JudikaturJustiz13Os148/15m

13Os148/15m – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. März 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. März 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Schönmann als Schriftführer in der Strafsache gegen Martin P***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 20. August 2015, GZ 42 Hv 20/15i 41, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil sowie demzufolge auch der zugleich ergangene Beschluss auf Erteilung einer Weisung aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Der Angeklagte wird mit seinen Rechtsmitteln auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Martin P***** der Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB (1) und der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, 3 Z 2 und 4 zweiter Fall StGB (2) schuldig erkannt.

Danach hat er in Wien

(1) am 17. Oktober 2014 Nino G***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs und zur Vornahme einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt, indem er sie auf ein Bett zerrte, ihr Schläge versetzte, ihre Beine auseinander drückte, sie würgte, ihre Hände fixierte und solcherart Vaginal sowie Oralverkehr erzwang, weiters

(2) vom September 2013 bis zum Oktober 2014 „gegen Nino G***** dadurch, dass er sie wiederholt zum Geschlechtsverkehr, und zwar zum Anal und zum Oralverkehr zwang, indem er sie bedrohte, beschimpfte und Gewalt gegen sie ausübte, sodass eine erhebliche Einschränkung der autonomen Lebensführung der verletzten Person bewirkt wurde, somit wiederholt Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Integrität der Nino G***** beging, fortgesetzt gegen diese Gewalt ausgeübt“.

Rechtliche Beurteilung

Anlässlich der dagegen aus Z 2 und 4 des § 281 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass zu dessen Nachteil das Strafgesetz mehrfach unrichtig angewendet worden ist (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):

Zum Grundtatbestand des § 107b Abs 1 StGB:

Indem das Gesetz darauf abstellt, dass der Täter gegen eine andere Person eine „längere Zeit“ hindurch „fortgesetzt“ Gewalt ausübt, formuliert es als elementares Tatbestandsmerkmal eine Kombination von Zeitdauer und Wiederholung der (in § 107b Abs 2 StGB definierten) Gewaltausübung ( Winkler SbgK § 107b Rz 103). Zudem folgt aus den Gesetzesmaterialien, dass nicht jeder wiederholte Angriff gegen das Opfer, insbesondere im Bereich der „bloßen“ körperlichen Misshandlungen, dem Tatbestand des § 107b Abs 1 StGB zu subsumieren, sondern auch auf die Eingriffsintensität und die sonstigen Tatbegehungsmodalitäten mit Blick auf die konkrete Situation des Opfers Bedacht zu nehmen ist (JAB 106 BlgNR 24. GP 23). Demzufolge ist nach der Judikatur bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit nach § 107b Abs 1 StGB stets eine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der Faktoren Dauer, Dichte und Intensität der Gewaltausübung vorzunehmen (13 Os 143/11w, SSt 2011/69; RIS Justiz RS0127377).

Da die angefochtene Entscheidung zwar den Tatzeitraum feststellt, aber keine Konstatierungen zu den Parametern Dichte und Intensität der Gewaltausübung trifft, schafft sie somit keine hinreichende Subsumtionsbasis hinsichtlich des Grundtatbestands der fortgesetzten Gewaltausübung.

Hinzu kommt, dass nicht klar wird, welche Handlungen das Erstgericht als tatbildmäßige Gewaltausübung ansah. So sind zwar Schläge grundsätzlich vom Misshandlungsbegriff des § 107b Abs 2 erster Fall StGB umfasst ( Winkler SbgK § 107b Rz 37), die ebenfalls konstatierten Beschimpfungen, Erniedrigungen und Drohungen (US 7, vgl auch US 12 f) fielen aber nur dann in das Begriffsfeld des § 107b Abs 2 StGB, wenn sie als strafbare Handlungen gegen die Freiheit (mit Ausnahme solcher nach §§ 107a, 108 und 110 StGB) zu qualifizieren wären. Diesbezügliche Feststellungen enthält die angefochtene Entscheidung nicht. Damit sagen im Übrigen auch die Konstatierungen zu den bei Nino G***** durch die „Übergriffe“ eingetretenen psychischen Folgen nichts über die Intensität der Gewaltausübung aus, weil insoweit keine Zuordnung zu § 107b Abs 2 StGB subsumierbaren Handlungen möglich ist.

Zur Qualifikation nach § 107b Abs 3 Z 2 StGB:

Die „umfassende Kontrolle des Verhaltens“ und die „erhebliche Einschränkung der autonomen Lebensführung“ der verletzten Person sind zwei rechtlich gleichwertige Tatbestandsvarianten, die einander teilweise überlappen, also dogmatisch nicht streng voneinander zu trennen sind. Insgesamt zielen beide Varianten auf eine massive Beschränkung der Selbstbestimmungsfreiheit, die an verschiedensten Parametern zu messen ist. Darunter fallen beispielsweise die freie Wahl des sozialen Umfelds, des Familienstands, des Aufenthalts, des äußeren Erscheinungsbildes und dergleichen (zum Ganzen Schwaighofer in WK 2 StGB § 107b Rz 36 38 sowie Winkler SbgK § 107b Rz 126 130, jeweils mwN).

