Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der O O in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juni 2022, I413 22020311/33E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1Mit Antrag vom 18. Oktober 2017 beantragte die Revisionswerberin, eine nigerianische Staatsangehörige, die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK.
2Mit Bescheid vom 25. Juni 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK ab (Spruchpunkt I.), erließ gegen die Revisionswerberin eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.), stellte fest, dass die Abschiebung der Revisionswerberin nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.) und stellte fest, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
3 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht).
4Am 19. Februar 2019 erklärte sich der Leiter der Gerichtsabteilung B des Bundesverwaltungsgerichts (Verwaltungsgericht) „infolge Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung (§ 20 AsylG 2005, [...])“ für unzuständig.
5Am 20. Februar 2019 erklärte sich in weiterer Folge die Leiterin der Gerichtsabteilung A des Verwaltungsgerichts ihrerseits für unzuständig, weil (ihres Erachtens) § 20 AsylG 2005 normiere, dass Asylwerber, die behaupten Opfer von sexuellen Misshandlungen zu sein oder solchen Gefahren ausgesetzt zu sein, von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen seien. Im gegenständlichen Fall handle es sich nicht um eine Asylwerberin bzw. Asylverfahren, sondern um eine Fremde bzw. um ein fremdenrechtliches Verfahren, weshalb die genannte Bestimmung nicht gelte.
6 Mit „Entscheidung“ (so die Wiedergabe des Verfahrensganges im vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis) vom 21. Jänner 2019 wies der Präsident des Verwaltungsgerichts das gegenständliche Verfahren (Anmerkung des Verwaltungsgerichtshofes: erneut) dem Leiter der Gerichtsabteilung B zu, weil die von ihm angeführte Unzuständigkeit wegen Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung nicht zum Tragen komme.
7Am 28. August 2019 erklärte sich der Leiter der Gerichtsabteilung B erneut infolge Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung (§ 20 AsylG 2005) für unzuständig. Die Rechtssache wurde sodann der Leiterin der Gerichtsabteilung C zugewiesen.
8 Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Verwaltungsgerichts vom 19. September 2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der Leiterin der Gerichtsabteilung C abgenommen und der Leiterin Gerichtsabteilung D neu zugewiesen.
9Am 10. Oktober 2019 erklärte sich die Leiterin der Gerichtsabteilung D für unzuständig, da § 20 AsylG 2005 im gegenständlichen Fall, in welchem es sich nicht um eine Asylwerberin bzw. um ein Asylverfahren handle, nicht gelte. Die Rechtssache wurde dem Leiter der Gerichtsabteilung E zugewiesen.
10 Aufgrund weiterer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Verwaltungsgerichts vom 26. Mai 2021 wurde die gegenständliche Rechtssache dem Leiter der Gerichtsabteilung E abgenommen und dem Leiter der Gerichtsabteilung F neu zugewiesen.
11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28. August 2019 und 9. Juni 2022 die Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
12Zur Unzuständigkeitseinrede der Revisionswerberin erwog das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst, gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 sei ein Asylwerber von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, wenn er seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, es sei denn, dass er anderes verlange. Bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 („Asylwerber“ ... „Furcht vor Verfolgung“) sei abzuleiten, dass die genannte Bestimmung nur auf Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz anzuwenden sei. Dem gegenständlichen Verfahren liege freilich kein Antrag auf internationalen Schutz, sondern ein Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß Art. 8 EMRK gemäß § 57 in Verbindung mit § 59 AsylG 2005 zugrunde. Die Heranziehung des im 4. Hauptstück enthaltenen § 20 AsylG 2005 wäre daher verfehlt. Die Rechtssache sei aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 23. März 2022 der Gerichtsabteilung G abgenommen und neu zugeteilt worden. Der erkennende Einzelrichter sei nach der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts für Rechtssachen „AFR 1“, wozu Nigeria zähle, sachlich zuständig, weshalb er zur Entscheidung in dieser Sache berufen und verpflichtet sei.
13 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht textbausteinartig.
14Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision rügt (u.a.), es treffe zwar zu, dass das Verwaltungsgericht durch einen männlichen Richter habe entscheiden dürfen, allerdings sei die Sache „ursprünglich dem Richter Dr. M* zugewiesen [worden], der sich nicht hätte für unzuständig erklären dürfen“. Die Revisionssache hätte wieder diesem Richter zugewiesen werden müssen (Verweis auf VwGH 13.1.2022, Ra 2018/22/0020).
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurdein einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
15 Bereits mit diesem Zulässigkeitsvorbringen erweist sich die Revision als zulässig; sie ist in diesem Umfang auch berechtigt.
16 In seinem zutreffend in der Revision zitiertenErkenntnis vom 13. Jänner 2022, Ra 2018/22/0020 (mwN), auf das gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt, dass aus dem eindeutigen Wortlaut des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 („Asylwerber“ ... „Furcht vor Verfolgung“) abzuleiten ist, dass die genannte Bestimmung nur auf Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz anzuwenden ist. Entscheidet in diesem Zusammenhang ein nach der Geschäftsverteilung des Verwaltungsgerichts nicht zuständiger (Einzel)Richter, so führt dies ungeachtet einer abweichenden Regelung in der Geschäftsverteilung des Verwaltungsgerichtes, für die es keine gesetzliche Deckung gibtim Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof zur Aufhebung der Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. idS. auch VwGH 2.9.2022, Ra 2019/14/0304).
17Dem gegenständlichen Verfahren liegt kein Antrag auf internationalen Schutz, sondern ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK zugrunde. Die Heranziehung des im 4. Hauptstück des AsylG 2005 enthaltenen § 20 AsylG 2005 durch das Verwaltungsgericht war daher verfehlt.
18Die im Revisionsfall erfolgten mehrfachen Neuzuteilungen können daher wegen der bereits ursprünglich nicht gesetzmäßig erfolgten Unzuständigkeitserklärung des Leiters der Gerichtsabteilung B Auswirkungen auf das inhaltliche Ergebnis des Revisionsverfahrens haben. Die Revisionssache hätte also dem Leiter der Gerichtsabteilung B nach der im Revisionsfall in Betracht zu ziehenden Geschäftsverteilung des Verwaltungsgerichts zusammengefasst von vornherein nicht in (verfehlter) Anwendung von § 20 Abs. 1 AsylG 2005 abgenommen und in der Folge (immer wieder) neu zugeteilt werden dürfen.
19Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen gewesen ist.
20Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 14. Jänner 2025