JudikaturVwGH

Ra 2022/19/0301 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
06. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision der L H, vertreten durch Mag. a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das am 11. März 2022 mündlich verkündete und am 27. September 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W112 22502951/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberin ist afghanische Staatsangehörige und stellte am 12. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 26. November 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigen ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Die gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA erhobene Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision legte das BVwG samt den Akten dem Verwaltungsgerichtshof vor, welcher das Vorverfahren einleitete. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

5Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit einerseits vor, das BVwG hätte angesichts der Länderinformationen zu Afghanistan, die von gravierenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen und Mädchen berichten würden, von einer Gruppenverfolgung von Frauen in Afghanistan alleine aufgrund ihres Geschlechts ausgehen und der Revisionswerberin daher den Status einer Asylberechtigten zuerkennen müssen, andererseits rügt sie Begründungsmängel.

7Mit Beschluss VwGH 9.3.2023, Ra 2022/19/0301, wurde das zulässige Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

8 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, diese Fragen beantwortet.

9Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils in den Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 zu Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028 mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im Revisionsfall erstattet wurde. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend den Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024 im Fall einer Situation, wie sie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

11 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die afghanische Antragstellerin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

12 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

13 Entgegen dieser Rechtslage ist das BVwG im Revisionsfall tragend davon ausgegangen, dass es für den Anspruch der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ der Revisionswerberin ankomme und sie in ihrem Herkunftsstaat nach den Berichten über die Lage der Frauen unter dem Taliban Regime aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei.

14Somit ist aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Revisionswerberin mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

15Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

16Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. Februar 2025