JudikaturOLG Linz

12Rs73/25d – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
20. August 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Dr. Dieter Weiß und Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichterinnen Mag. Birgit Paumgartner (Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Christina Teuchtmann (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, **straße **, vertreten durch die Korn Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch ihren Angestellten Mag. B*, Landesstelle **, wegen Berufsunfähigkeitspension über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 10. April 2025, Cgs*-28, berichtigt durch Beschluss vom 27. Mai 2025, Cgs*-30, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird abgeändert, sodass es insgesamt zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. April 2024 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß unbefristet zu gewähren, in eventu es werde festgestellt, dass ab 1. April 2024 ein Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sowie auf Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß dem Grunde nach besteht, in eventu es werde festgestellt, dass Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind, wird abgewiesen.

2. Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.“

Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 12. Juni 2024 hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension vom 5. März 2024 abgelehnt, weil Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft vorliege. Darüber hinaus hat sie ausgesprochen, vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten liege ebenfalls nicht vor und es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bzw auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Dagegen richtet sich die rechtzeitig eingebrachte Klage mit dem im Spruch ersichtlichen Begehren.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Begehren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgewiesen, jedoch festgestellt, dass die Klägerin ab 1. April 2024 Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und auf Gewährung des Rehabilitationsgelds aus der Krankenversicherung dem Grunde nach hat. Der Entscheidung liegt – zusammengefasst – folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin hat am 11. Februar 2016 die Lehre zur Einzelhandelskauffrau abgeschlossen. Danach war sie bis 31. Mai 2021 mit Unterbrechungen 71 Monate in ihrer erlernten Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau tätig. Insgesamt hat sie 328 Versicherungsmonate erworben, davon (unter anderem) 141 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit.

Aufgrund ihrer gesundheitlichen Beschwerden ist sie seit Antragstellung nur noch in der Lage, mit Hebe- bzw Tragebelastungen bis 5 bzw 10 kg verbundene Tätigkeiten im Gehen, Stehen und Sitzen zu verrichten, wobei weitere Einschränkungen bestehen: Insbesondere muss die Klägerin die Möglichkeit haben, innerhalb von zwei Stunden zumindest die Hälfte der Arbeitszeit in sitzender Position zu verbringen, wobei länger dauerndes Sitzen und Stehen vermieden werden und nach halbstündiger Arbeit im Gehen und Stehen ein Weiterarbeiten für dieselbe Zeit im Sitzen möglich sein sollte. Es bestehen keine grobmotorischen, aber leichte feinmotorische Einschränkungen der oberen Extremitäten. Arbeiten unter vermehrtem Arbeitstempo sind fallweise – also zu etwa 20 % der Gesamtarbeitszeit – möglich; Akkordarbeit und Nachtarbeit sind ebenso zu vermeiden wie Arbeiten unter vermehrtem Kundenkontakt und vermehrten Menschenansammlungen.

Bezüglich des Anmarschwegs bestehen keine Einschränkungen; öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden; eine Wohnsitzverlegung und Wochenpendeln sind zumutbar.

Bei Einhaltung des Leistungskalküls sind seit Antragstellung Krankenstände von sieben Wochen pro Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

Bei Umsetzung der bereits begonnenen Maßnahmen ist eine Steigerung der Hebe- und Tragebelastbarkeit und eine Reduktion der Krankenstandsprognose mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

In rechtlicher Beurteilung des Sachverhalts ist das Erstgericht zum Ergebnis gekommen, die Klägerin sei vorübergehend berufsunfähig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus den Berufungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem auf Abweisung auch des ersten Eventualbegehrens gerichteten Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung keine Folge zu geben.

Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu behandelnde Berufung ist berechtigt .

Rechtliche Beurteilung

1 Die Beklagte kritisiert (ausschließlich) die Feststellung zur Krankenstandsprognose:

Nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung schließen mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz zumutbarer Krankenbehandlung zu erwartende leidensbedingte Krankenstände von jährlich sieben Wochen und darüber eine Versicherte vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus (RIS-Justiz RS0113471), wobei die Versicherte die (objektive) Beweislast trifft (vgl etwa RIS-Justiz RS0086050 [T1, T6, T13]). Weil daher für die Frage des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt der niedrigste der möglichen Zeitwerte der Krankenstände maßgebend ist, schlägt eine medizinische Einschätzung von Krankenständen innerhalb einer gewissen Bandbreite zum Nachteil Versicherten aus (RIS-Justiz RS0086050 [T8]).

2 Solchermaßen zutreffend hebt die Beklagte in der Rechtsrüge hervor, dass ausschlaggebend ist, welche Krankenstände jährlich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Dabei übergeht sie jedoch, dass nach der – freilich von ihr bekämpften – Feststellung „Krankenstände von sieben Wochen pro Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten“ sind.

Insofern ist die Rechtsrüge daher nicht gesetzmäßig ausgeführt.

