JudikaturJustiz10ObS170/13t

10ObS170/13t – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Januar 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Horst Nurschinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15-19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Juli 2013, GZ 9 Rs 60/13d 17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 15. November 2012, GZ 32 Cgs 134/11x 11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie unter Einschluss des bereits in Rechtskraft erwachsenen abweislichen Teils zu lauten haben:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei vom 27. 6. 2010 bis 26. 6. 2011 Kinderbetreuungsgeld in Höhe von täglich 33 EUR (Variante 12+2) binnen 14 Tagen zu bezahlen, wird abgewiesen.“

Die beklagte Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist libanesische Staatsbürgerin. Sie ist seit 2003 mit H*****, einem österreichischen Staatsbürger, verheiratet. Sie lebt mit ihrem Ehemann und dem am 27. 6. 2010 geborenen gemeinsamen Sohn M***** im selben Haushalt. Der Ehemann der Klägerin ist Angestellter der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Die Aufenthaltsberechtigung der Klägerin in Österreich ist durch eine Lichtbildkarte des Bundesministeriums für Europäische und Internationale Angelegenheiten nachgewiesen.

Mit Bescheid vom 23. 3. 2011 lehnte die beklagte Gebietskrankenkasse den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes für ihren Sohn M***** ab 27. 6. 2010 in der Variante „12+2“ mit der Begründung ab, dass einer Gewährung Art III des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) zur Abänderung des Abkommens vom 11. 12. 1997 (richtig: 11. 12. 1957!) über den Amtssitz der IAEO, BGBl 413/1971, entgegenstehe. Gemäß diesem Artikel seien Angestellte der IAEO und deren im gemeinsamen Haushalt lebende Familienmitglieder, auf die sich das Abkommen beziehe, von den Leistungen aus dem Ausgleichsfonds für Familienbeihilfe ausgeschlossen, sofern diese Personen weder österreichische Staatsbürger (bzw EU Bürger) noch Staatenlose mit Wohnsitz in Österreich seien. Die Klägerin als libanesische Staatsbürgerin sei daher von Leistungen aus dem Ausgleichsfonds für Familienbeihilfe und somit auch vom Bezug von Kinderbetreuungsgeld ausgeschlossen.

Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht Klage und brachte im Wesentlichen vor, dass ihrer Ansicht nach Art III des im Bescheid angesprochenen Abkommens auf sie nicht anwendbar sei, sodass ihr Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zukomme.

Die beklagte Partei wiederholte im Wesentlichen ihren bereits im Bescheid vertretenen Rechtsstandpunkt. Als Angehörige eines bei der IAEO Beschäftigten genieße die Klägerin (eingeschränkte) Privilegien und Immunitäten, woraus folge, dass sich das Abkommen auf sie sehr wohl beziehe. Ihr Antrag auf Kinderbetreuungsgeld sei deshalb zu Recht abgewiesen worden.

In der mündlichen Streitverhandlung vom 29. 9. 2011 unterbrach das Erstgericht das Verfahren, bis rechtskräftig über den Anspruch eines Elternteils auf Familienbeihilfe entschieden wurde (ON 4). Nach Stellung eines Fortsetzungsantrags legte die Klägerin die mittlerweile ergangene Mitteilung des Finanzamts W***** 12/13/14/P***** über den Bezug der Familienbeihilfe vom 10. 1. 2012 vor (ON 6). Daraus ergibt sich, dass nach Überprüfung des Anspruchs auf Familienbeihilfe der Klägerin Familienbeihilfe für ihren Sohn M***** vom 1. 6. 2010 bis 30. 9. 2010 und vom 1. 6. 2011 bis 31. 7. 2012 gewährt wird. Vom 1. 1. 2011 bis 31. 5. 2011 wurde dem Ehemann der Klägerin die Familienbeihilfe zuerkannt. Für den Zeitraum 1. 10. 2010 bis 31. 12. 2010 bestand für keinen der Elternteile Anspruch auf Familienbeihilfe.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren für den Zeitraum vom 27. 6. 2010 bis 30. 9. 2010 sowie vom 1. 1. 2011 bis 26. 6. 2011 in der Höhe von (insgesamt) 9.009 EUR statt und wies das Mehrbegehren für den Zeitraum vom 1. 10. 2010 bis 31. 12. 2010 ab.

