JudikaturJustiz14Ns14/17w

14Ns14/17w – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. April 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. April 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Melounek als Schriftführerin in der Strafsache gegen Salvatore P***** wegen des Vergehens des schweren und gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung in dem zu AZ 35 Hv 149/16k des Landesgerichts St. Pölten und zu AZ 34 Hv 5/17y des Landesgerichts Innsbruck zwischen diesen Gerichten geführten Zuständigkeitsstreit nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Für die Durchführung des Strafverfahrens ist das Landesgericht Innsbruck zuständig.

Text

Gründe:

Mit beim Landesgericht St. Pölten zum AZ 35 Hv 149/16k eingebrachten Strafantrag vom 22. November 2016 (AZ 9 St 250/16m) legt die Staatsanwaltschaft Innsbruck Salvatore P***** als Vergehen des schweren und gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall StGB (A) und (richtig:) das Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB (B) beurteilte Taten zur Last.

Danach soll er

(A) mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz im Strafantrag namentlich genannte Personen durch „Vortäuschung einer anderen Identität“ sowie die Vorgabe, hochwertige Lederjacken zu verschenken und aus einer Notlage heraus Geld zu benötigen, zu Handlungen (die diese oder andere am Vermögen schädigten), nämlich zur Übergaben von Bargeldbeträgen zwischen 20 und 3.800 Euro in Höhe von insgesamt 7.502 Euro verleitet haben, wobei er die Taten in der Absicht ausführte, sich durch ihre wiederkehrende Begehung längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges, nach einer jährlichen Durchschnittsbetrachtung monatlich 400 Euro übersteigendes Einkommen zu verschaffen „und unter Einsatz besonderer Mittel, nämlich minderwertiger Jacken aus Lederimitat, die eine wiederkehrende Begehung nahe legen“, handelte und zwei weitere solche Taten schon im Einzelnen geplant hatte, und zwar

I) am 16. Juni 2015, 23. Juni 2015 und 7. Juli 2015 in drei Angriffen in S*****;

II) am 13. Juni 2015 in einem Angriff in J *****;

III) am 19. Februar 2015 in einem Angriff in K *****;

IV) am 4. Dezember 2014, 7. April 2016 und 20. Juni 2016 in drei Angriffen in W*****;

V) zwischen 9. Mai und 27. Juni 2016 in vier Angriffen in S***** und

VI) am 14. Juni 2016 in einem Angriff in G*****;

(B) im Strafantrag namentlich genannten Personen fremde bewegliche Sachen, nämlich insgesamt 2.271 Euro Bargeld weggenommen haben, und zwar

I) am 17. Juni 2015 in einem Angriff in N*****;

II) am 25. Juni 2015 in einem Angriff in T*****;

III) am 24. Oktober 2014 in in einem Angriff in K*****;

IV) zwischen 11. Mai 2016 und 27. Juni 2016 in fünf Angriffen in S*****;

V) am 21. Juni 2016 in einem Angriff in W*****;

VI) am 28. Juni 2016 in einem Angriff in K*****;

VII) am 18. Mai 2016 in einem Angriff in L***** und

VIII) am 1. August 2014 in J*****.

Mit (rechtswirksamem) Beschluss vom 1. Dezember 2016, GZ 35 Hv 149/16k 70, sprach der mit dem Strafantrag angerufene Einzelrichter des Landesgerichts St. Pölten gemäß § 485 Abs 1 Z 1 StPO die örtliche Unzuständigkeit dieses Gerichts aus und überwies die Sache dem Landesgericht Innsbruck (§ 38 StPO). In der Begründung vertrat er die Ansicht, dass der zu Punkt B des Strafantrags inkriminierte, zeitlich während der zu A angelasteten gewerbsmäßigen Betrugshandlungen verwirklichte Lebenssachverhalt, nämlich die in zwölf Angriffen unter geschicktem und offenkundig einstudiertem Ablenken der Opfer erfolgte Wegnahme von Bargeldbeträgen durch den bereits einschlägig vorbestraften (ON 65) Angeklagten, nach der Aktenlage eine rechtliche Beurteilung als (ebenfalls in die sachliche Zuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichts fallendes) Vergehen des gewerbsmäßigen Diebstahls nach den §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB nahe lege und solcherart mit Blick auf das in K***** (im Sprengel des Landesgerichts Innsbruck) angelastete Diebstahlsfaktum (B/VI) und die Führung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Innsbruck (§ 37 Abs 2 erster und dritter Satz StPO) das Landesgericht Innsbruck zur Verfahrensführung zuständig wäre.

