Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm und den Hofrat Dr. Faber sowie die Hofrätin Dr. in Oswald als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Janitsch, über die Revision des G P, vertreten durch Dr. Helmut Blum und Mag. a Andrea Blum, Rechtsanwälte in Linz, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. Juli 2024, Zlen. 1. W265 2283032 1/7E und 2. W265 2294810 1/5E, betreffend Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 1.1. Der Revisionswerber beantragte am 10. September 2013 Heilfürsorge für psychotherapeutische Krankenbehandlung nach dem VerbrechensopfergesetzVOG wegen im Zeitraum von 1987 bis 1990 erlittener strafbarer Handlungen gegen seine sexuelle Integrität und Selbstbestimmung durch Angehörige eines katholischen Ordens. Mit Bescheid vom 8. November 2013 bewilligte das Bundessozialamt dem Revisionswerber gemäß § 4 Abs. 5 und § 10 Abs. 1 VOG die Übernahme der entstandenen bzw. entstehenden Selbstkosten für psychotherapeutische Krankenbehandlungen in näher genannter Höhe.
21.2. Am 11. Juni 2015 beantragte der Revisionswerber aufgrund derselben Vorfälle Ersatz des Verdienstentganges nach dem VOG. Mit Bescheid vom 29. Juni 2016 bewilligte die belangte Behörde dem Revisionswerber gemäß § 3 und § 10 Abs. 1 VOG Hilfeleistung in Form von Ersatz des Verdienstentganges ab 1. Juli 2015 in näher genannter Höhe.
31.3. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 7. November 2023 wurde dann gemäß § 10 Abs. 2 VOG die Weitergewährung der Übernahme von Selbstkosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung versagt und ausgesprochen, dass die Hilfeleistung mit dem auf die Zustellung des Bescheids folgenden Monatsersten ende.
4 Begründend wurde ausgeführt, aufgrund eines eingeholten nervenfachärztlichen Gutachtens vom 14. Dezember 2022 stehe fest, dass beim Revisionswerber keine kausale, auf die im Zeitraum von 1987 bis 1991 begangenen Verbrechen zurückzuführende Gesundheitsschädigung mehr bestehe, weshalb seit dem 14. Dezember 2022 die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr gegeben seien.
51.4. Mit Bescheid ebenfalls vom 7. November 2023 stellte die belangte Behörde gemäß § 10 Abs. 2 VOG die Hilfeleistung in Form von Ersatz des Verdienstentganges mit Wirkung vom 1. Jänner 2023 ein.
6 In der Bescheidbegründung führte die belangte Behörde aus, das nervenfachärztliche Gutachten vom 14. Dezember 2022 habe ergeben, dass beim Revisionswerber keine kausale, auf die im Zeitraum von 1987 bis 1991 begangenen Verbrechen zurückzuführende Gesundheitsschädigung mehr bestehe, weshalb davon auszugehen sei, dass der Revisionswerber seine Arbeitszeit nicht (mehr) auf 30 Wochenstunden reduzieren müsse. Ab 1. Jänner 2023 könne daher kein Verdienstentgang mehr festgestellt werden.
7 1.5. Gegen die Bescheide der belangten Behörde vom 7. November 2023 erhob der Revisionswerber jeweils eine Beschwerde, in der jeweils die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt wurde. Darin wandte er sich insbesondere gegen das von der belangten Behörde den Bescheiden zugrunde gelegte Sachverständigengutachten vom 14. Dezember 2022 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen und brachte dazu vor, das Gutachten weise gravierende Mängel auf. Insbesondere könne aus dem Umstand, dass der Revisionswerber ein „geordnetes Berufsleben und eine private Beziehung“ habe, nicht geschlossen werden, er habe keinen Bedarf mehr an einer Psychotherapie und sei ohne Einschränkung erwerbsfähig. Auch die Annahme der Sachverständigen, die beim Revisionswerber nach Auffassung seines Psychotherapeuten nach wie vor bestehenden Krankheitssymptome seien möglicherweise eine Folge der Psychotherapie selbst, sei nicht objektiv belegbar. Überdies brachte der Revisionswerber mit näherer Begründung vor, die Sachverständige sei befangen.
8 2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Revisionswerber gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden ohne Durchführung der vom Revisionswerber beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
9 Das Verwaltungsgericht stellte fest, der Revisionswerber sei zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr von einem katholischen Priester und einem Mesner regelmäßig sexuell missbraucht und vergewaltigt worden. Der Revisionswerber habe aufgrund dieser Verbrechen an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. Aus diesem Grund sei er in psychotherapeutischer Krankenbehandlung gewesen und habe seine Arbeitszeit ab 1. Jänner 2015 auf 30 Wochenstunden reduziert.
10 Zumindest seit 14. November 2022 leide der Revisionswerber an keinen Gesundheitsschäden mehr. Mangels aktueller Gesundheitsschädigung bestehe keine verbrechenskausale Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Krankenbehandlung und es liege kein verbrechenskausaler Verdienstentgang vor.
11 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Interesse aus, die Feststellung, dass der Revisionswerber seit 14. November 2022 an keinen Gesundheitsschäden mehr leide, gründe auf dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie vom 14. Dezember 2022, welches schlüssig und nachvollziehbar sei und keine Widersprüche aufweise. In dieser gutachterlichen Untersuchung habe die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, an der der Revisionswerber zuvor gelitten habe, nicht mehr erhoben werden können.
