Das Oberlandesgericht Wien hat durch die Richterin Mag. Maruna als Vorsitzende sowie die Richterinnen Mag. Frigo und Mag. Seidenschwann, LL.B. (WU) als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegenA* wegen § 142 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über 1. den Antrag des B* auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. Juni 2025, GZ ** 143, und 2. die unter einem erhobene Beschwerde, nichtöffentlich den
Beschluss
gefasst:
1. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. Juni 2025, GZ ** 143, wird bewilligt .
2. Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht abgewiesen.
Begründung:
Mit am selben Tag rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. April 2024, GZ **65.6, wurde der am ** in ** geborene somalische Staatsangehörige B* wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB schuldig erkannt und unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten verurteilt, von der gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Unter einem wurde gemäß §§ 50, 52 StGB für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet und dem Verurteilten die Weisung erteilt, ein Anti Gewalt Training zu absolvieren und dies dem Gericht unaufgefordert binnen vier Monaten nach der Haftentlassung nachzuweisen (ON 65.6,4).
Mit dem angefochtenen Beschluss widerrief das Landesgericht für Strafsachen Wien (ON 143) auf Antrag der Staatsanwaltschaft (ON 1.44)entgegen § 495 Abs 3 StPO ohne Einholung einer Strafregisterauskunft die B* mit dem genannten Urteil gewährte bedingte Strafnachsicht aufgrund des beharrlichen Entzuges aus dem Einfluss der Bewährungshilfe.
Dagegen richtet sich die verspätet am 12. Juli 2025 um 00:02 Uhr einlangende Beschwerde des Verurteilten (ON 152), in der er die Verletzung seines rechtlichen Gehörs, eine unzureichende Begründung zur spezialpräventiven Notwendigkeit des Widerrufs und den Umstand, dass kein beharrlicher Entzug aus dem Einfluss des Bewährungshelfers vorliege, moniert.
Mit Eingabe vom 12. Juli 2025 um 1:45 Uhr, teilte der Verteidiger des Verurteilten mit, dass aufgrund technischer Probleme in der Kanzlei (Stillstand der EDV) die ursprünglich am 11. Juli 2025 eingebrachte Beschwerde erst um 00:02 Uhr an das Gericht übermittelt und dies dem Verteidiger erst um 00:05 Uhr bekannt wurde (ON 153).
Mit Eingabe vom 28. Juli 2025 beantragte der Verurteilte fristgerecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die von seinem Rechtsvertreter versäumte Frist zur Einbringung einer Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. Juni 2025 und brachte unter einem die Beschwerde ein (ON 153). Begründend führte er zusammengefasst aus, dass er und seine Mutter den Verteidiger erst am 10. Juli 2025, sohin einen Tag vor Fristende, mit der Erhebung der Beschwerde beauftragt haben, weshalb nach Akteneinsicht bei Gericht und Übermittlung sämtlicher relevanten Schriftstücke an den Verteidiger, dieser erst am 11. Juli 2025 um 23:27 Uhr die Beschwerdeausführungen fertiggestellt habe. Die Beschwerde habe jedoch im Zeitraum zwischen 23:27 Uhr und 24:00 Uhr nicht rechtzeitig über den elektronischen Rechtsverkehr bei Gericht eingebracht werden können, weil die EDV in der Kanzlei des Verteidigers trotz zahlreicher Versuche das System wieder hochzufahren (zB Schließen aller Programme, Wechsel des R-Codes des Absenders, neuerliches Erstellen der Sendedateien, Neustart des Terminals) eingefroren gewesen sei. Erst um 23:57 Uhr habe der Kanzleiserver wieder hochgefahren werden können, jedoch erheblich langsamer als üblich, die Beschwerde sei daher erst kurz nach Mitternacht um 00:02 Uhr bei Gericht eingelangt.
Der Verteidiger habe von diesem, ein unvorhersehbares bzw unabwendbares Ereignis darstellenden Umstand erst am 12. Juli 2025 um 00:05 Uhr durch das rückübermittelte Einbringungsdatum erfahren. Die Überprüfung des Serverprotokolls durch den ständigen EDV-Dienstleister der Kanzlei (C* GmbH) habe ergeben, dass der Datenbankserver „Terminalserver“ am 11. Juli 2025 um 23:27, 23:43 und 23:52 Uhr jeweils ein EDV-Problem, nämlich einen Fehler beim D*-Server angezeigt habe. Dieser Dienst sei unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren der Anwaltssoftware und des elektronischen Rechtsverkehrs. Ein technischer Support ohne Voranmeldung um diese Uhrzeit sei nicht möglich gewesen und hätte nach Auskunft der C* nicht zu einer rechtzeitigen Lösung geführt. Folglich sei es in der Kanzlei zwischen 11. Juli 2025, 23:27 Uhr bis 12. Juli 2025; 00:02 Uhr zu einem Stillstand gekommen (Beilage ./11 und ./12).