3 In der Tatsachenrüge bekämpft die Beklagte die kursiv dargestellte Feststellung.

3.1 Das Erstgericht hat diese Feststellung (letztlich) damit begründet, der neurologisch-psychiatrische Sachverständige habe „in seiner Ergänzung ausgeführt, eine Krankenstandsprognose von sieben Wochen pro Jahr [sei] mit hoher Wahrscheinlichkeit zu veranschlagen“ (Urteil S 4 Abs 1 aE).

3.2 Die Beklagte weist hingegen zutreffend darauf hin, dass der neurologisch-psychiatrische Sachverständige im Ergänzungsgutachten nur ausgeführt hat, bei „reiner Addition“ der in den Fachgutachten prognostizierten Krankenstände würde sich eine Krankenstandsprognose von sechs bis acht Wochen ergeben und sieben Wochen pro Jahr ergäben sich, „wenn man nun das Mittel nimmt“, er aber weder angeführt bzw begründet hat, warum der Mittelwert anzunehmen ist, noch eine Angabe über die Wahrscheinlichkeit von Krankenständen in diesem (exakten) Ausmaß getätigt hat. Damit macht sie inhaltlich (zu Recht) eine Aktenwidrigkeit geltend:

3.3.1Eine Aktenwidrigkeit liegt vor, wenn Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage getroffen werden, also etwa der Inhalt eines Gutachtens in einem wesentlichen Punkt unrichtig wiedergegeben und infolgedessen ein fehlerhaftes Sachverhaltsbild der rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde (vgl RIS-Justiz RS0043347; vgl auch RIS-Justiz RS0043324, RS0043203). Sie ist dadurch zu beheben, dass das Rechtsmittelgericht an die Stelle der aktenwidrigen die durch den Akteninhalt gedeckte Feststellung setzt und diese der rechtlichen Beurteilung unterzieht (RIS-Justiz RS0043324 [T12]).

3.3.2 Für die rechtliche Beurteilung ist somit davon auszugehen, dass keine Überschneidungen zwischen den von den Sachverständigen aus den unterschiedlichen Fachgebieten prognostizierten Krankenständen bestehen (unstrittig), die jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten werden: Dies wird vom orthopädischen und vom internistischen Sachverständigen ausdrücklich festgehalten (vgl ON 5 S 17, ON 10 S 19); mit den Ausführungen der Klägerin in der Berufungsbeantwortung ist davon auszugehen, dass dieses Erfordernis auch dem neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen bekannt war.

Daraus ergibt sich – wie vom neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen ausgeführt – (bei reiner Addition) eine Krankenstandsprognose von sechs bis acht Wochen.

Wenn Krankenstände innerhalb einer Bandbreite (insgesamt) mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, folgt daraus nicht, dass jeder einzelne Wert ebenso mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für die Erkenntnis, dass das (arithmetische) Mittel sieben Wochen beträgt, bedarf es keiner Beurteilung durch einen (medizinischen) Sachverständigen; sie ist auch rechtlich nicht relevant.

3.4 Auf der Grundlage der von der Aktenlage gedeckten Feststellung zu erwartender Krankenstände von sechs bis acht Wochen ist der Klägerin der Beweis nicht gelungen, dass sie aufgrund deshalb vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist.

4.1Voraussetzung für einen Berufsschutz ist, dass in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt wurde. Das trifft für die Klägerin nicht zu, weil sie nur 71 Monate im erlernten Beruf tätig war. Wenn die Versicherte trotz ihres erstmaligen Eintritts in das Berufsleben mehr als 15 Jahre vor dem Stichtag aufgrund einer erst späten Ablegung einer Lehrabschlussprüfung weniger als 15 Jahre in ihrem erlernten Beruf tätig war, ist § 255 Abs 2 S 3 ASVG – wonach die Ausübung in der qualifizierten Tätigkeit in der Hälfte der Kalendermonate ausreicht, wenn zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen – nicht anzuwenden (RIS-Justiz RS0127798).

4.2Die Beklagte weist auch zu Recht – und von der Klägerin nicht kritisiert – darauf hin, dass das Leistungskalkül der Klägerin zumindest für einfache Angestelltenberufe wie die einer Bürogehilfin oder einer Telefonistin ausreicht. Zumal die in diesen Berufen gestellten Anforderungen unzweifelhaft offenkundig sind (vgl RIS-Justiz RS0084528, insb [T5], RS0040179 [T1]), bedarf es dazu keiner weiteren Feststellungen.

Die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG kommt schon deshalb nicht zur Anwendung, weil die Klägerin nur 141 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben hat und nicht die erforderlichen 240 Beitragsmonate.

5 Der Berufung war daher Folge zu geben und das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung abzuändern.

6Die Kostenentscheidung beruht für beide Instanzen auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Ein Kostenersatz aus Billigkeit scheidet aus, weil keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten bestanden haben.

7Die ordentliche Revision ist im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig, weil keine in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage zu klären war.