Es legte seiner Entscheidung den eingangs wiedergegebenen (unstrittigen) Sachverhalt zu Grunde. Rechtlich ging es davon aus, dass nach Art X Abschnitt 26 3. Satz des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) zur Abänderung des Abkommens vom 11. 12. 1957 über den Amtssitz der IAEO, BGBl 413/1971, (im Folgenden nur: „Amtssitzabkommen“) Personen, auf die sich dieses Abkommen bezieht, die jedoch weder österreichische Staatsbürger noch Staatenlose mit Wohnsitz in der Republik Österreich sind, keinen Vorteil aus den österreichischen Bestimmungen über Familienbeihilfe und Geburtenbeihilfe ziehen. Die Klägerin falle aber nicht in den Anwendungsbereich dieser Ausschlussbestimmung. Aus der englischen Version des Amtssitzabkommens („members of its staff“) ergebe sich nämlich, dass dieses nur Arbeitnehmer der Organisation selbst und nicht auch deren Familienangehörige erfasse. Die übrigen Voraussetzungen des § 2 KBGG seien im Wesentlichen unstrittig. Insbesondere sei unstrittig, dass die Klägerin über eine gültige Aufenthaltsberechtigung verfüge und sie von Juni bis September 2010 sowie von Juni 2011 bis Juli 2012 und ihr Ehemann von Jänner 2011 bis Mai 2011 Familienbeihilfe (tatsächlich) bezogen hätten. Ihr komme Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld vom 27. 6. 2010 bis 30. 9. 2010 sowie vom 1. 1. 2011 bis 26. 6. 2011 zu. Dessen Höhe betrage nach der von ihr beantragten Variante 33 EUR täglich; für insgesamt 273 Tage somit 9.009 EUR.

Gegen diese Entscheidung erhob nur die beklagte Partei Berufung, sodass die Abweisung des Mehrbegehrens für den Zeitraum 1. 10. 2010 bis 31. 12. 2010 in Rechtskraft erwuchs.

Das Berufungsgericht gab der gegen den klagestattgebenden Teil erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Rechtlich ging es davon aus, dass nach der bisherigen Rechtsprechung auch die Ehegattin eines IAEO-Angestellten, die weder österreichische Staatsbürgerin noch staatenlos ist, als Person, anzusehen sei, „auf die sich das Abkommen beziehe“ und daher keinen Anspruch auf Familienbeihilfe und daraus folgend keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld habe. Den bisher ergangenen Entscheidungen sei jeweils der Sachverhalt zugrunde gelegen, dass sowohl der Angestellte der IAEO als auch dessen Ehefrau Nichtösterreicher waren. Im vorliegenden Fall sei jedoch nur der Ehemann der Klägerin österreichischer Staatsbürger. Auch Angestellte der IAEO, die österreichische Staatsbürger sind, kämen aber in den Genuss von Immunität und Steuerbefreiungen (Art XVIII Abschnitt 48c iVm Art XV Abschnitt 38a und d des IAEO Amtssitzabkommens). Da der Ausschluss der Ehepartner von bestimmten Sozialleistungen an die Tatsache anknüpfe, dass der Partner (ausländischer) Angestellter der IAEO sei, greife dieser Ausschluss nicht, wenn es wie im vorliegenden Fall keine Anknüpfungspunkte gebe, zumal der Ehemann der Klägerin als österreichischer Angestellter der IAEO gerade nicht (trotz Privilegien) von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen sei. Das erst mit der Berufung vorgelegte Schreiben des Finanzamts vom 18. 3. 2013 (mit dem das Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend im Zuge einer aufsichtsbehördlichen Überprüfung festgestellt hat, dass im Hinblick auf Abschnitt 26 letzter Satz des Amtssitzabkommens ein Familienbeihilfenanspruch nur durch den Ehemann der Klägerin „möglich“ sei), sei wegen des auch in Sozialrechtssachen bestehenden Neuerungsverbots unbeachtlich. Da die sonstigen Voraussetzungen für das Kinderbetreuungsgeld vorlägen, sei der Berufung nicht Folge zu geben.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, da keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage existiere, ob ausländische Ehepartner österreichischer Angestellter der IAEO von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das Klagebegehren abzuweisen; eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zusammengefasst geltend, das Amtssitzabkommen, insbesondere dessen Art X Abschnitt 26 beziehe sich auch auf Familienangehörige und andere haushaltszugehörige Personen von Angestellten der IAEO. Durch diese Bestimmung werde der Anspruch auf Familienbeihilfe für alle jene Personen ausgeschlossen, auf die sich das Amtssitzabkommen beziehe. Die Klägerin sei zu diesem Personenkreis zu zählen, da sie als Ehegattin eines IAEO-Angestellten mit diesem im gemeinsamen Haushalt lebe. Das Amtssitzabkommen finde auf sie somit Anwendung. Die Rechtsfolge sei, dass die Klägerin wie sich auch aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs und des Unabhängigen Finanzsenats ergebe angesichts der auch ihr nach dem Amtssitzabkommen eingeräumten Privilegien im Gegenzug von den österreichischen Familienleistungen (Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld) ausgeschlossen sei. Ob ihr Ehemann österreichischer oder ausländischer Staatsbürger sei, führe zu keiner unterschiedlichen Beurteilung.

