JudikaturOGH

10Ob63/25z – OGH Entscheidung

Entscheidung
EU-Recht
21. Oktober 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi, die Hofräte Dr. Annerl und Dr. Vollmaier sowie die Hofrätin Dr. Wallner Friedl in der Pflegschaftssache des Minderjährigen A*, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Rechtsvertretung Bezirk 21, 1210 Wien, Franz-Jonas-Platz 12), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 7. Juli 2025, GZ 45 R 326/25m 108, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 26. März 2025, GZ 1 Pu 291/11x 101, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Der Minderjährige und seine Eltern sind Staatsbürger der Russischen Föderation. Die Eltern des Minderjährigen sind Konventionsflüchtlinge. Dem Minderjährigen wurde mit Erkenntnis des Bundesverw altungsgerichts vom 17. 9. 2014, GZ W216 1433627 1, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

[2] Der Vater ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 12. 6. 2019 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 90 EUR gegenüber dem Minderjährigen verpflichtet.

[3] Dem Minderjährigen wurden mit Beschluss des Erstgerichts vom 6. 9. 2019 gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG vom 1. 9. 2019 bis 31. 8. 2024 monatliche Unterhaltsvorschüsse von 90 EUR gewährt.

[4] Am 6. 8. 2024 beantragte der Minderjährige die Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe nach den §§ 3, 4 Z 1 und § 18 UVG.

[5] Das Erstgericht gewährte die Vorschüsse (im zweiten Rechtsgang neuerlich) in Titelhöhe weiter.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Die Vorfrage der Flüchtlingseigenschaft sei wie bei Personen mit aufrechtem Asylstatus nicht (mehr) zu prüfen.

[7] Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zur Klärung der Frage zu, ob auch bei subsidiär Schutzberechtigten schon aufgrund der Statuszuerkennung durch rechtskräftigen Bescheid ungeachtet der für die Zuerkennung herangezogenen Gründe bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bestehe und daher das Vorliegen der subsidiären Schutzberechtigung nicht selbständig als Vorfrage zu prüfen sei.

[8] Dagegen richtet sich der – vom Minderjährigen beantwortete – Revisionsrekurs des Bundes, mit dem er die Abweisung des Antrags auf Weitergewährung anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

[10] 1.1. Nach der (jüngeren) Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sind Personen, denen der Status eines Asylberechtigten rechtskräftig zuerkannt wurde, den in § 2 Abs 1 UVG genannten Anspruchsberechtigten gleichgestellt und diese haben daher ungeachtet der für die Zuerkennung herangezogenen Gründe bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (RS0135356).

[11] 1.2. Der Oberste Gerichtshof begründet dies mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Status RL). Denn diese knüpft in ihrem Art 29 Abs 1 nicht an die materielle Flüchtlingseigenschaft, sondern „lediglich“ an den Zuerkennungsakt an, der nichts über das Vorliegen der materiellen Flüchtlingseigenschaft oder darüber etwas aussagt, ob die Beziehungen zu dem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen wie jenen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Flüchtlingsabkommen abgebrochen sind (10 Ob 3/25a Rz 30 ; 10 Ob 25/25m Rz 14).

[12] 1.3. Ob dies gleichermaßen auch für Personen gilt, denen der subsidäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, konnte bislang mangels Entscheidungsrelevanz offen gelassen werden ( 10 Ob 3/25a Rz 31).

[13] 2.1. Die Bestimmungen des den Inhalt des internationalen Schutzes regelnden Kapitels VII der Status RL gelten, soweit nichts anderes bestimmt wird, sowohl für Flüchtlinge als auch für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz (Art 20 Abs 2 Status RL). Art 29 Abs 1 Status RL erfasst in diesem Sinn Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde. Der Ausdruck „internationaler Schutz“ bezeichnet nach Art 2 lit a Status RL nicht nur die Flüchtlingseigenschaft, sondern auch den subsidiären Schutzstatus, also die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat (Art 2 lit g Status RL). Auch Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, haben daher grundsätzlich nach Art 29 Abs 1 Status RL die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats zu erhalten.

