JudikaturJustiz10ObS22/07v

10ObS22/07v – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. April 2007

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Stanek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef Z*****, Finanzbeamter, *****, vertreten durch Dr. Manfred Steininger, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA), Josefstädter Straße 80, 1081 Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Oktober 2006, GZ 10 Rs 125/06k-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 1. März 2006, GZ 7 Cgs 150/05z-22, soweit es nicht als unangefochten in Teilrechtskraft erwachsen ist, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs der klagenden Partei wird Folge gegeben. Der Aufhebungsbeschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung:

Der am 28. 1. 1957 geborene, bei einem Finanzamt beschäftigte Kläger wurde am 2. 8. 2004 auf der Heimfahrt in einen Verkehrsunfall verwickelt, bei dem er sich eine Zerrung der Halswirbelsäule zuzog, die über einen längeren Zeitraum Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule verursachte. Nach diesem Dienstunfall stand der Kläger bis 5. 9. 2004 im Krankenstand.

Mit Bescheid vom 24. 7. 2005 lehnte die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des Dienstunfalls vom 2. 8. 2004 mit der Begründung ab, dass keine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit über drei Monate hinaus vorgelegen sei.

Das Erstgericht sprach dem Kläger eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente für den Zeitraum von 6. 9. 2004 bis 28. 2. 2005 zu und wies das darüber hinausgehende, insbesondere auf Gewährung einer Versehrtenrente auch für die Zeit nach dem 28. 2. 2005 gerichtete Mehrbegehren (rechtskräftig) ab.

Es traf zusammengefasst folgende Feststellungen:

Die beim Kläger vorhandenen degenerativen Veränderungen, insbesondere im unteren Abschnitt der Halswirbelsäule, sind nicht auf den Dienstunfall zurückzuführen. Derartige degenerative Veränderungen ziehen nicht notwendigerweise Beschwerden nach sich; Möglich ist aber, dass eine Verletzung, wie sie der Kläger erlitten hat, im Hinblick auf die Vorschädigung erschwerte Heilungsbedingungen vorfindet. Verglichen mit einer gesunden Wirbelsäule, die von einem gleichartigen Ereignis getroffen wird, kann eine vorgeschädigte Halswirbelsäule länger dauernde Schmerzen verursachen; das muss aber nicht sein. Bei einer gesunden Halswirbelsäule heilen Verletzungen, wie sie der Kläger erlitten hat, innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen ab.

Aufgrund der degenerativen Vorschädigungen der Halswirbelsäule lag im Fall des Klägers aus medizinischer Sicht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt) von 20 vH ab dem 6. 9. 2004 bis zum 28. 2. 2005 vor. Ab dem 1. 3. 2005 lag keine Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr vor.

Am 13. 7. 2005 hat der Kläger einen weiteren Verkehrsunfall (Auffahrunfall) erlitten.