Dazu ist auszuführen:

1. Gemäß § 2 Abs 1 Z 1 KBGG hat ein Elternteil (Adoptivelternteil, Pflegeelternteil) Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für sein Kind (Adoptivkind, Pflegekind), sofern für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichs-gesetz 1967, BGBl Nr 376, besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird. Der Kinderbetreuungsgeldanspruch knüpft somit an den Familienbeihilfenanspruch nach dem FamLAG an.

2. Es ist nicht strittig, dass die Klägerin, die nicht österreichische Staatsbürgerin ist, sich rechtmäßig in Österreich aufhält (§ 3 Abs 1 FLAG) und im Bundesgebiet ihren Wohnsitz hat (§ 2 Abs 1 FLAG), sodass ihr im hier relevanten Zeitraum grundsätzlich Familienbeihilfe zustünde. Zu prüfen ist aber, ob zur Beurteilung ihres Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld die Normen des KBGG (und damit jene des FLAG, auf das im KBGG verwiesen wird) heranzuziehen sind, oder ob die Klägerin nicht unter die in Artikel X Abschnitt 26 3. Satz des IAEO-Amtssitzabkommens (BGBl 1958/82 idF BGBl 1947/413 enthaltene Ausschlussbestimmung fällt.

3.1 Art X Abschnitt 25 und 26 des Amtssitzabkommens lauten:

„Abschnitt 25

Die IAEO ist von jeder Beitragspflicht an eine Sozialversicherungseinrichtung der Republik Österreich befreit und die Angestellten der IAEO werden von der Regierung nicht verhalten, solchen Einrichtungen anzugehören.

Abschnitt 26

Die Regierung trifft die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen, um es jedem Angestellten der IAEO, der an Sozialversicherungseinrichtungen der IAEO nicht teil hat, über Ersuchen der IAEO zu ermöglichen, einer Sozialversicherungseinrichtung der Republik Österreich beizutreten. Die IAEO hat unter zu vereinbarenden Bedingungen, soweit als möglich, Vorsorge dafür zu treffen, dass die an Ort und Stelle aufgenommenen Angehörigen ihres Personals, denen sie nicht einen Sozialversicherungsschutz zuteil werden lässt, der dem nach österreichischem Recht gewährten zumindest gleichwertig ist, Mitglieder einer österreichischen Sozialversicherungseinrichtung werden können. Personen, auf die sich dieses Abkommen bezieht, die jedoch weder österreichische Staatsbürger noch Staatenlose mit Wohnsitz in Österreich sind, werden keinen Vorteil aus den österreichischen Bestimmungen über Familienbeihilfe und Geburtenbeihilfe ziehen. "

3.2. Der letzte Satz des Abschnitts 26 wurde durch Art III des am 4. 6. 1970 geschlossenen Abkommens zwischen der Republik Österreich und der IAEO zur Abänderung des Amtssitzabkommens vom 11. 12. 1957 (BGBl 1971/413) eingefügt. Der Nationalrat hat in der 36. Sitzung der XII. Gesetzgebungsperiode am 3. 3. 1971 anlässlich der Genehmigung des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der internationalen Atomenergie-Organisation zur Abänderung des Abkommens vom 11. 12. 1957 über den Amtssitz der Internationalen Atomenergie-Organisation keinen Vorbehalt im Sinne des Art 50 Abs 2 B VG abgegeben, sodass dieser Vertrag unmittelbar anzuwenden ist. Art X Abschnitt 26 ist somit unmittelbare Grundlage für innerstaatliche Vollzugsakte und bedarf keiner speziellen Transformation und damit auch keines Verweises im FLAG und im KBGG (UFS, RV/3075 W/12 vom 25. 2. 2013).

