Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des I A, vertreten durch Mag. a Irene Oberschlick, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Weyrgasse 8/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Februar 2022, L529 2157768 1/32E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1992 geborene Revisionswerber ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste im Dezember 2003 legal nach Österreich ein. Ihm wurden Aufenthaltstitel, ab 2016 der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, erteilt. Der Revisionswerber ist seit 14. Oktober 2017 verheiratet; seiner Ehefrau wurde mit 23. Juni 2020 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Auch die beiden Kinder des Revisionswerbers (geboren 2019 und 2021) sind österreichische Staatsbürger. Der Revisionswerber lebt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern im gemeinsamen Haushalt.
2 Am 12. Juni 2012 und am 15. April 2014 wurde der Revisionswerber wegen verschiedener Straftaten mit rechtskräftigen Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Graz (Körperverletzungsdelikte, versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt) jeweils zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten und mit dem Urteil aus 2014 zusätzlich zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt.
3 Am 8. Februar 2017 wurde der Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz unter anderem wegen versuchter schwerer Nötigung, verschiedenen zum Teil auch schwerwiegenden Suchtmitteldelikten sowie Verstößen gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von 32 Monaten verurteilt. Unter einem wurde auch die 2014 bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe widerrufen.
4 Deswegen befand sich der Revisionswerber von 2. Juni 2016 bis zu seiner bedingten Entlassung am 26. Juni 2018 in Haft.
5 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 2. Mai 2017 war gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG samt Nebenaussprüchen sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf zehn Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen worden.
6 Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 18. Februar 2022 „mit der Maßgabe“ ab, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf sechs Jahre herabgesetzt werde. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende nach Ablehnung der Behandlung einer an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (VfGH 29.4.2022, E 857/2022 5) und deren Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 18.5.2022, E 857/2022 7) fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
8 In der Zulässigkeitsbegründung seiner Revision wendet sich der Revisionswerber insbesondere gegen die vom BVwG durchgeführte Interessenabwägung. Damit erweist sich die Revision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA VG zu prüfen. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Das gilt aber nicht nur für die Rückkehrentscheidung und für das in § 9 Abs. 1 BFA VG weiters ausdrücklich genannte Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG, sondern auch für das nur bei gleichzeitiger Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässige Einreiseverbot im Sinne des § 53 FPG, in dessen Abs. 2 und 3 in Bezug auf die Bemessung der Dauer auch die Abwägung nach Art. 8 EMRK angesprochen wird (vgl. etwa VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0301, Rn. 14, mwN).
10 Im vorliegenden Fall hat das BVwG bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbotes maßgeblich auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers, insbesondere jene vom 8. Februar 2017, sowie auf über ihn 2016 verhängte Verwaltungsstrafen wegen Verkehrsdelikten Bedacht genommen.
11 Dabei hat das BVwG aber wie die Revision zutreffend geltend macht nicht hinreichend berücksichtigt, dass sich der Revisionswerber seit seiner Haftentlassung im Juni 2018 bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses im Februar 2022, somit über einen Zeitraum von mehr als dreieinhalb Jahren wohlverhalten hat. Entgegen der erkennbaren Ansicht des BVwG fällt auch das Wohlverhalten im Zeitraum zwischen Haftentlassung und Lehrabschluss sowie der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Jahr 2021 ins Gewicht. Ebenso kann auch aus dem Umstand, dass der Abschlussbericht der Bewährungshilfe „erst“ vom 21. Juni 2021 stammt, nicht abgeleitet werden, dass sich der Revisionswerber bis zu diesem Zeitpunkt nicht wohlverhalten habe. Im Gegenteil attestiert der Abschlussbericht dem Revisionswerber, dass er sich seit seiner Haftentlassung zum Positiven verändert, erfolgreich eine Drogentherapie absolviert sowie eine Ausbildung abgeschlossen habe und nunmehr erwerbstätig sei. Insoweit hat das BVwG bei seiner vor allem vergangenheitsbezogenen Betrachtung auch nicht ausreichend darauf Bedacht genommen, dass aufgrund dieser nunmehr veränderten Lebensumstände des Revisionswerbers, der zuvor erstmals das „Haftübel“ verspürte, ein maßgeblicher Gesinnungswandel beim Revisionswerber eingetreten sein könnte. Diese Annahme wird auch durch die weitere strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers aus dem Jahr 2020 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten infolge unrechtmäßigen Bezugs von Arbeitslosengeld während eines einwöchigen, dem AMS nicht gemeldeten Auslandsaufenthaltes nicht entscheidend relativiert.
12 Auch hat sich das BVwG wie die Revision im Ergebnis zutreffend geltend macht in der durchgeführten Interessenabwägung nicht hinreichend damit auseinandergesetzt, dass die nunmehrige Gründung einer Familie für den Revisionswerber einen stabilisierenden Faktor darstellen könnte und dass seine Ehefrau an einem inoperablen Gehirntumor leidet, weshalb es nach ihren Angaben auch immer wieder zu depressiven Episoden bei ihr komme und sie daher auf die Unterstützung des Revisionswerbers bei der Betreuung der gemeinsamen Kinder angewiesen sei. Darauf wäre auch unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls Bedacht zu nehmen gewesen.
13 Schließlich hat das BVwG auch den Umstand, dass das Beschwerdeverfahren bis zur Ausfertigung des angefochtenen Erkenntnisses fast fünf Jahre in Anspruch genommen hat, entgegen § 9 Abs. 2 Z 9 BFA VG nicht in die Interessenabwägung miteinbezogen.
14 Damit hat das BVwG die Interessenabwägung aber nicht unter Bedachtnahme auf sämtliche maßgeblichen Umstände des Einzelfalles vorgenommen, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.
15 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Juni 2023
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