Gemäß § 364 Abs 1 StPO ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Anmeldung, Ausführung oder Erhebung eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfes zu bewilligen, sofern der Antragsteller nachweist, dass es ihm durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, die Frist einzuhalten oder die Verfahrenshandlung vorzunehmen, es sei denn, dass ihm oder seinem Vertreter ein Versehen nicht nur minderen Grads zur Last liegt. Die Wiedereinsetzung ist innerhalb von 14 Tagen nach Wegfall des Hindernisses zu beantragen. Unter einem ist die versäumte schriftliche Verfahrenshandlung nachzuholen. Unvorhersehbar ist ein Ereignis, wenn sein Eintritt für den Betroffenen aus dessen subjektiver Perspektive nicht zu erwarten war (vgl auch Gitschthaler in Rechberger 3 § 146 Rz 2). Unabwendbare Umstände iS des § 364 sind solche, die bei Berücksichtigung der gewöhnlichen Abläufe der Dinge normalerweise nicht in den Bereich der Möglichkeiten einbezogen werden und denen man, auch bei Anwendung erhöhter Vorsicht in seinen Handlungen, nicht entgehen kann ( Kirchbacher, StPO 15 § 364 Rz 3).
Die vom Verteidiger bescheinigten EDV-Probleme bei der Übermittlung des Rechtsmittels stellen ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignisse dar, wodurch es ihm unmöglich war, die Frist einzuhalten. Demgemäß war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung einer Beschwerde zu bewilligen.
Die unter einem erhobene Beschwerde erweist sich als berechtigt (ON 152).
Zum bisherigen Verfahrensgang wird auf die zutreffende Darstellung im angefochtenen Beschluss (BS 2f) zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen (zur Zulässigkeit vgl RISJustiz RS0119090 [T4], RS0098664 [T3], RS0098936 [T15]).
Begründend führte das Erstgericht zusammengefasst aus, dass der Verurteilte zwar die Weisung zum Anti Gewalt Training (gerade noch) ausreichend absolviere (vgl etwa ON 102), er sich jedoch beharrlich dem Einfluss der Bewährungshelferin entziehe, indem er die vereinbarten Termine (trotz Terminerinnerungen) gar nicht oder mit derartiger Verspätung wahrnehme, dass seine Betreuung an den jeweiligen Terminen nicht mehr oder nur noch sehr verkürzt stattfinden können, trotz mehrfacher Mahnungen und Belehrungen über die Konsequenzen der Nichteinhaltung der Termine.
Daraus erhellt, dass der Verurteilte seit Beginn der Betreuung durch die Bewährungshilfe dieser trotz vorangehender Erinnerungen durch die Bewährungshelferin und zweimaliger förmlicher Mahnung (ON 94 und ON 129.1) nur sehr schleppend nachkommt.
Nach der am 28. März 2025 (ON 129.1) erfolgten persönlichen Mahnung und Belehrung, dass er der Bewährungshilfe nachzukommen und dies dem Gericht unverzüglich zu bestätigen habe, widrigenfalls die bedingte Strafnachsicht widerrufen werde, nahm der Verurteilte zwar Kontakt mit der Bewährungshelferin auf, erschien jedoch bei den vereinbarten Terminen nicht oder erneut verspätet (ON 138 und ON 142).
Weisungen und Bewährungshilfe sind sanktionsergänzende Maßnahmen, die der individuellen Verbrechensvorbeugung dienen und nach ihrer Zielsetzung zur Schaffung jener Voraussetzungen beitragen, die ein rückfallfreies Verhalten fördern und erleichtern. Notwendig in diesem Sinne ist eine Weisung oder die Bewährungshilfe, wenn ohne sie der anzustrebende ordentliche Lebenswandel nicht möglich wäre. Zweckmäßig ist die Weisung oder Bewährungshilfe, wenn durch sie die Wahrscheinlichkeit künftiger Delinquenz verringert wird. Diese Maßnahmen können während der Probezeit auch neuen spezialpräventiven Erfordernissen angepasst und geändert werden. Dem Gericht steht es somit offen, erteilte Weisungen aufzuheben oder abzuändern, wenn der intendierte Zweck dieser Anordnung, insbesondere die spezialpräventive Beeinflussung nicht mehr realisiert werden kann oder sich eine Weisung bzw Bewährungshilfe als überflüssig erweist (vgl
Gemäß § 53 Abs 2 StGB ist die bedingte Strafnachsicht oder die bedingte Entlassung zu widerrufen und die Strafe oder der Strafrest zu vollziehen, wenn der Rechtsbrecher während des vom Gericht bestimmten Zeitraumes eine Weisung trotz förmlicher Mahnung mutwillig nicht befolgt oder sich beharrlich dem Einfluss des Bewährungshelfers entzieht, soweit dies nach den Umständen geboten erscheint, um den Rechtsbrecher von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten.
