JudikaturJustiz11Os51/20i

11Os51/20i – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Juli 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen resp. Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger, Mag. Fürnkranz, Dr. Oberressl und Dr. Setz Hummel als weitere Richter in der Strafsache gegen Mag. K***** und weitere Beschuldigte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1, Abs 3 zweiter Fall StGB, AZ 316 HR 50/10p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Genannten auf Erneuerung des Verfahrens in Bezug auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 8. November 2019, AZ 23 Bs 193/19d, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) führte zu AZ 12 St 8/11x ein – infolge der Zurückweisung ihrer Anklageschrift vom 20. Juli 2016, AZ 12 St 7/16g, in einem Punkt gemäß § 212 Z 3 StPO iVm § 215 Abs 3 StPO (Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 12. April 2017, AZ 23 Bs 284/16g) wieder eröffnetes und mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28. Mai 2019, GZ 316 HR 50/10p 3403, gemäß § 108 Abs 1 Z 2 StPO eingestelltes – Ermittlungsverfahren gegen Mag. K***** wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1, Abs 3 zweiter Fall StGB.

Mit Beschluss vom 27. Mai 2019, GZ 316 HR 50/10p 3402, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien – soweit im Folgenden von Relevanz – einen die Verweigerung der Akteneinsicht (zufolge deren faktischer Beschränkung) durch die Staatsanwaltschaft relevierenden Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO) des Mag. K***** vom 31. Jänner 2019 (ON 3379) zurück.

Das Oberlandesgericht Wien als Rechtsmittelgericht gab der dagegen gerichteten Beschwerde mit Beschluss vom 8. November 2019, AZ 23 Bs 193/19d, dahin Folge, dass es „eine Verletzung der §§ 49 Z 3, 51 Abs 2 StPO durch die faktische Beschränkung der Akteneinsicht durch das Nicht-Zum-Akt-Nehmen der Einvernahmeprotokolle“ namentlich genannter Zeugen ausdrücklich feststellte. „Im Übrigen“ (der Sache nach bloß hinsichtlich der im Einspruch begehrten expliziten Feststellung einer unter einem bewirkten Verletzung von Art 6 Abs 1, Abs 3 MRK) wurde der Beschwerde nicht Folge gegeben.

Während der Haft- und Rechtschutzrichter davon ausging, dass die WKStA, indem sie die Vernehmungsprotokolle noch vor Erhebung des Einspruchs wegen Rechtsverletzung zum Akt genommen hatte, die im Einspruch gerügte faktische Beschränkung der Akteneinsicht (durch davor liegende, teilweise über ein Jahr währende Unterlassung dieses Vorgangs ) beseitigt und damit der behaupteten Rechtsverletzung abgeholfen hätte (ON 3402 S 8), lehnte das Oberlandesgericht Wien diese Rechtsansicht ab (BS 11 ff). Das Beschwerdegericht wies darauf hin, dass der Einspruchswerber nicht allein die Verletzung seines subjektiven Rechts auf Akteneinsicht gemäß § 51 Abs 1 StPO gerügt hatte, sondern die Führung eines „Schattenakts“ und die damit verbundene faktische Beschränkung der Akteneinsicht unter Umgehung der Bestimmung des § 51 Abs 2 StPO, welche diesem die (zeitnahe) Möglichkeit eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung nahm (BS 13). Demgemäß läge eine Verletzung des Rechts auf wirksame Verteidigung vor (BS 9, 11 und 13). Soweit die WKStA ihr Vorgehen mit § 51 Abs 2 zweiter Fall StPO zu rechtfertigen versucht hatte (vgl deren Stellungnahme vom 27. Februar 2019, ON 3385), erblickte das Oberlandesgericht darin schlicht eine Umgehung dieser restriktiv zu handhabenden Bestimmung.

Zur Begründung der teilweisen Abweisung der Beschwerde pflichtete das Beschwerdegericht abschließend dem sich auf Pilnacek/Stricker , WK-StPO § 106 Rz 14 berufenden Erstrichter bei (ON 3402 S 9), dass ein Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 StPO nur Schutz gegen etwaige Verletzungen von subjektiven Rechten biete, die dem Betroffenen nach der StPO zustehen (BS 13).

Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 8. November 2019, AZ 23 Bs 193/19d, richtet sich der – nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützte – ( fristgerechte ) Antrag des Mag. K***** auf Erneuerung des Strafverfahrens, mit welchem dieser eine Verletzung von Art 6 Abs 1, Abs 3 MRK geltend macht.

Rechtliche Beurteilung

Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS-Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737, RS0128394).