12 Die Sachverständige habe sich zudem in einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 21. Juli 2023 ausführlich mit den Stellungnahmen des Revisionswerbers und seines Psychotherapeuten, welcher der Auffassung gewesen sei, dass beim Revisionswerber sehr wohl noch Krankheitssymptome vorlägen, auseinandergesetzt. Die Sachverständige habe nachvollziehbar aufgezeigt, dass sie sich mit den vorgelegten Befunden und den Angaben des Revisionswerbers auseinandergesetzt habe und sie habe anhand näher ausgeführter Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode sowie gestützt auf Fachliteratur dargelegt, weshalb sie zu dem Ergebnis gelangt sei, dass diese Krankheitsbilder nicht (mehr) vorlägen. Hinweise auf eine Befangenheit der Sachverständigen lägen nicht vor.
13 In einer Gesamtbetrachtung sei der Revisionswerber den Argumenten und Schlussfolgerungen im medizinischen Sachverständigengutachten samt Ergänzung nicht substantiiert entgegengetreten und seine Einwendungen seien nicht geeignet gewesen, die nachvollziehbare Argumentation des Gutachtens zu entkräften.
14Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, im vorliegenden Fall hätten sich die für die Hilfeleistung maßgeblichen Umstände iSv § 10 Abs. 2 VOG geändert und die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfeleistungen nach dem VOG seien zumindest seit 14. November 2022 nicht mehr gegeben. Daher sei die Weitergewährung der mit Bescheid vom 8. November 2013 gewährten Übernahme der Kosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung sowie eine Weitergewährung des mit Bescheid vom 29. Juni 2016 bewilligten Ersatzes des Verdienstentganges nicht zulässig.
15 Von einer mündlichen Verhandlung habe so das Verwaltungsgericht in der weiteren Entscheidungsbegründung trotz entsprechenden Antrages abgesehen werden können, weil zur Beurteilung, ob beim Revisionswerber (nach wie vor) eine verbrechenskausale Gesundheitsschädigung vorliege, das eingeholte Sachverständigengutachten samt Ergänzung eine ausreichende Grundlage geboten habe. Der Revisionswerber habe mit seinen Beschwerden keine weiteren Unterlagen vorgelegt, welche seine vorgebrachten Argumente untermauern würden.
16 3. Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 17. September 2024, E 3041/2024 5, ablehnte und sie gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
17 Im vom Verwaltungsgerichtshof über die sodann fristgerecht eingebrachte Revision durchgeführten Vorverfahren erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung.
184. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision erwogen:
19 Die Revision ist zulässig und auch begründet, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.
204.1. Vorauszuschicken ist, dass es sich bei Hilfeleistungen nach dem VOG um einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch aus der Übernahme eines fremden Risikos und somit um ein „civil right“ iSd Art. 6 Abs. 1 EMRK handelt (vgl. VwGH 26.3.2024, Ra 2023/11/0001, mwN).
214.2. Im vorliegenden Fall hat der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das Verwaltungsgericht beantragt. Daher durfte das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Verhandlung nur dann absehen, wenn die Akten erkennen ließen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssachen nicht zu erwarten war, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstanden (zur grundsätzlichen Pflicht, in Verfahren über Ansprüche nach dem VOG eine Verhandlung durchzuführen, siehe etwa VwGH 26.11.2020, Ra 2020/11/0177, mwN).
22Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem wiederholt ausgesprochen, dass bei einem rechtswidrigen Unterlassen einer nach Art. 6 EMRK erforderlichen mündlichen Verhandlung keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen ist (vgl. VwGH 7.5.2025, Ra 2024/11/0185, mwN).
23 4.3. In seinen Beschwerden brachte der Revisionswerber vor, dass bei ihm entgegen der Auffassung der belangten Behörde sehr wohl weiterhin Krankheitssymptome vorlägen. Er führte ins Treffen, das von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten sei nicht nachvollziehbar, zumal alleine aus dem Umstand, dass der Revisionswerber eine Beziehung führe und arbeite, nicht der Schluss gezogen werden dürfe, er benötige keine Therapie mehr und könne „voll“ erwerbstätig sein. Zudem stellte der Revisionswerber die Annahme der Sachverständigen, wonach die von seinem Psychotherapeuten diagnostizierten Symptome auch Folge der in Anspruch genommenen Psychotherapie sein könnten, in Frage und brachte mit näheren Argumenten vor, die Sachverständige sei befangen.
24In Anbetracht dieses Beschwerdevorbringens kann keine Rede davon sein, dass gegenständlich die Tatbestandsvoraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG, die erfordert, eine mündliche Verhandlung lasse eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten, erfüllt ist. Vielmehr wäre das Verwaltungsgericht gehalten gewesen, die in den Beschwerden des Revisionswerbers gegen die Schlussfolgerungen des Sachverständigengutachtens ins Treffen geführten Argumente im Rahmen einer mündlichen Verhandlung unter Befragung der Sachverständigen bzw. Ergänzung deren Gutachtens zu erörtern.
254.4. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
26Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 8. Oktober 2025