JudikaturJustiz10Ob57/22p

10Ob57/22p – OGH Entscheidung

Entscheidung
13. Dezember 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober, Dr. Thunhart und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj S*, geboren * 2012, über den Revisionsrekurs der ehemaligen Pflegemutter Mag. S*, vertreten durch Mag. Anna-Maria Freiberger, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. September 2022, GZ 44 R 135/22m 69, womit der Rekurs der ehemaligen Pflegemutter gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 18. Februar 2022, GZ 26 Ps 76/18i 62, teilweise zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die * 2012 geborene S* verbrachte die ersten eineinhalb Lebensjahre gemeinsam mit ihrer Mutter im Haushalt der mütterlichen Großmutter und wurde am 2. Februar 2016 in einem Krisenzentrum untergebracht. Mit Beschluss des Erstgerichts vom 9. August 2016 wurde die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung (nach dem Tod der Mutter am 5. September 2019 auch im Bereich der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung) auf das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen.

[2] Am 10. August 2016 konnte die Minderjährige zur alleinerziehenden Pflegemutter Mag. S* ziehen, die zu dieser Zeit bereits zwei andere Minderjährige betreute. In weiterer Folge kam es jedoch zu Problemen und schien dem Kinder- und Jugendhilfeträger das Kindeswohl im Haushalt der Pflegemutter nicht mehr gewährleistet.

[3] Nach Unterbringung im Krisenzentrum vom 12. Jänner 2018 bis 26. Februar 2018 wurde die Minderjährige in einer Wohngemeinschaft untergebracht, in der sie seit 26. Februar 2018 durchgehend lebt.

[4] Die ehemalige Pflegemutter beantragte am 29. Juni 2021, ihr die Obsorge für die Minderjährige zu übertragen, in eventu das persönliche Kontaktrecht zur Minderjährigen auszuweiten. Sie sei ihre Hauptbezugsperson und könne sie in allen Belangen bestmöglich fördern und betreuen.

[5] Das Erstgericht wies die Anträge ab. Es entspreche dem Kindeswohl, die Obsorge beim Kinder- und Jugendhilfeträger und die derzeitigen Kontakte so wie derzeit zu belassen.

[6] Das Rekursgericht wies den Rekurs der ehemaligen Pflegemutter, soweit er sich gegen die Abweisung des Antrags auf Obsorge und des Antrags auf Ausweitung des vorläufigen Kontaktrechts für die Vergangenheit richtete, zurück und änderte den Beschluss des Erstgerichts im Übrigen dahin ab, dass es der ehemaligen Pflegemutter ein – bislang faktisch gewährtes – 14 tägiges Kontaktrecht am Sonntag 9:00 Uhr bis 19:00 Uhr einräumte, wobei sie die Minderjährige von der Wohngemeinschaft abzuholen und am Ende der Besuchszeit wieder dorthin zu bringen hat.

[7] Soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant, verneinte es die Antragslegitimation der ehemaligen Pflegemutter. Für einen Obsorgeantrag sei es erforderlich, dass eine Pflegeelternschaft bestehe. Seit mehr als vier Jahren würden die ehemalige Pflegemutter und die Minderjährige nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt leben. Mangels Parteistellung sei daher auch eine Rechtsmittellegitimation nicht gegeben. Mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, ob ehemalige Pflegeeltern, bei denen das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Übertragung der Obsorge nicht mehr lebe, Parteistellung genießen würden und rekurslegitimiert seien, ließ das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs zu.

[8] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der ehemaligen Pflegemutter, mit dem Antrag auf „Feststellung ihrer Parteistellung“ und Stattgebung ihres Antrags auf Übertragung der Obsorge, hilfsweise auf Aufhebung des Beschlusses des Rekursgerichts und Rückverweisung der Rechtssache an dieses bzw an das Erstgericht.

[9] Andere Parteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der Revisionsrekurs ist – entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts (§ 71 Abs 1 AußStrG) – nicht zulässig .

[11] 1. Die Revisionsrekurswerberin leitet ihre Parteistellung und die vom Rekursgericht verneinte Rekurslegitimation ausschließlich aus ihrer Eigenschaft als (ehemaliger) Pflegeelternteil ab, sodass auch nur diese Frage zu prüfen ist.