3.3. Aus den Erläuternden Bemerkungen ergibt sich inhaltlich lediglich, dass in den Abschnitt 26 nunmehr auch die in Punkt 5 des Notenwechsels zum UNIDO-Amtssitzabkommen enthaltene Regelung aufgenommen werden soll (ErläutRV 152 BlgNR 12. GP 16). Aus den Materialien zum UNIDO-Amtssitzabkommen geht dazu hervor, dass die Ausschlussbestimmung im Hinblick auf die Schaffung des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfe mit 1. 1. 1968 getroffen wurde. Es sollten die Angestellten der Organisation sowie deren dem Abkommen unterliegenden Familienangehörigen nicht österreichischer Staatsbürgerschaft von den Leistungen aus diesem Fonds ausgeschlossen werden (ErläutRV 669 20. GP 41).

4.1. Da die Aufwendungen für das Kinderbetreuungsgeld vom Familienlastenausgleichsfonds zu tragen sind (§ 38 Abs 1 KBGG), umfasst die Ausschlussbestimmung neben der Familienbeihilfe unzweifelhaft auch den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.

4.2. Vom persönlichen Anwendungsbereich des Art X Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens sind Angestellte der IAEO erfasst, sofern sie weder österreichische Staatsbürger noch Staatenlose mit Wohnsitz in Österreich sind. Der Ausschluss umfasst weiters die im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienmitglieder von IAEO Angestellten, weil auch diese Personen sind, „auf die sich das Abkommen bezieht“ (RIS Justiz RS0124615). Eine andere Auslegung würde den Zweck des Ausschlusses konterkarieren (10 ObS 11/11g, SSV-NF 25/19; 10 ObS 35/09h, SSV-NF 23/22), partizipieren doch die haushaltsangehörigen Familienmitglieder an den den Angestellten der IAEO eingeräumten Privilegien und Immunitäten teils ausdrücklich, teils aber mittelbar. Aus der englischen Fassung des Amtssitzakommens ergibt sich nichts anderes. Der Ausdruck „ members of its staff“ wird lediglich im zweiten Satz des Art X Abschnitt 26 gebraucht, nicht aber in der im dritten Satz enthaltenen Ausschlussbestimmung, in der ausdrücklich von „Personen“ („persons“) die Rede ist, auf die sich das Abkommen bezieht („to whom this Agreement applies“).

4.3. Auch nach der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs betrifft der in Art X Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens enthaltene Ausschluss die Anspruchsberechtigung von im gemeinsamen Haushalt lebenden Familienmitgliedern von IAEO-Angestellten. Sie seien Personen, „auf die sich das Abkommen beziehe“, weil die im Amtssitzabkommen für die Einreise nach Österreich, den Aufenthalt in Österreich und die Ausreise aus Österreich bedungenen Erleichterungen und Schutzrechte als Vorrecht anzusehen seien, die auch der Ehegatte eines Angestellten der Organisation genieße, selbst wenn diese Vorteile keinen „finanziellen Charakter“ hätten (VwGH 28. 9. 1994, 91/13/0086; VwGH 27. 4. 1983, 83/13/0014 zu einer gleichlautenden Bestimmung des OPEC Amtssitzabkommens). Diese Rechtsansicht teilte auch der Unabhängige Finanzsenat (RV/0128-W/08 vom 13. 2. 2008).

Verfassungsrechtliche Bedenken würden sich nach der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs nicht stellen: Sehe ein Amtssitzabkommen vor, dass die Angestellten einer Organisation mit Rücksicht auf ihre Privilegierung insbesondere auch auf steuerlichem Gebiet von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen sein sollten, so erscheine es nicht unsachlich, auch im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten der privilegierten Angestellten von diesen Leistungen auszuschließen. Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, würden nämlich regelmäßig an wirtschaftlichen Vorteilen partizipieren, die einem Mitglied der Haushaltsgemeinschaft zukommen. Durch die Privilegierung eines Haushaltsangehörigen komme es zu einer Entlastung der Haushaltsgemeinschaft, sodass eine weitere Entlastung durch Berücksichtigung von Unterhaltskosten unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht geboten erscheine (VwGH 28. 9. 1994, Zl 91/13/0086).

5.1. Fraglich ist, ob dem im Jahr 1971 dem Amtssitzabkommen hinzugefügten Ausschluss von Familienleistungen Anwendungsvorrang gegenüber den Bestimmungen des für Geburten ab 1. 1. 2002 geltenden KBGG hinsichtlich der Gewährung von Kinderbetreuungsgeld an Drittstaatsangehörige zukommt, oder dies nicht der Fall ist.

