiger (RS0022560), hier somit die Erst und die Zweitbeklagte. Die Negativfeststellung über den genauen Unfallhergang schlägt somit zu Lasten dieser Beklagten aus. Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, aus welchem Grund der Getötete stürzte und ob er sich bereits vor seinem Sturz oder wegen seines Sturzes am Sicherungsseil festgehalten hatte.

[22] 3.3. Das Berufungsgericht hat unter Anwendung dieser Beweislastregel ausgeführt, un abhängig davon, ob der Getötete die Mangelhaftigkeit der Seilversicherung tatsächlich erkannt hatte oder hätte erkennen können, sei im Fall eines Stolperns oder Sturzes der Griff nach dem vermeintlich rettenden Seil keine bewusste Entscheidung, sondern eine instinktive Reaktion, die nicht zum Vorwurf einer Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten führen könnte.

[23] Entgegen der Ansicht der Revisionswerber ist diese Beurteilung nicht zu beanstanden. Mit diesem zugunsten der Klägerin anzunehmenden Geschehnisablauf unterscheidet sich der Fall von der Entscheidung 4 Ob 536/87, wo die Klägerin das erkennbar mangelhafte Seil bewusst vor einem Stolpern oder einem Sturz ergriffen und belastet hatte.

[24] Angesichts der Ungewissheit über den Unfallhergang ist den Beklagten jedenfalls nicht der Beweis gelungen, dass dem Getöteten eine das zugestandene Ausmaß übersteigende Sorglosigkeit zuzurechnen ist . Daher ist auch die vom Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Lasten der Erst und der Zweitbeklagten nicht korrekturbedürftig.

Rechtssätze
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