JudikaturJustiz13Os81/08y

13Os81/08y – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Juli 2008

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Juli 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Puttinger als Schriftführer in der Strafsache gegen Heidemarie H***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB, AZ 32 U 133/03i des Bezirksgerichts Donaustadt, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 27. April 2004, AZ 13 b Bl 90/04, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Nordmeyer, sowie der Verurteilten und ihres Verteidigers Dr. Wagner zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe :

Mit Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 24. November 2003, GZ 32 U 133/03i 29, wurde Heidemarie H***** von der Anklage, sie habe (am 3. Juli 2002 in Wien; ON 14) „als Verantwortliche Diplomkrankenschwester 8,5ml/h Kalium anstelle der angeordneten 0,5ml/h fahrlässig verabreicht, wodurch Markus B***** an einer Hyperkaliämie verstarb und somit fahrlässig den Tod des Markus B***** herbeigeführt, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien als Berufungsgericht hob diese Entscheidung mit Urteil vom 27. April 2004, AZ 13 b Bl 90/04 (ON 33), „aus Anlass" der von der Staatsanwaltschaft (allein) wegen des Ausspruchs über die Schuld erhobenen Berufung auf und verwies die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht. Die Staatsanwaltschaft verwies es mit der Berufung auf die Kassation des Freispruchs.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 9. September 2004, GZ 32 U 133/03i 39, wurde Heidemarie H***** vom in Rede stehenden Vorwurf erneut gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Einer dagegen gerichteten Berufung der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die Schuld gab das Landesgericht für Strafsachen Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 23. August 2005, AZ 13 e Bl 725/04 (ON 44), Folge.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 3. Oktober 2006, GZ 32 U 133/03i 54, wurde Heidemarie H***** anklagekonform des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB schuldig erkannt. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 18. Juni 2007, AZ 133 Bl 43/07w (ON 63), wurde die dagegen gerichtete Berufung der Verurteilten wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe zurückgewiesen und ihrer Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld und die Strafe nicht Folge gegeben.

In ihrer gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 27. April 2004, AZ 13 b Bl 90/04, zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur Folgendes aus:

„Die Berufungsrichter vertraten die Ansicht, auf den Inhalt der Schuldberufung sei nicht näher einzugehen, weil das Ersturteil mit dem von Amts wegen wahrzunehmenden Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO behaftet sei (Berufungsurteil S 4 letzter Absatz), zumal das Ersturteil an Feststellungsmängeln leide.

Nach § 477 Abs 1 StPO aF hat sich das Berufungsgericht auf die in Beschwerde gezogenen Punkte zu beschränken und darf nur jene Teile des erstgerichtlichen Erkenntnisses ändern, gegen die die Berufung gerichtet ist. Nur dann, wenn sich der Gerichtshof aus Anlass einer (von wem immer ergriffenen) Berufung davon überzeugt, dass das Strafgesetz zum Nachteil des Angeklagten unrichtig angewendet wurde (§ 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO), ist so vorzugehen, als wäre eine solche Berufung eingelegt. Aus Anlass einer Berufung des Angeklagten kann das Berufungsgericht somit nur dem Angeklagten zum Nachteil gereichende materielle Nichtigkeit von Amts wegen aufgreifen (RIS Justiz RS0101951).

Das Berufungsgericht war daher im gegebenen Fall zur Aufhebung des freisprechenden Urteils aus dem nach seiner Auffassung dem Ersturteil anhaftenden, von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht gerügten materiellen Nichtigkeitsgrund (§§ 281 Abs 1 Z 9 lit a, 468 Abs 1 Z 4 StPO) nicht befugt. Da die Gesetzesverletzung der Angeklagten zum Nachteil gereichte, ist ein Vorgehen des Obersten Gerichtshofes gemäß § 292 letzter Satz StPO geboten."

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Welche Art von gerichtlicher Verfügung getroffen wird, bestimmt sich nicht nach der Form, sondern dem Wesen der Entscheidung (14 Os 161/96, EvBl 1997/89; RIS Justiz RS0106264). Während Feststellungsmängel mit einer Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld nicht releviert werden können, mithin der Geltendmachung eines materiellen Nichtigkeitsgrundes oder dessen - nur zum Vorteil des Angeklagten zulässiger - amtswegiger Wahrnehmung (seit 1. Jänner 2008 § 471 iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz [erster Fall], bis dahin § 477 Abs 1 zweiter Satz [erster Fall] StPO) vorbehalten sind, zielt die Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld just auf Kritik an gar wohl getroffenen Feststellungen (11 Os 132/06f, EvBl 2008/8, 32 = JBl 2008/127; RIS Justiz RS0122980; irrig: Hollaender , MR 2006, 243 - dagegen treffend Rami , JBl 2007, 569).

Ausgehend von diesen Grundsatzpositionen ist in der angefochtenen kassatorischen Entscheidung keine Gesetzesverletzung zu erblicken.