[14] 2.2. Für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, sieht Art 29 Abs 2 Status RL – abweichend von Art 29 Abs 1 Status RL – (nur) vor, dass die Mitgliedstaaten die Sozialhilfe auf Kernleistungen beschränken können, die sie im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige gewähren. Die Möglichkeit der Einschränkung der Sozialhilfe auf Kernleistungen ist nach Erwägungsgrund 45 der Status RL so zu verstehen, dass zumindest eine Mindesteinkommensunterstützung sowie Unterstützung bei Krankheit oder bei Schwangerschaft und bei Elternschaft umfasst sind, soweit diese Leistungen nach dem nationalen Recht eigenen Staatsangehörigen gewährt werden.

[15] 2.2.1. Vorauszuschicken ist, dass dem Umstand, dass der EuGH den Unterhaltsvorschuss (auch) als Familienleistung nach der VO (EWG) 1408/71 qualifiziert, weil er die finanzielle Belastung des sorgeberechtigten Elternteils lindert (EuGH C 85/99 , Offermanns , Rn 45), in diesem Zusammenhang keine entscheidende Bedeutung zukommt. Die (nach Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 ausgeschlossene) Qualifikation als Familienleistung schließt eine Qualifikation derselben Leistung als Kernleistung im Sinn des Art 29 Abs 2 Status RL nämlich nicht aus.

[16] 2.2.2. Der EuGH führte zu Art 11 Abs 4 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. 11. 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, wonach die Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung langfristig Aufenthaltsberechtigter bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die (im dortigen Erwägungsgrund 13 wie in Erwägungsgrund 45 der Status RL beschriebenen) Kernleistungen beschränken können, aus, dass die Bedeutung und die Tragweite des Begriffs „Kernleistungen“ unter Berücksichtigung des Kontexts, in den sich Art 11 der Richtlinie 2003/109/EG einfügt, und des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels zu ermitteln sind, das (dort) in der Integration der sich rechtmäßig und langfristig in den Mitgliedstaaten aufhaltenden Drittstaatsangehörigen besteht (EuGH C 571/10 , Kamberaj , Rn 90). Art 11 Abs 4 der Richtlinie 2003/109/EG gestattet es den Mitgliedstaaten danach, die Gleichbehandlung, auf die die Inhaber der von der Richtlinie 2003/109/EG gewährten Rechtsstellung Anspruch haben, zu beschränken, ausgenommen diejenigen von den Behörden gewährten Leistungen der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes, die dazu beitragen, es dem Einzelnen zu erlauben, seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen (EuGH C 571/10 , Kamberaj , Rn 91). Ob dies der Fall ist, ist vom nationalen Gericht zu prüfen, wobei der Zweck dieses Zuschusses, seine Höhe, die Voraussetzungen für seine Gewährung und seine Stellung im nationalen Sozialhilfesystem zu berücksichtigen sind (EuGH C 571/10 , Kamberaj , Rn 92).

[17] Diese Rechtsprechung betrifft zwar Art 29 Abs 2 Status RL nicht unmittelbar, weil es nicht um die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten, sondern subsidiär Schutzberechtigten geht, also Personen mit einem provisorischem Aufenthaltsstatus (vgl VwGH Ra 2017/10/0134 Rz 25). Dies spricht aber nicht grundsätzlich dagegen, die Bedeutung und die Tragweite des Begriffs „Kernleistungen“ in Art 29 Abs 2 Status RL unter Berücksichtigung des Ziels der Status RL und ihres Art 29 zu ermitteln, nämlich den schutzbedürftigen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen zu bieten ( Erwägungsgrund 12 der Status RL) und insbesondere soziale Härtefälle zu vermeiden ( Erwägungsgrund 45 der Status RL). Bei Umsetzung des Kapitels VII der Status RL ist überdies auch die spezielle Situation von (unter anderem) Minderjährigen und vorrangig das Wohl des Kindes zu berücksichtigen (Art 20 Abs 3 und 5 Status-RL). Unter Kernleistungen im Sinn des Art 29 Abs 2 Status-RL sind daher solche Leistungen zu verstehen, die dazu beitragen, es dem – regelmäßig einkommenslosen und auf (Geld-)Unterhalt angewiesenen – Minderjährigen zu erlauben, seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen.