[12] 2. Gemäß § 184 ABGB haben Pflegeeltern, also Personen, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, das Recht, in den die Person des Kindes betreffenden Verfahren Anträge zu stellen. Die Pflegeelternschaft begründet damit ein Antrags- und Rechtsmittelrecht im Obsorgeverfahren (RS0118141; Hopf/Höllwerth in KBB 6 § 184 ABGB Rz 2; s allgemein zur Antragslegitimation § 181 Abs 2 ABGB).

[13] 2.1. Die Pflegeelterneigenschaft nach § 184 ABGB ist kraft Gesetzes gegeben, wenn die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale, nämlich die geforderte persönliche, emotionale Beziehung einerseits und die tatsächliche (gänzliche oder teilweise) Besorgung der Pflege und Erziehung andererseits vorliegen, wobei die faktischen Verhältnisse maßgebend sind (RS0127991). Beide Begriffselemente der Pflegeelterneigenschaft setzen eine weitgehende Eingliederung des Kindes in Haushalt und Lebensablauf der Pflegeeltern sowie zumindest die Absicht voraus, eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern vergleichbare emotionale Bindung aufzubauen (10 ObS 68/14v [Pkt 3.1.1]; Hopf/Höllwerth in KBB 6 § 184 ABGB Rz 1).

[14] Für die Begründung der Pflegeelternschaft ist somit entscheidend, dass die Pflege und Erziehung des Kindes zumindest im Innenverhältnis des § 160 ABGB schon tatsächlich besorgt wird; Personen, die eine Eingliederung in ihren Haushalt und Lebensablauf erst beabsichtigen und zu denen der Kontakt des Kindes bisher nur in gelegentlichen Besuchen besteht, erfüllen die Voraussetzungen des § 184 ABGB nach der Rechtsprechung nicht (RS0120370). Gleichermaßen endet die Pflegeelterneigenschaft, wenn die in § 184 ABGB genannten Tatbestandsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (3 Ob 165/11b).

[15] 2.2. Das Rekursgericht verneinte die Eigenschaft der Rekurswerberin als Pflegeelternteil, weil sie und die Minderjährige seit über vier Jahren nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt leben und gelegentliche Übernachtungen oder Reisen keine weitgehende Eingliederung in den Haushalt und den Lebensablauf der Rekurswerberin begründen. Mit dieser Beurteilung setzt sich der Revisionsrekurs nicht auseinander, insbesondere wird darin nicht einmal behauptet, dass eine Eingliederung der Minderjährigen in Haushalt und Lebensablauf (wieder) vorliegen würde, sodass eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG insofern nicht aufgezeigt wird.

[16] 2.3. Im Rechtsmittel wird vielmehr die zweite Voraussetzung des § 184 ABGB thematisiert und ausgeführt, dass festgestellt hätte werden müssen, ob zwischen der Revisionsrekurswerberin und der Minderjährigen eine persönliche Beziehung, die an Intensität dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommt, oder zumindest die Absicht besteht, eine solche herzustellen. Da die beiden in § 184 ABGB genannten Voraussetzungen der tatsächlichen Besorgung der Pflege und Erziehung und der (zumindest beabsichtigten) persönlichen, emotionalen Beziehung zur Begründung der Pflegeelternschaft aber kumulativ erfüllt sein müssen (arg: „und“), kommt es aufgrund des Nichtvorliegens der ersten Tatbestandsvoraussetzung auf das Vorliegen der zweiten nicht entscheidend an.

[17] 2.4. Soweit die Revisionsrekurswerberin schließlich die Rechtsansicht vertritt, dass für den Obsorgeantrag der Pflegemutter nicht erforderlich sei, dass eine Pflegeelternschaft (noch) bestehe, ist diese Behauptung angesichts der oben wiedergegebenen Rechtsprechung nicht zutreffend. Die Parteistellung als Pflegeelternteil wird vielmehr durch das Vorliegen der in § 184 ABGB genannten (kumulativen) Voraussetzungen begründet. Endet die Pflegeelternschaft, weil die Voraussetzungen des § 184 ABGB nicht mehr gegeben sind, endet konsequenterweise auch die Antrags- und Rekurslegitimation mit diesem Zeitpunkt.

[18] 3. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG ist die Revision somit zurückzuweisen.