Vorliegend hatte die Staatsanwaltschaft erklärt, zum Nachteil der Angeklagten gegen den Ausspruch über die Schuld (§ 464 Z 2 erster Fall StPO) Berufung zu ergreifen und eingangs ihrer Berufungsschrift betont, der Freispruch beruhe im Wesentlichen darauf, dass die Angeklagte „über die Feinheiten des" von ihr bedienten Infusionsgeräts „nicht in Kenntnis gesetzt" worden sei - und weiter: „Dabei ging es offenbar insbesondere darum, dass die Einstellung der gewünschten Infusionsgeschwindigkeit innerhalb von 10 Sekunden mit der Start/Stopp Taste zu bestätigen ist, andernfalls die Anzeige auf den zuletzt eingestellten Wert zurückspringt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Angeklagte aufgrund mangelnder Einschulung nicht vorwerfbar in Unkenntnis darüber war, dass die genannte Taste binnen 10 Sekunden zu betätigen ist, wurde außer Acht gelassen, dass Heidemarie H***** es offenbar völlig unterließ, den von ihr vorgenommenen Kaliumszufuhrswert überhaupt zu überprüfen. In jedem Fall hätte sie bei Sicht auf das Display gesehen, dass die Infusionsgeschwindigkeit 8,5 ml/h statt der vorgeschriebenen 0,5 ml/h beträgt."

In der Tat hatte die Erstrichterin die Feststellung getroffen: „Die Beschuldigte war an diesem Gerät nicht speziell ausgebildet und kannte die Problematik der Einstellzeit nicht" (S 223).

Das Berufungsgericht ließ die zum Berufungsvorbringen, wonach die Angeklagte „es offenbar völlig unterließ, den von ihr vorgenommenen Kaliumszufuhrswert überhaupt zu überprüfen", angestellten Überlegungen der Berufungswerberin auf sich beruhen, hegte jedoch aufgrund im Einzelnen angeführter Beweisergebnisse Bedenken gegen die vom Erstgericht getroffene Feststellung, wonach Heidemarie H***** die spezielle Eigenart der Motorspritzenpumpe bei Einstellungsänderungen der Infusionsgeschwindigkeit nicht bekannt war (S 253; vgl § 473 Abs 2 StPO) und hob allein aufgrund dieser Bedenken das angefochtene Urteil bereits bei der nichtöffentlichen Beratung über die Berufung auf (§ 470 Z 3 StPO).

Wie sich zeigt, hat das Berufungsgericht solcherart der Sache nach gerade nicht, wie es selbst vermeinte (S 253), einen Feststellungsmangel in der Bedeutung des § 468 Abs 1 Z 4 (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a) StPO zum Anlass für seine Verfügung genommen, vielmehr eine gar wohl getroffene Feststellung angesichts dagegen sprechender Beweisergebnisse für nicht überzeugend angesehen. Dazu war es ungeachtet des Umstandes befugt, dass die Berufungswerberin die Frage der Richtigkeit der vom Berufungsgericht als bedenklich eingestuften Feststellung offen gelassen hatte. Die Berufungswerberin hatte solcherart nicht erklärt, auf die Richtigkeit dieser Feststellung zu bestehen, ihre Urteilsanfechtung mithin nicht über die Angabe des Beschwerdepunktes (wegen des Ausspruches über die Schuld) und die Anfechtungsrichtung (zum Nachteil der Angeklagten) hinaus eingeschränkt.

Da § 467 Abs 2 StPO nur in Betreff der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe (§ 464 Z 1 StPO) eine über die Angabe der Beschwerdepunkte (also wegen der Aussprüche über Schuld, Strafe oder die privatrechtlichen Ansprüche; § 464 Z 2 und 3 StPO) hinausgehende Bezeichnungspflicht statuiert, ist das Berufungsgericht hinsichtlich eines vom Berufungswerber bezeichneten Berufungspunkts (hier: „wegen des Ausspruches über die Schuld"; § 464 Z 2 erster Fall StPO) nicht auf die bei der Anmeldung der Berufung oder in der Berufungsschrift vorgetragenen Argumente gebunden. Anderes kommt nur in Frage, sofern eine Berufung deutliche und bestimmte Beschränkungen enthält. Fehlen solche Beschränkungen, besteht mit anderen Worten keine Bindung des Berufungsgerichts an die zu geltend gemachten Berufungs punkten vorgetragenen Berufungs gründe (13 Os 122/02, SSt 64/80; zu der seit 1. Jänner 2008 unverändert gebliebenen Begründungsobliegenheit bei Beschwerden: 13 Os 41/03, SSt 2003/63 = EvBl 2004/35 und zuletzt: 13 Os 125/07t, EvBl 2008/46; RIS Justiz RS0117216; Ratz , WK StPO Vorbem §§ 280 296a Rz 13, § 467 Rz 2, § 295 Rz 7 ff; kurz und treffend zuletzt Fabrizy StPO10 § 467 Rz 1a mit weiteren Nachweisen aus der Rsp).

Da die Generalprokuratur nicht den Vorgang der verfehlten Benennung der im Rahmen einer Erledigung der Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld gelegenen Urteilsaufhebung vom 27. April 2004, vielmehr nur diese selbst bekämpft, erweist sich deren Nichtigkeitsbeschwerde als unbegründet.

Rechtssätze
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