5.2. Der erkennende Senat ist in seinen Entscheidungen 10 ObS 35/09h, SSV-NF 23/22 und 10 ObS 11/11g, SSV-NF 25/19 jeweils davon ausgegangen, dass der Ehegattin eines IAEO Angestellten, die weder österreichische Staatsbürgerin noch staatenlos war und die keinen Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe nach dem FLAG hatte, im Hinblick auf die Anknüpfung des Kinderbetreuungsgeldanspruchs an den Familienbeihilfenanspruch auch kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zukomme. Es bestehe demnach kein Anspruch auf Familienbeihilfe und daraus folgend auch nicht auf den Bezug von Kinderbetreuungsgeld (RIS-Justiz RS0124615 [T1]). Im Hinblick darauf bedürfe es keiner näheren Ausführungen zu den Zwecken des Amtssitzabkommens und des im Verhältnis dazu späteren und spezielleren KBGG.

5.3. Der Unabhängige Finanzsenat hat sich bereits mit dem Verhältnis der Regelungen des Amtssitzabkommens zu jenen des FLAG, BGBl Nr 1967/376 idgF befasst. Der Anwendungsvorrang des Abkommens wird vom UFS im Wesentlichen mit der Begründung bejaht, dass durch die mit dem BGBl I 2000/142 vorgenommene Einfügung des § 53 Abs 2 FLAG die durch das Abkommen privilegierten Angestellten internationaler Einrichtungen und deren haushaltsangehörige Familienmitglieder aus EWR/EU Staaten die Leistungen aus dem Familienlastenausgleich nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts gleich wie die durch das Abkommen ebenfalls privilegierten österreichischen Angestellten und deren haushaltszugehörige Familienmitglieder erhalten sollten. Daraus sei ersichtlich, dass der Gesetzgeber sehr wohl davon ausgehe, dass der im Amtssitzabkommen normierte Ausschluss von Familienleistungen Anwendungsvorrang gegenüber den allgemeinen Bestimmungen des FLAG hinsichtlich der Gewährung von Familienbeihilfe an Ausländer genieße (UFS, RV/3075-W/12 vom 25. 2. 2013; UFS, RV/1231-W/10 vom 19. 1. 2011; UFS, RV/0128-W/08 vom 13. 2. 2008).

5.4. Auch der Verwaltungsgerichtshofs geht wenngleich ohne nähere Begründung in seinem die Geburten- und Familienbeihilfe betreffenden Erkenntnis 91/13/0086 vom 28. 9. 1994 vom Anwendungsvorrang der Ausschlussbestimmungen des Art X Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens (bzw Art III des am 4. 6. 1970 geschlossenen Abkommens zwischen der Republik Österreich und der IAEO zur Abänderung des Amtssitzabkommens) aus.

Dem Succus dieser Entscheidungen ist zu folgen:

6.1. Gemäß § 9 ABGB behalten Gesetze so lange ihre Kraft, bis sie vom Gesetzgeber abgeändert oder ausdrücklich aufgehoben werden. § 9 ABGB enthält somit den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“, der positivrechtliche Geltung besitzt (RIS-Justiz RS0082334). Unterschieden wird zwischen der ausdrücklichen Aufhebung („formellen Derogation“) eines älteren Gesetzes durch ein neueres und seiner „Abänderung“ dadurch, dass die neuere Anordnung mit der älteren in Widerspruch steht und diese daher, soweit der Widerspruch reicht, beseitigt („materielle Derogation“; RIS-Justiz RS0008708). Die Frage, ob und allenfalls inwieweit ein späteres Gesetz dem früheren widerspricht, ist durch Auslegung zu klären ( P. Bydlinski in KBB 3 § 9 Rz 3; 1 Ob 8/95 mwN).

6.2. Die Auslegung ergibt im vorliegenden Fall, dass eine inhaltliche Unvereinbarkeit zwischen Art X Abschnitt 26 3. Satz des Abkommens und § 2 KBGG nicht gegeben ist:

6.2.1 Das Kinderbetreuungsgeld ist als allgemeine Familienleistung konzipiert, auf die alle Mütter und Väter unabhängig von einer vor der Geburt ausgeübten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit für die in ihrem Haushalt betreuten Kinder Anspruch haben ( Ehmer ua KBGG 2 , 45). Die Finanzierung erfolgt aus dem Ausgleichsfonds für Familienbeihilfe, dessen Mittel für den Aufwand an nach dem FLAG vorgesehenen Leistungen zweckgebunden sind und ausschließlich durch Beiträge der Dienstgeber aufgebracht werden. Eine wesentliche Anspruchsvoraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld ist wie bereits ausgeführt der Anspruch auf Familienbeihilfe gemäß den §§ 2 ff FLAG in der jeweils geltenden Fassung (§§ 2, 49 KBGG).