Mit Übersendungsnote vom 20. Februar 2017 legte das Landesgericht Innsbruck den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den negativen Kompetenzkonflikt vor (ON 80). Es erachte sich unter Bezugnahme auf seinen ebenfalls rechtswirksamen Beschluss vom 18. Jänner 2017, GZ 34 Hv 5/17y 76, gleichfalls als örtlich unzuständig, weil der Einzelrichter des Landesgerichts St. Pölten zusammengefasst nicht berechtigt sei, den von der Staatsanwaltschaft zu Punkt B ihres Strafantrags unter Anklage gestellten historischen Sachverhalt anders zu subsumieren und solcherart in Verbindung mit § 37 Abs 2 dritter Satz StPO seine eigene örtliche Unzuständigkeit gemäß § 485 Abs 1 Z 1 StPO auszusprechen.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 485 Abs 1 Z 1 StPO hat der Einzelrichter des Landesgerichts den Strafantrag vor Anordnung der Hauptverhandlung zu prüfen und im Fall seiner örtlichen oder sachlichen Unzuständigkeit „gemäß § 450“ StPO vorzugehen. § 450 StPO regelt zwar lediglich das Vorgehen des Bezirksgerichts bei sachlicher Zuständigkeit des Landesgerichts. Der undifferenzierte Verweis kann aber nur im Sinn einer Verpflichtung zum Ausspruch (auch) der örtlichen Unzuständigkeit mit (anfechtbarem) Beschluss verstanden werden ( Oshidari , WK StPO § 38 Rz 7; Birklbauer/Mayrhofer , WK StPO § 213 Rz 49).

Da im Einzelrichterverfahren die örtliche Zuständigkeit, anders als im Verfahren vor dem Schöffen- oder Geschworenengericht, nicht durch die Rechtswirksamkeit der Anklage (§ 213 Abs 5 StPO) festgelegt wird, ist die örtliche Unzuständigkeit auch nach Anordnung der Hauptverhandlung – bei sonstiger Nichtigkeit (§ 489 Abs 1, § 468 Abs 1 Z 1 StPO) – bis zur Urteilsfällung amtswegig wahrzunehmen und gegebenenfalls die Abtretung an das zuständige Landesgericht zu verfügen (erneut Oshidari , WK StPO § 38 Rz 7 mwN; Ratz , WK-StPO § 468 Rz 7).

Bezugspunkt sowohl der örtlichen als auch der sachlichen Zuständigkeitsprüfung ist (in allen Verfahrensarten) stets der von der Anklage vorgegebene Prozessgegenstand, also die „der Anklage zugrunde liegenden Tatsachen an sich oder in Verbindung mit den in der Hauptverhandlung hervorgekommenen Umständen“, demnach Modifikationen des Anklagesachverhalts ohne Änderung des Prozessgegenstands ( Oshidari , WK StPO § 38 Rz 2 mwN, Ratz , WK StPO § 281 Rz 493; anders zur sachlichen Unzuständigkeit im kollegialgerichtlichen Verfahren: Birklbauer/Mayrhofer , WK-StPO § 212 Rz 26, § 213 Rz 47; Fabrizy , StPO 12 § 212 Rz 7, jeweils unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien [RV 25 BlgNR 22. GP 246 f]).

Für den Fall des § 485 Abs 1 Z 1 StPO bedeutet das aber auch, dass die dort normierte Vorprüfung im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts nicht bloß anhand des Strafantrags, sondern (auch) nach der Aktenlage vorzunehmen ist (zur sachlichen Unzuständigkeit Bauer , WK StPO § 450 Rz 2 mwN; zur örtlichen Unzuständigkeit für viele: 14 Ns 76/15k; vgl [zum kollegialgerichtlichen Verfahren] auch 14 Ns 41/12h).

Ist für die örtliche Zuständigkeit – wie hier (§ 37 Abs 2 StPO) – die Subsumtion der unter Anklage gestellten Tat maßgeblich, ist demnach der Einzelrichter keineswegs an die „in der Anklage (im Strafantrag) genannte strafbare Handlung“ gebunden. Er hat vielmehr die rechtliche Beurteilung des angeklagten Sachverhalts als derart vorgegebenen Prozessgegenstands selbständig anhand der Verdachtslage (im Sinn eines Anschuldigungsbeweises; vgl dazu erneut Bauer , WK StPO, § 450 Rz 2) vorzunehmen, wie sie sich aus dem Strafantrag in Verbindung mit dem Inhalt der Ermittlungsakten ergibt (vgl dazu auch 12 Os 77/05y, 12 Os 78/05w; 14 Os 52/08s, 14 Os 53/08p; 11 Os 172/10v; 11 Ns 55/13x).

Bindung an die Subsumtion durch die Anklagebehörde auch noch in der Hauptverhandlung scheidet schon mit Blick auf §§ 489 Abs 1, 468 Abs 1 Z 1 erster Fall StPO aus, weil die gegenteilige Auffassung den Einzelrichter vor die Notwendigkeit stellen würde, sich dieser – ungeachtet widerstreitender Verfahrensergebnisse und seiner eigenen Überzeugung – anzuschließen, um Nichtigkeit nach dieser Gesetzesstelle zu vermeiden (vgl auch Ratz , WK StPO § 468 Rz 32).

Für die von der Generalprokuratur (und in der von ihr zitierten – sachliche Unzuständigkeit – betreffenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Graz zum AZ 10 Bs 54/13m) vertretene Auffassung, die – nach dem Vorgesagten ab Prüfung des Strafantrags bis Urteilsfällung zulässige – Wahrnehmung örtlicher Unzulässigkeit des angerufenen Gerichts von einer „eigenen Beweiseisaufnahme in der Hauptverhandlung“ abhängig zu machen, auch wenn sich eine, solches indizierende Verdachtslage bereits bei Vorprüfung des Strafantrags aus der Aktenlage ergibt, finden sich weder im Gesetz noch in den Materialien oder den zur Fundierung herangezogenen Kommentarstellen Anhaltspunkte. Sie würde auch Interessen der Verfahrensökonomie widersprechen.