In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht davon aus, dass sich die beklagte Partei den Vorschaden an der Halswirbelsäule des Klägers und die damit verbundene längere Dauer der Ausheilung in Form einer längeren Zeit der Minderung der Erwerbsfähigkeit zurechnen lassen müsse, weil der Kläger in dem Zustand unfallversichert sei, in dem er sich im Unfallzeitpunkt befunden habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge, hob das Ersturteil, soweit es nicht als unangefochten in Teilrechtskraft erwachsen ist, auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens, wobei es auf die in der Berufungsbeantwortung enthaltene Mängel- und Tatsachenrüge nicht einging, und pflichtete der Rechtsansicht des Erstgerichts bei, dass der Versicherte nach dem Schutzzweck des Unfallversicherungsrechts in dem Zustand geschützt sei, in dem er sich zum Zeitpunkt des Unfallereignisses befunden habe. Im Ersturteil fehle es aber an ausreichenden Feststellungen, um die von der höchstgerichtlichen Judikatur geforderte Abwägung der einzelnen mitwirkenden Kausalreihen (Unfall bzw Schadensanlage) vornehmen zu können. Verletzungen aufgrund altersbedingter, natürlicher Abnützung könnten keinesfalls als Anlageschaden angesehen werden. Vielmehr sei für die Annahme eines Anlageschadens ein - bei genereller Betrachtung der körperlichen Konstitution des Versicherten - deutlich erkennbares Abweichen des Gesundheitszustandes von der „Norm" erforderlich. Schließlich sei bei der Abwägung noch zu berücksichtigten, dass eine Schadensanlage in der Regel nur dann als allein wesentliche Ursache gewertet werden könne, wenn diese so stark ausgeprägt und so leicht ansprechbar sei, dass wahrscheinlich auch jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis die Schädigung zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd demselben Ausmaß ausgelöst hätte. In diesem Sinn seien vom Erstgericht Feststellungen zu treffen, ob die beim Kläger bestehenden degenerativen Änderungen der Halswirbelsäule altersentsprechend seien oder ob sie das altersentsprechende Ausmaß überstiegen hätten. Sollten nur altersentsprechende Abbauerscheinungen vorliegen, könne nicht von einer Schadensanlage ausgegangen werden, sodass ein den Unfallversicherungsschutz ausschließender Anlageschaden nicht vorläge. Sollten die bestehenden degenerativen Vorschädigungen der Halswirbelsäule das altersentsprechende Ausmaß übersteigen, sei anhand der konkreten Umstände eine Abwägung der unfallbedingten Einwirkungen aus dem Unfallereignis und der unfallunabhängigen Ursachen (Schadensanlage) vorzunehmen und zu klären, ob der Gesundheitsschaden auch ohne den Dienstunfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit allein infolge der Schadensanlage durch jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd demselben Ausmaß tatsächlich eingetreten wäre. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, da die Frage der vorzunehmenden Abgrenzung zwischen altersbedingter Abnützung und darüber hinausgehendem Vorschaden und insbesondere der dabei heranzuziehende Vergleichsmaßstab durch die neuere höchstgerichtliche Rechtsprechung noch nicht so weit geklärt sei, dass von einer gesicherten Rechtsprechung ausgegangen werden könne. Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs des Klägers aus den Rekursgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, "den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass die Berufung der beklagten Partei zurück- oder abgewiesen und das Ersturteil bestätigt wird, in eventu den angefochtenen Beschluss aufzuheben und dem Berufungsgericht (in eventu dem Erstgericht) eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufzutragen". Die beklagte Partei hat sich am Rekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, weil sich das Berufungsgericht mit der in der Berufungsbeantwortung enthaltenen Beweisrüge nicht auseinandergesetzt hat; er ist im Sinne des Eventualantrags auf Aufhebung auch berechtigt.

1. Unter dem Rekursgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens rügt der Kläger zum einen, dass das Berufungsgericht die in der Berufungsbeantwortung geltend gemachte Verletzung des Neuerungsverbots nicht behandelt habe, sondern auf das verspätet erstattete Vorbringen der beklagten Partei eingegangen sei (bzw der beklagten Partei durch die Aufhebung sogar die Nachholung versäumten Vorbringens ermögliche), zum anderen, dass sich das Berufungsgericht nicht mit den in der Berufungsbeantwortung enthaltenen Beweisrügen auseinandergesetzt habe.

2.1. In der Berufung gegen den klagsstattgebenden Teil des Ersturteils hat die beklagte Partei als Mangel gerügt, dass das unfallchirurgische Sachverständigengutachten zur Frage der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (im Zusammenhang mit degenerativen Vorschäden) unschlüssig und widersprüchlich geblieben sei, weshalb das Erstgericht gemäß § 87 ASGG von Amts wegen zur Verfahrensergänzung gehalten gewesen wäre.

Dem hielt der Kläger in seiner Berufungsbeantwortung entgegen, dass die sich aus § 87 Abs 1 ASGG ergebende Pflicht im Verhältnis zu qualifiziert vertretenen Parteien durch das Vorbringen begrenzt sei; die Verpflichtung zur amtswegigen Beweisaufnahme beziehe sich nicht auf anspruchsvernichtende Umstände, für die der Sozialversicherungsträger behauptungspflichtig sei. Die beklagte Partei habe erstmals in der Berufung vorgebracht, dass - als Anlageschäden zu qualifizierende - Vorschäden an der Halswirbelsäule des Klägers vorlägen.

Das Berufungsgericht hat das Vorliegen eines Verfahrensmangels mit der Begründung verneint, dass die Frage der Vollständigkeit und Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens oder die allfällige Notwendigkeit einer Ergänzung in den Bereich der Bereich der Beweiswürdigung falle. In der Beweisrüge habe sich die beklagte Partei im Wesentlichen aber lediglich gegen die Feststellung gewandt, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit beim Kläger über den 6. 9. 2004 hinaus bis zum 28. 2. 2005 20 vH betrage. Damit habe bekämpfe sie in Wahrheit die rechtliche Beurteilung, weshalb die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens der Entscheidung zugrunde zu legen seien.

