Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des J R, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr und Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Jänner 2022, W123 2244734 1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der (im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses) minderjährige Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 21. April 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er mit seiner Bedrohung durch die Taliban wegen seines Vaters, der in der Moschee gepredigt habe, und in weiterer Folge mit seinem Abfall vom Islam begründete.
2 Mit Bescheid vom 6. Juli 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
3 Die gegen Spruchpunkt I. gerichtete Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Zudem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das BVwG in Bezug auf den vorgebrachten Glaubensabfall (zusammengefasst) damit, dass der Revisionswerber nicht glaubhaft gemacht habe, tatsächlich vom Islam abgefallen zu sein; insbesondere habe der Revisionswerber zu keinem Zeitpunkt in Österreich „etwas Kritisches zum Islam“ publiziert.
5 Mit Beschluss vom 14. Juni 2022, E 413/2022 5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 22. Juli 2022, E 413/2022 7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Über die in der Folge erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Im Hinblick auf das Revisionsvorbringen, mit dem die Befangenheit des erkennenden Richters wegen dessen Art der Befragung des Revisionswerbers und aufgrund von näher wiedergegebenen Äußerungen des Richters in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht wird, ist zunächst auf Folgendes hinzuweisen:
8 Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes begründet der Einwand der Befangenheit der entscheidenden Richter nur dann die Zulässigkeit der Revision, wenn vor dem Hintergrund des konkret vorliegenden Sachverhaltes die Teilnahme eines oder mehrerer Mitglieder des Verwaltungsgerichtes an der Verhandlung und Entscheidung tragende Rechtsgrundsätze des Verfahrensrechtes verletzt hätte bzw. in unvertretbarer Weise erfolgt wäre. Jeder Vorwurf einer Befangenheit hat konkrete Umstände aufzuzeigen, welche die Objektivität des Entscheidungsträgers in Frage stellen oder zumindest den Anschein erwecken können, dass eine parteiische Entscheidung möglich ist. Nur eindeutige Hinweise, dass ein Entscheidungsträger seine vorgefasste Meinung nicht nach Maßgabe der Verfahrensergebnisse zu ändern bereit ist, können seine Unbefangenheit in Zweifel ziehen (vgl. VwGH 7.9.2023, Ra 2023/19/0322, mwN).
9 Mit ihrem Vorbringen, die Fragen des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung hätten Zweifel an seiner vollen Unbefangenheit erkennen lassen, zeigt die Revision jedoch nicht auf, dass dies hier der Fall gewesen wäre. Daran ändert auch der Hinweis auf die handschriftliche Gesprächsnotiz des Rechtsvertreters nichts, derzufolge der erkennende Richter am Ende der Verhandlung auf Nachfrage ausgeführt habe, Länderberichte nicht zu benötigen, „wenn er dem [Revisionswerber] nicht glaubt“. Da der Schluss des Ermittlungsverfahrens nicht erklärt wurde und daher eine noch folgende Einführung von Länderberichten in das Verfahren nach der Verhandlung nicht ausgeschlossen war, lässt sich anhand der Bemerkung nicht der Schluss ziehen, der erkennende Richter habe sich bereits in Bezug auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylvorbringens endgültig festgelegt (siehe auch die Erklärung des Richters auf S. 17 des Verhandlungsprotokolls, dass „heute keine Länderfeststellungen in das Verfahren eingebracht werden.“). Im Übrigen stellt der bloße Vorwurf von Verfahrensfehlern ohne Hinzutreten weiterer begründeter Umstände keinen Anlass dar, die Befangenheit eines Richters anzunehmen (vgl. VwGH 25.1.2022, Ra 2021/19/0128, mwN). Begründungsteile, die im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes den Anschein der Befangenheit begründen könnten (vgl. zur Relevierung von Begründungsteilen und deren Eignung zur Begründung einer Befangenheit VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0676), sind dem angefochtenen Erkenntnis zudem nicht zu entnehmen.
10 Soweit die Revision jedoch Verfahrensmängel geltend macht, indem sie insbesondere die beantragte und schließlich unterbliebene Einvernahme mehrerer Zeugen rügt, und sich gegen die Beweiswürdigung wendet, erweist sich die Revision als zulässig und aus nachstehenden Erwägungen als begründet:
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 10.8.2020, Ra 2018/19/0228, mwN). Auch hat der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf den Rechtssatz, es liege im Wesen der freien Beweiswürdigung, dass weitere Beweisanträge nicht mehr berücksichtigt werden müssten, wenn die Behörde sich auf Grund der bisher vorliegenden Beweise ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltselemente machen konnte, ausgeführt, dass dieser Rechtssatz im Hinblick auf das Verbot vorgreifender Beweiswürdigung wohl nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen Beweisanträge geradezu mutwillig erscheinen, zum Tragen kommen könnte (vgl. VwGH 29.8.2023, Ra 2021/19/0229, mwN).