Vorliegend ist der Einzelrichter des Landesgerichts St. Pölten – nach dem Vorgesagten zulässig – auf Basis des Strafantrags in Verbindung mit den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens mit aktenkonformer und mängelfreier, nicht ergänzungsbedürftiger Begründung zu Recht von einer (für die Zwecke der Vorprüfung des Strafantrags vorläufig) ausreichenden Verdachtslage im Sinne gewerbsmäßigen Handelns auch in Bezug auf die dem Angeklagten angelasteten Diebstähle (insbesonders hinsichtlich jenes am 28. Juni 2016 in K***** begangenen; Punkt B/VI des Strafantrags) ausgegangen (vgl ON 66 iVm ON 2, 9, 12, 18, 55 [zu B/IV: S 79 f, 113 ff], 65).

Nach § 37 Abs 1 erster Satz StPO ist im Fall gleichzeitiger Anklage einer Person wegen mehrerer Straftaten das Hauptverfahren vom selben Gericht gemeinsam zu führen. Dabei ist gemäß § 37 Abs 2 erster Satz StPO unter Gerichten verschiedener Ordnung das höhere, unter Gerichten gleicher Ordnung jenes mit Sonderzuständigkeit für alle Verfahren zuständig. Den Fall, dass für die gemeinsame Verfahrensführung mehrere untereinander gleichrangige Gerichte in Frage kommen, regelt § 37 Abs 2 StPO im zweiten und dritten Satz dahin, dass insoweit grundsätzlich die frühere Straftat zuständigkeitsbegründend wirkt (§ 37 Abs 2 zweiter Satz StPO). Wenn jedoch für das Ermittlungsverfahren eine Staatsanwaltschaft bei einem Gericht zuständig war, in dessen Sprengel auch nur eine der angeklagten strafbaren Handlungen begangen worden sein soll, so ist – unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge der Taten – dieses Gericht zuständig (§ 37 Abs 2 dritter Satz StPO). Der dritte Satz des § 37 Abs 2 StPO normiert somit eine – der Verfahrensökonomie dienende – Ausnahme zum zweiten Satz dieser Bestimmung, lässt aber den ersten Satz unberührt (RIS Justiz RS0124935, RS0125227).

Daraus ergibt sich – entgegen der Ansicht der Generalprokuratur – die Zuständigkeit des Landesgerichts Innsbruck, weil die Staatsanwaltschaft bei diesem Gericht das Ermittlungsverfahren geführt und dem Angeklagten eine in K*****, somit in dessen Sprengel begangene, nach dem Vorgesagten in die Zuständigkeit des Einzelrichters des Landesgerichts fallende Straftat (das Vergehen des Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB), zur Last gelegt hat (§ 37 Abs 2 dritter Fall StPO).

Rechtssätze
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  • RS0125311OGH Rechtssatz

    21. März 2024·3 Entscheidungen

    Im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts kann es im Rahmen der von § 485 StPO angeordneten Prüfung der Zuständigkeit nur mittelbar zu einem Kompetenzkonflikt im Sinn des § 38 StPO kommen. Teilt nämlich das Oberlandesgericht die mit Beschluss des Einzelrichters ausgesprochene Einschätzung örtlicher Unzuständigkeit und hält es ein anderes Landesgericht seines Sprengels für örtlich zuständig, so überweist es die Sache dorthin (vgl auch §§ 215 Abs 4 erster Satz, 470 Z 3, 475 Abs 1 StPO). Hält es hingegen keines der in seinem Sprengel gelegenen Landesgerichte für örtlich zuständig, greift § 485 Abs 2 StPO. Zu einem von § 38 StPO erfassten Kompetenzkonflikt kommt es nachfolgend dann, wenn ein anderes Oberlandesgericht aufgrund einer Beschwerde gegen einen nach § 485 Abs 1 StPO gefassten Beschluss die örtliche Zuständigkeit aller in seinem Sprengel gelegenen Landesgerichte bezweifelt oder der Einzelrichter eines nachfolgend angerufenen, im Sprengel eines anderen Oberlandesgerichts gelegenen Landesgerichts seine örtliche Unzuständigkeit sonst rechtswirksam ausspricht. Nach Anordnung der Hauptverhandlung (§ 485 Abs 1 Z 4 StPO) im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts kann es zu einem Kompetenzkonflikt im Sinn des § 38 StPO kommen, wenn der Einzelrichter zur Ansicht gelangt, örtlich nicht (mehr) zuständig zu sein (SSt 61/14). In einem solchen Fall hat er nämlich, wie nach der bis 1. Jänner 2008 geltenden Rechtslage, die Hauptverhandlung abzubrechen und die Abtretung der Sache an das seiner Ansicht nach zuständige Landesgericht zu verfügen.