Demnach hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag gemäß § 363a StPO deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS-Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS-Justiz RS0124359, RS0128393) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS-Justiz RS0125393 [T1]).

Den oben dargestellten Erfordernissen wird das gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien gerichtete Vorbringen nicht gerecht.

Der Erneuerungswerber behauptet eine fortdauernde Verletzung seines Grundrechts, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen, durch faktische Beschränkung des Rechts auf Akteneinsicht (Art 6 Abs 3 lit b MRK [ Grabenwarter/Pabel , MRK 6 § 24 Rz 115 ff]). Damit bezieht sich der Antrag auf eine Konventionsgarantie, welche auf die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage, also über Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten, zielt. Indem der Antragsteller nicht nachvollziehbar darlegt, weshalb er trotz der am 28. Mai 2019 vorgenommenen Einstellung des Ermittlungsverfahrens (vgl dazu 13 Os 51/15x) durch eine während dieses Verfahrens erfolgte faktische Beschränkung der Akteneinsicht in seinen durch Art 6 MRK garantierten Verteidigungsrechten nach wie vor verletzt sein soll (vgl aber Peukert in Frowein/Peukert , EMRK-Kommentar 3 , Art 6 Rz 31), legt er die Opfereigenschaft nicht deutlich und bestimmt dar (13 Os 90/15g).

Zudem rekurrierte das Oberlandesgericht in seiner eingehenden Argumentation in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem Beschwerdeführer auf Art 6 MRK (BS 9 ff) und leitete die von ihm explizit festgestellte Verletzung der §§ 49 Z 3, 51 Abs 2 StPO nicht zuletzt aus Art 6 Abs 3 lit b MRK – der ua in den zitierten Normen der StPO seine einfachgesetzliche Ausformung erfährt – ab (BS 11). Damit wurde – inhaltlich – zutreffend eine Verletzung des nunmehr reklamierten Grundrechts anerkannt, was durch die ein venire contra factum proprium darstellende (einem unzulässigen Qualifikationsfreispruch gleichkommende) Teilabweisung der ordentlichen Beschwerde (BS 1, 13) – was im Übrigen in einem Spannungsverhältnis zu § 5 Abs 1 StPO (über den auch die Garantien der MRK in § 106 Abs 1 StPO einfließen; vgl Wiederin , WK StPO § 5 Rz 39 f) steht – nicht konterkariert wird (vgl RIS Justiz RS0061171).

D as Vorbringen, zufolge der bereits erfolgten Einstellung des Ermittlungsverfahrens könne das Recht auf Akteneinsicht nicht mehr in der Hauptverhandlung oder im Rahmen der Urteilsanfechtung durchgesetzt werden, weswegen die Opferstellung aufrecht bleibe, geht fehl, weil nicht dargelegt wird, aus welchem Grund durch die Verkürzung von Rechten im Ermittlungsverfahren das reklamierte Grundrechtsziel eines zur Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage führenden fairen Verfahrens endgültig vereitelt worden wäre. Dass der Antragsteller – ungeachtet zwischenzeitig gewährter Akteneinsicht, der bereits erfolgten Verfahrenseinstellung und der ausdrücklich erfolgten Anerkennung der Grundrechtsverletzung durch das Oberlandesgericht – weiterhin Opfer im Sinn des Art 34 MRK sei, legt der Erneuerungsantrag nicht substantiiert und schlüssig dar (RIS-Justiz RS0121366, RS0126370 [T2]; vgl 17 Os 19/16x; zum Rechtschutz bei Verweigerung der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren vgl auch Soyer/Stuefer , WK-StPO § 53 Rz 24 ff, insb Rz 26). Im Übrigen wird nicht dargetan, weswegen durch die Konventionsverletzung eine sinnvolle Verteidigung konkret verunmöglicht worden wäre (s dazu 11 Os 127/18p), worin ein nachteiliger Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung gelegen sein könnte (Art 35 Abs 3 lit b MRK; Reindl-Krauskopf , WK-StPO § 363a Rz 6; Meyer-Ladewig/Peters in Meyer-Ladewig/Nettesheim/Raumer , EMRK Handkommentar 4 , Art 35 Rz 55) oder wie ein entsprechender – über die Anerkennung hinausgehender – Ausgleich des Grundrechtsverstoßes erfolgen hätte sollen.

Der Antrag war daher – in weitgehender Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der teilweise an die Grenzen repetitiver Rabulistik gehenden Stellungnahme der Verteidigung dazu – bereits nach nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Rechtssätze
4