Da die angefochtene Entscheidung hiezu keine Feststellungen trifft (siehe insbesondere US 8), stellt sie insoweit den unter dem Aspekt rechtsrichtiger Subsumtion unerlässlichen Sachverhaltsbezug nicht her (RIS Justiz RS0119090).

Zur Qualifikation nach § 107b Abs 4 zweiter Fall StGB:

Ähnlich wie beim Grundtatbestand des § 107b Abs 1 StGB ist die Verwirklichung der in Rede stehenden Qualifikationsnorm anhand einzelfallbezogener Betrachtung der Faktoren Art, Intensität und Anzahl der Angriffe zu beurteilen (vgl Winkler SbgK § 107b Rz 135 f).

Auch diesbezüglich lässt die angefochtene Entscheidung eine hinreichende Subsumtionsbasis vermissen.

Zum Schuldspruch nach § 201 Abs 1 StGB:

Das Verbrechen der Vergewaltigung ist eine strafbare Handlung gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung und solcherart ein Anknüpfungsdelikt der Qualifikation nach § 107b Abs 4 erster Satz zweiter Fall StGB ( Schwaighofer in WK 2 StGB § 107b Rz 49, Winkler SbgK § 107b Rz 135).

Anknüpfungsdelikte, die wie § 201 Abs 1 StGB gegenüber § 107b Abs 4 erster Satz zweiter Fall StGB nicht Verdrängung kraft ausdrücklicher Subsidiarität im Sinn des § 107b Abs 5 StGB bewirken, werden aber ihrerseits grundsätzlich vom jeweiligen Tatbestand des § 107b StGB infolge Spezialität verdrängt, es sei denn, der Täter setzt die einem Anknüpfungstatbestand zu unterstellende Tat ohne den von § 107b Abs 1 StGB verlangten Vorsatz, längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt auszuüben (14 Os 88/13t, SSt 2013/32; RIS Justiz RS0128942).

Das Erstgericht stellte fest, dass der Angeklagte Nino G***** am 17. Oktober 2014 mit Gewalt zur Vornahme des Beischlafs und zur Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt hat (1). Zudem konstatierte es, dass der Angeklagte vom September 2013 bis zum Oktober 2014 im Rahmen der fortgesetzten Gewaltausübung gegen Nino G***** wiederholt zu deren Nachteil Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Integrität begangen hat (2).

Auf dieser Feststellungsbasis ist die abschließende Beurteilung der Frage, ob insoweit das Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB von jenem der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, 3 Z 2 und 4 zweiter Fall StGB verdrängt wird, nicht möglich.

Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler war die angefochtene Entscheidung gemäß § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm § 285e StPO schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort aufzuheben, was die Aufhebung des verfehlt in Urteilsform ergangenen (hiezu im Folgenden) Beschlusses auf Erteilung einer Weisung nach sich zog.

Der Angeklagte war mit seinen Rechtsmitteln auf die Urteilsaufhebung zu verweisen.

Eine allfällige vom Angeklagten in seiner Äußerung zur Stellungnahme der Generalprokuratur „angeregte“ Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof zwecks Prüfung der Verfassungskonformität des § 165 StPO scheitert schon am Erfordernis der Präjudizialität (Art 89 Abs 2 B VG).

Hinzugefügt sei, dass der Gesetzgeber mit der seit 1. Jänner 2015 geltenden Rechtslage (BGBl I 2013/114 iVm BGBl I 2014/92) ein subjektives Recht auf Normanfechtung durch die Strafgerichte ausdrücklich verneint hat (RIS Justiz RS0130514, eingehend 13 Os 88/15p; vgl auch Ratz , WK StPO § 281 Rz 597 und § 285 Rz 4 6).

Im zweiten Rechtsgang wird weiters zu beachten sein:

(I) Bild und Tonaufzeichnungen über die kontradiktorische Vernehmung (§ 165 StPO) eines Zeugen dürfen soweit hier von Interesse gemäß § 252 Abs 1 Z 2a StPO nur dann vorgeführt werden, wenn der Zeuge die Aussage berechtigt verweigert. Demnach ist eine Vorführung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 2a StPO nur dann zulässig, wenn der entschlagungsberechtigte Zeuge unmissverständlich erklärt hat, die Aussage in der Hauptverhandlung zu verweigern ( Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 74 mwN). Eine solche Erklärung der Nino G***** ist der Aktenlage nicht zu entnehmen.

(II) Die bedingte Nachsicht der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB kommt nur zugleich mit gänzlich bedingter Strafnachsicht in Betracht (12 Os 36/05v, SSt 2005/44; RIS Justiz RS0112223 [T1] und RS0119998).

Im Hinblick darauf, dass das Urteil nicht zum Nachteil des Angeklagten angefochten worden ist, wird hier aber auch insoweit das Verbot der reformatio in peius (§ 293 Abs 3 StPO) zu beachten sein.

(III) Allfällige Weisungen sind gemäß § 494 Abs 1 StPO (nicht in Urteils , sondern) in Beschlussform zu erteilen (vgl dem gegenüber US 4).

Rechtssätze
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