[18] 2.2.3. Das Ziel des UVG ist es, den Unterhalt von Kindern im ausreichenden Maß zu sichern ( ErläutRV 5 BlgNR 14. GP 5). Der derart gesicherte Unterhaltsanspruch dient ganz grundsätzlich der Deckung des gesamten Lebensbedarfs des Kindes, vor allem von Nahrung, Kleidung, Wohnung, Unterricht und Erziehung, aber auch zur Abdeckung weiterer Bedürfnisse zB in kultureller und sportlicher Hinsicht, für Freizeitgestaltung, medizinische Versorgung etc („Regelbedarf “; 10 Ob 20/13h Pkt 1 .; Stefula in Bydlinski/Perner/Spitzer , ABGB 7 § 231 Rz 2 ). Die vorläufige Erfüllung der (Geld )Unterhaltspflicht ist nach § 6 Abs 1 UVG mit dem Richtsatz für pensionsberechtigte Halbwaisen nach § 293 Abs 1 lit c sublit bb ASVG (und in den Fällen des § 6 Abs 2 UVG mit einem Prozentsatz davon) begrenzt, der grundsätzlich Mindeststandards für Einkommen von Pensionsbeziehern definiert ( Hueber , iFamZ 2025/91), die zwar im internationalen Vergleich in bestimmten Fällen großzügig anmuten mögen ( Neuhauser/Uitz , Unterhaltsvorschussrecht, in Deixler-Hübner , Handbuch Familienrecht 3 466), aber in der Regel (und gerade bei diese Höhe nicht erreichenden Fällen wie dem vorliegenden) letztlich dennoch regelmäßig dazu beitragen, dem Minderjährigen eine „Mindesteinkommensunterstützung“ zu sichern. Dass Grundbedürfnisse des Minderjährigen ohne Gewährung des Unterhaltsvorschusses gegebenenfalls anderweitig (etwa durch einen anderen Unterhaltsschuldner oder im Rahmen der Grundversorgung) gedeckt werden würden oder müssten, ändert an dieser grundsätzlichen Einordnung nichts. Auch wenn der Unterhaltsvorschuss nicht (ausschließlich) Fürsorgecharakter hat und er daher nach innerstaatlichem (Kompetenz )Recht nicht als Sozial (hilfe )leistung des Staates anzusehen ist, so ist auch zu berücksichtigen, dass das UVG aus sozialpolitischen Erwägungen geschaffen wurde und es sich letztlich um eine sozialpolitische Maßnahme handelt ( RS0076023 ).

[19] 2.2.4. In Abwägung dieser Umstände und unter Berücksichtigung der Situation von – regelmäßig einkommenslosen und auf den Unterhalt( svorschuss) angewiesenen – Minderjährigen gelangt der Oberste Gerichtshof zum Schluss, dass der Unterhaltsvorschuss als Kernleistung gemäß Art 29 Abs 2 Status RL einzustufen ist (vgl auch Hueber , iFamZ 2025/91), die nach dieser Bestimmung im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige zu gewähren ist.

[20] 2.3. Die unionsrechtlichen Vorgaben, ein Mindestniveau von Leistungen zu bieten und ohne Diskriminierung angemessene Unterstützung zu gewähren, gebieten es somit § 2 Abs 1 UVG dahin richtlinienkonform auszulegen, dass Personen, denen internationaler Schutz (sei dies die Flüchtlingseigenschaft, sei dies der subsidiäre Schutzstatus) rechtskräftig zuerkannt wurde, österreichischen Staatsbürgern (wie Flüchtlingen) gleichzustellen.

[21] 3. Daraus folgt, dass der Minderjährige, dem der – unstrittig aufrechte – Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt wurde, einem österreichischen Staatsbürger gleichgestellt ist. Es bedarf daher keiner Prüfung, ob sich die Gleichstellung des Minderjährigen im vorliegenden Fall daraus ergibt, dass die Beziehungen zu seinem Heimatstaat aus (mit Fluchtgründen im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention) vergleichbar schwerwiegenden Gründen (weiterhin) abgebrochen sind oder er als Familienangehöriger (Art 2 lit j Status RL) von Konventionsflüchtlingen die notwendige Sozialhilfe gemäß Art 29 Abs 1 iVm Art 23 Abs 2 Status RL zu erhalten hätte. Andere Einwände gegen die Gewährung der beantragten Unterhaltsvorschüsse macht der Bund in seinem Rechtsmittel nicht geltend.