JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0209 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
11. Dezember 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 29. Juni 2022 mündlich verkündete und mit 10. Juli 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W236 2234983 1/32E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: C C, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, in 1230 Wien, Lemböckgasse 49, Haus 1, Stiege C, Top C 31), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

1 Die Mitbeteiligte, eine chinesische Staatsangehörige, stellte im Dezember 2015 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Beschwerdeweg mit Erkenntnis vom 19. Dezember 2019 als unbegründet abwies.

2 Am 29. Jänner 2020 stellte die Mitbeteiligte einen Folgeantrag, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 4. August 2020 zur Gänze abwies. Unter einem erteilte das BFA der Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach China zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten gab das BVwG mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2022 mündlich verkündeten und mit 10. Juli 2022 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis statt, erkannte der Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Weiters sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend stellte das BVwG fest, dass die Mitbeteiligte Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden sei. Unter Vortäuschung ihrer späteren Beschäftigung in Europa im Gastgewerbe sei die Mitbeteiligte von China nach Österreich gebracht und in Wien zur Prostitution in verschiedenen Bordellen gezwungen worden, um ihre „Schulden“ für die Vermittlung nach Europa, den Erhalt der Gesundheitskontrollkarte für Prostituierte und der (nach § 51 AsylG 2005 ausgestellten) Aufenthaltsberechtigungskarte zurückzuzahlen. Sämtliche Einkünfte aus ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin seien einbehalten worden, wobei sie lediglich ein kleines „Taschengeld“ erhalten habe. Schließlich sei sie vor ihren Zuhältern geflohen. Als alleinstehende Frau und aufgrund ihrer prekären finanziellen Situation sei sie der Gefahr ausgesetzt, entweder Ziel von Vergeltungsmaßnahmen der Menschenhändler oder aber neuerlich Opfer von Menschenhandel zu werden. Beweiswürdigend stützte das BVwG seine Feststellungen weitgehend auf die als glaubwürdig erachteten Angaben der Mitbeteiligten, die auch vor dem Hintergrund herangezogener Länderberichte plausibel und nachvollziehbar erschienen seien, zumal auch einer ihrer Peiniger zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Mitbeteiligte im Strafurteil als Opfer genannt worden sei.

5 Rechtlich ging das BVwG davon aus, die Mitbeteiligte sei der sozialen Gruppe der „Opfer von systematisch organisiertem Menschenhandel“ zuzurechnen. Ihr drohe in China Verfolgung von maßgeblicher Intensität, die an ihre Zugehörigkeit zu der erwähnten sozialen Gruppe anknüpfe. Dass die chinesischen Behörden schutzfähig und willig wären, könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei der Mitbeteiligten aufgrund ihrer erhöhten Vulnerabilität nicht zumutbar.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des BFA. Im eingeleiteten Vorverfahren erstattete die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurück oder Abweisung der Revision beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision unter anderem vor, das BVwG habe sich nicht mit den von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des EuGH geforderten Voraussetzungen für das Vorliegen einer sozialen Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status RL auseinandergesetzt. Das BVwG habe es unterlassen, Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität der von ihm angenommenen sozialen Gruppe zu treffen.

8 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch berechtigt.

9 Der Verwaltungsgerichtshof judiziert zu § 29 VwGVG, dass die Begründung der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 29.8.2023, Ra 2021/19/0229, mwN).

10 Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. VwGH 11.1.2023, Ra 2020/19/0363, mwN).

11 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status RL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

12 Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. zu alldem erneut VwGH Ra 2020/19/0363, mwN).

13 Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass die Mitbeteiligte der sozialen Gruppe der „Opfer von systematisch organisiertem Menschenhandel“ angehöre und ihr deshalb im Herkunftsstaat Verfolgung drohe, es setzte sich jedoch nicht mit den einzelnen Voraussetzungen der Status RL für die Annahme einer sozialen Gruppe auseinander.

14 Folglich fehlen im angefochtenen Erkenntnis Feststellungen zu den Merkmalen und zur Identität einer solchen Gruppe sowie zum Kausalzusammenhang mit der Verfolgung, die eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Mitbeteiligten der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen sei, ermöglichen. Nicht nachvollziehbar ist insbesondere die Annahme, dass die von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende Gefahr der Verfolgung von (ehemaligen) Opfern von Menschenhandel diesen im Herkunftsstaat eine deutlich abgegrenzte Identität verschafft, aufgrund derer sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (vgl. in diesem Sinne auch zu einem Fall von Menschenhandel in Ghana VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295). Auf Grundlage der vom BVwG getroffenen Feststellungen kann anders als in der Revisionsbeantwortung geltend gemacht wird nicht ohne Weiteres auf das Vorliegen einer abgegrenzten Identität der sozialen Gruppe, welcher die Mitbeteiligte zuzurechnen sei, geschlossen werden.

15 Somit hat das BVwG in Verkennung der Rechtslage für die Entscheidung wesentliche Feststellungen nicht getroffen. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 11. Dezember 2023

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