6.2.2 Wie sich aus dem systematischen Zusammenhang und dem Zeitpunkt der Schaffung des Art X Abschnitt 26 3. Satz des Abkommens ergibt, ist diese Regelung dahin zu verstehen, dass nach dem Willen der Parteien drittstaatsangehörige Angestellte der IAEO, aber auch drittstaatsangehörige im gemeinsamen Haushalt lebende Familienangehörige im Gegenzug zu den ihnen eingeräumten Privilegien und Vorrechten nicht an durch den Familienlastenausgleichsfonds finanzierten Leistungen partizipieren, sondern von diesen Leistungen ausgeschlossen sein sollen. Hingegen sollen österreichische bzw staatenlose Angestellte der IAEO und deren haushaltszugehörige österreichische bzw staatenlose Familienangehörige am System des österreichischen Familienlastenausgleichs teilnehmen (siehe oben Pkt 3.2.). Auch die Anwendung des in Art XX Abschnitt 52 lit c des Amtssitzabkommens enthaltenen Interpretationsgrundsatzes führt zu keinem anderen Ergebnis. Nach diesem hat die Auslegung des Amtssitzabkommens im Geiste dessen obersten Zieles zu erfolgen, das darin besteht, die IAEO in die Lage zu versetzen, an ihrem Amtssitz in der Republik Österreich die ihr gestellten Aufgaben voll und ganz zu erfüllen und ihrer Zweckbestimmung nachzukommen. Inwiefern der Erhalt des Kinderbetreuungsgeldes durch drittstaatsangehörige Familienmitglieder von Angestellten der IAEO im Zusammenhang damit stehen sollte, den Angestellten die unabhängige Ausübung der Pflichten im Rahmen der IAEO zu ermöglichen, legte die Klägerin nicht dar, noch ist ein solcher Zusammenhang ersichtlich.

6.3. Ist davon auszugehen, dass der im Amtssitzabkommen normierte Ausschluss von Familienleistungen Anwendungsvorrang gegenüber den allgemeinen Bestimmungen des FLAG hinsichtlich der Gewährung von Familienbeihilfe an Drittstaatsangehörige genießt (siehe oben Pkt 5.4.), kann auch dem Gesetzgeber des KBGG keine andere Absicht unterstellt werden, knüpft der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld doch ausdrücklich an den Anspruch auf Familienbeihilfe (und deren tatsächliche Gewährung) an. Die Ausschlussbestimmung des Art III Abschnitt 26 3. Satz des Abkommens stellt nach Ansicht des erkennenden Senats somit eine ergänzende Spezialnorm für einen bestimmten Personenkreis dar, die nicht durch spätere (nationale) Regelungen wie jene des KBGG außer Kraft gesetzt werden sollte. Die in den Entscheidungen 10 ObS 35/09h, SSV NF 23/22 und 10 ObS 11/11g, SSV NF 25/19 noch zum Ausdruck kommende Ansicht, das KBGG sei im Verhältnis zu Art X Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens das speziellere Gesetz, wird nicht aufrechterhalten.

7. Die (drittstaatsangehörige) Klägerin ist demnach aufgrund der vorrangig anzuwendenden Bestimmung des Art III Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens vom Anspruch auf Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld angeschlossen. Ihr Ehemann wäre hingegen als österreichischer Staatsbürger entsprechend dem Wortlaut des Art X Abschnitt 26 3. Satz des Amtssitzabkommens vom Ausschluss von den Leistungen aus dem Familienlastenausgleichsfonds nicht erfasst, sodass ihm bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zukäme.

Der Revision war somit Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen waren dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abzuweisen war.

Die beklagte Partei hat ihre Verfahrenskosten selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG).

Eine Kostenentscheidung hinsichtlich der Klägerin war nicht zu treffen, weil sie im erstinstanzlichen Verfahren und im Berufungsverfahren nicht qualifiziert vertreten war und sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt hat.

Rechtssätze
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