2.2. Nach neuerer Rechtsprechung kann eine Verletzung des Neuerungsverbots einen Verfahrensmangel begründen (vgl RIS-Justiz RS0110304). Auch wenn im sozialgerichtlichen Berufungsverfahren keine Ausnahme vom allgemeinen Neuerungsverbot nach den Grundsätzen der ZPO besteht (Zechner in Fasching/Konecny2 IV/1 § 503 ZPO Rz 23 mwN), so kann doch die Geltendmachung von Umständen, auf die von Amts wegen Bedacht zu nehmen ist, nicht das Neuerungsverbot verletzen (Fasching, Lehrbuch2 Rz 1731). § 87 Abs 1 ASGG verpflichtet das Gericht, im sozialgerichtlichen Verfahren die Aufnahme aller notwendig erscheinender Beweise von Amts wegen anzuordnen. Zu dieser amtswegigen Veranlassung von Beweisaufnahmen ist das Gericht aber nur dann verpflichtet, wenn sich nach der Aktenlage entsprechende Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, der für die Entscheidung von Bedeutung sein kann (RIS-Justiz RS0042477 [T6], RS0086455). In diesem Sinn ist auch die Judikatur zu verstehen, dass sich die Verpflichtung der Sozialgerichte zur amtswegigen Beweisaufnahme nicht auf anspruchsvernichtende Umstände bezieht, für die der Sozialversicherungsträger behauptungspflichtig ist, wenn er solche

Behauptungen nicht aufgestellt hat (10 ObS 173/98h = SSV-NF 12/78; 10

ObS 233/00p = SSV-NF 14/129 = RIS-Justiz RS0086455 [T3]). Gegenstand

des erstinstanzlichen Beweisverfahrens war aber zweifellos (auch) die Frage des Vorliegens von degenerativen Vorschäden beim Kläger, sodass sich das Gericht iSd § 87 Abs 1 ASGG mit dieser Thematik zu befassen hatte. Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens infolge einer Verletzung des Neuerungsverbots ist demnach zu verneinen.

3.1. Zu Recht wendet sich die klagende Partei allerdings dagegen, dass sich das Berufungsgericht nicht mit seiner in der Berufungsbeantwortung enthaltenen Beweisrüge auseinandergesetzt hat. In seinem solchen Fall leidet das Berufungsverfahren - bei gesetzmäßiger Ausführung der Beweisrüge - an einem Mangel (2 Ob 39/98v), außer die Beweisrüge hat bloß Tatsachen zum Gegenstand, die bei richtiger rechtlicher Beurteilung nicht von Belang sind (RIS-Justiz RS0043190) oder wenn der festgestellte und der angestrebte Sachverhalt das gleiche rechtliche Ergebnis zeitigen (RIS-Justiz RS0042386; Zechner in Fasching/Konecny2 IV/1 § 503 ZPO Rz 143 mwN).

Die genannten Ausnahmefälle liegen jedoch nicht vor, wird doch vom Kläger in der Tatsachenrüge unter anderem die Feststellung weiterer Unfallfolgen geltend gemacht; außerdem wird die Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule auf den Unfall und nicht auf degenerative Veränderungen zurückgeführt.

3.2. Da vor Vorliegen einer vom Berufungsgericht überprüften Tatsachengrundlage keine abschließende rechtliche Beurteilung möglich ist, ist vorerst auf die übrigen Revisionsgründe nicht weiter einzugehen.

Lediglich das Revisionsvorbringen, es fehle an Feststellungen, die in Bezug auf die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit einen Härtefall begründen sollen, ist rechtlich irrelevant. Ein Härtefall liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn den Versicherten infolge der unfallbedingten Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen ist (10 ObS 67/92 = SSV-NF 6/44 = RIS-Justiz RS0040554 [T5]). Nicht einmal die Unmöglichkeit, aufgrund der Unfallfolgen den bisherigen Beruf weiter ausüben zu können, stellt für sich einen Härtefall dar (10 ObS 342/88 = SSV-NF 3/3 = RIS-Justiz RS0043587 [T3]).

Der Kläger ist nach seinem eigenen Vorbringen nach wie vor als Teamexperte für betriebliche Veranlagung und Vorsitzender des Fachausschusses tätig. Der Umstand, dass er aufgrund seiner spezialisierten Berufsausbildung nur in der öffentlichen Finanzverwaltung einen Erwerb erzielen kann, begründet für sich allein keinen Härtefall, der ein Abgehen von der medizinischen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit begründen könnte, hat doch dieser Umstand nichts mit dem Unfall zu tun, aufgrund dessen vom Kläger Leistungen aus der Unfallversicherung begehrt werden.

4. Zur Behandlung der in der Berufungsbeantwortung enthaltenen Tatsachenrüge (außer der unter 3.2. angeführten Thematik) ist eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung unumgänglich.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 ZPO.

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