Ein beharrlicher Entzug bedeutet, dass der Verurteilte die Einflussmöglichkeiten des Bewährungshelfers durch wiederholtes oder andauerndes Verhalten ausschaltet und solcherart zu erkennen gibt, Beratung und Hilfe des Bewährungshelfers nicht annehmen zu wollen, vielmehr die Bewährungshilfe zur Gänze negiert: Es genügt nicht, dass der Verurteilte „nichts oder zu wenig von dem tut, wozu ihm der Bewährungshelfer rät“, entscheidend ist vielmehr, „ob der Rechtsbrecher das Seine dazu beiträgt, dass der Bewährungshelfer mit ihm im Großen und Ganzen so häufig und in dem jeweiligen zeitlichen Ausmaß zusammentreffen kann, in dem es sachlich geboten ist“. Eine förmliche Mahnung des Probanden ist nicht Voraussetzung des Widerrufs; ebenso wenig wird verlangt, dass sich der Proband dem Zusammentreffen mit dem Bewährungshelfer absichtlich entzieht, es genügt zumindest bedingter Vorsatz. Negiert der Proband die Bewährungshilfe im aufgezeigten Sinn, ist unter der weiteren Bedingung spezialpräventiver Notwendigkeit (Rz 9) zu widerrufen (vgl Jerabek/Ropper in WK 2StGB § 53 Rz 11 mwN; Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB 15 § 53 Rz 9).
Konkrete Anhaltspunkte müssen demnach Anlass zur Besorgnis geben, dass der Verurteilte seine soziale Integration nicht anstrebt und sich ohne Einwirkung des Strafvollzugs nicht straffrei verhalten werde ( Jerabek/Ropper in WK 2StGB § 53 Rz 9); es muss eine ungünstige Prognose vorliegen ( Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB 15 § 53 Rz 5).
Entgegen dem Einwand der Verletzung des rechtlichen Gehörs zum Zwischenbericht der Bewährungshelferin vom 6. Juni 2025 (ON 142) ist auszuführen, dass der Verurteilte nach förmlicher Mahnung am 28. März 2025 und Belehrung über die rechtlichen Konsequenzen der Nichteinhaltung der Bewährungshilfe (ON 129.1) und durch die Aufforderung zur Stellungnahme zum Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft gehört wurde (ON 139), er dieser Aufforderung aber trotz persönlicher Übernahme am 15. Mai 2025 nicht nachkam. Eine neuerliche Anhörung zum Zwischenbericht der Bewährungshelferin war demnach gesetzlich nicht erforderlich.
Zutreffend kann jedoch auf Basis des von der Erstrichterin aktenkonform geschilderten und oben wiedergegebenen Verhaltens des Beschwerdeführers von einer beharrlichen Entziehung aus dem Einfluss des Bewährungshelfers (noch) nicht gesprochen werden. Wenngleich die Bewährungshelferin mehrfach über Fehltermine trotz vorangegangener Erinnerungen und Schwierigkeiten mit der Kontaktaufnahme mit dem Verurteilten berichtete, ist doch ersichtlich, dass der Verurteilte den Kontakt zur Bewährungshilfe nach Möglichkeit immer wieder aufnimmt (siehe dazu - mangels Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren [ Kirchbacher, StPO 15 § 89 Rz 3f] auch die Beilagen der Korrespondenzen ./1 bis .4/ zu ON 153).
Auch sind derzeit – wie der Beschwerdeführer zu Recht moniert - keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar, dass der Widerruf aus spezialpräventiver Sicht erforderlich ist, zumal keine weitere Verurteilung erfolgte und auch keine dem VJ Register der Justiz entnehmbaren weiteren Verfahren anhängig sind.
Da derzeit somit keine ausreichenden Hinweise darauf bestehen, der Beschwerdeführer werde sich ohne Einwirkung des drohenden Strafvollzugs nicht straffrei verhalten, war der Widerruf der bedingten Strafnachsicht auch aus spezialpräventiver Sicht nicht geboten, weshalb der Beschwerde Folge zu geben und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht abzuweisen war.
Es wird jedoch am Verurteilten liegen, die Termine bei der Bewährungshelferin in Zukunft einzuhalten, widrigenfalls die weitere Nichteinhaltung dieses Kalkül ändern könnte.
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