12 Im vorliegenden Fall beantragte der Revisionswerber zum Nachweis seines ernsthaften Glaubensabfalls u.a. die Einvernahme von drei namentlich genannten Zeugen (u.a. seines in Österreich lebenden Bruders).
13 Die Abstandnahme von der Einvernahme dieser Zeugen begründete das BVwG zum einen damit, dass der Revisionswerber zu keinem Zeitpunkt öffentlich „etwas Islamkritisches“ gesagt bzw. geschrieben habe, wobei sich diese Begründung schon mangels Länderfeststellungen, die eine Verfolgungsfreiheit von Atheisten bereits bei der Unterlassung öffentlicher Religionskritik erkennen ließen als nicht nachvollziehbar erweist.
14 Zum anderen begründete das BVwG die Abstandnahme von der Zeugeneinvernahme damit, dass die beantragten Beweismittel nicht geeignet seien, „innere Vorgänge“ (gemeint wohl: die innere Überzeugung) des Revisionswerbers nachzuweisen.
15 Dies trifft allerdings in dieser Form nicht zu:
16 Für die Annahme einer Verfolgung wegen Apostasie ist Voraussetzung, dass der Revisionswerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch in seinem Heimatstaat leben wird (vgl. VwGH 14.11.2022, Ra 2022/19/0052, mwN; sowie VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395, mit Verweis auf EuGH 4.10.2018, Bahtiyar Fathi , C 56/17, Rn. 88).
17 Wie der Verwaltungsgerichtshof anlässlich der Prüfung eines behaupteten Religionswechsels und von Scheinkonversionen wiederholt ausgesprochen hat, ist die Glaubwürdigkeit der inneren Überzeugung der Konversion in einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände einschließlich Zeugenaussagen und religiöser Aktivitäten der betroffenen Person zu beurteilen (VwGH 12.9.2023, Ra 2022/19/0237, mwN). Dies gilt entsprechend auch für das Vorbringen einer Apostasie aus innerer Überzeugung.
18 Gegenständlich lag wie die Revision zutreffend geltend macht keiner der dargestellten Gründe, wonach von der beantragten Beweisaufnahme hätte Abstand genommen werden dürfen, vor. Vielmehr stellt sich die wiedergegebene Begründung des BVwG als eine vorgreifende Beweiswürdigung dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm § 17 VwGVG) aber erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0711, mwN).
19 Im Übrigen wendet sich die Revision auch zu Recht gegen die Beweiswürdigung des BVwG.
20 Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof bei Behandlung einer zulässigen Revision auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 30.3.2021, Ra 2020/19/0048, mwN).
21 Diesen Grundsätzen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht, weil sich das BVwG zwar mit den vom Revisionswerber im Verfahrensverlauf gemachten Aussagen auseinandersetzte, diese Auseinandersetzung jedoch in nicht nachvollziehbarer Weise und letztlich einseitig zu Lasten des Revisionswerbers erfolgte.
22 Dabei definierte das BVwG wiederholt Erwartungshaltungen an das Verhalten und das Wissen eines Apostaten, ohne darzulegen, woher es diese Erfahrungssätze nahm. So führte das BVwG gegen die Glaubwürdigkeit des behaupteten Glaubensabfalls ins Treffen, dass sich der Revisionswerber nicht „eindringlich“ mit der Frage befasst habe, ob es einen oder mehrere Götter gebe. Der Revisionswerber habe eine tiefgreifende und kritische Auseinandersetzung mit den islamischen Glaubensinhalten vermissen lassen, zumal er kaum über Wissen zum Islam verfügt habe. Überdies habe der minderjährige Revisionswerber „nicht einmal“ den Begriff des Agnostikers gekannt, weshalb seine eigene Zuordnung zum Atheismus nicht glaubwürdig sei. Der Revisionswerber habe den Genuss von Alkohol und Schweinefleisch „nicht einmal“ behauptet. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits wiederholt erkannt, dass es den Anforderungen an eine schlüssige Beweiswürdigung nicht entspricht, wenn Erfahrungssätze angewendet werden, ohne deren unterstellte generelle Geltung näher zu begründen (vgl. VwGH 26.9.2023, Ra 2022/19/0164). Im vorliegenden Fall hat das BVwG überdies das Alter des Revisionswerbers nicht ausreichend berücksichtigt.
23 Somit erweisen sich die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG insgesamt als nicht schlüssig begründet.
24 Da das BVwG im Fall eines mängelfreien Verfahrens zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis schon aus den dargestellten Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Vorbringen in der Revision einzugehen war. Für das fortgesetzte Verfahren wird aber noch darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen der Beweiswürdigung nicht nur das jugendliche Alter des Asylwerbers im Zeitpunkt der Befragung (vgl. etwa VwGH 14.1.2023, Ra 2022/19/0149, mwN), sondern auch das Alter, in dem die fluchtauslösenden Ereignisse erlebt wurden, zu berücksichtigen ist (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0150).
25 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
26 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. Dezember 2023