JudikaturOGH

2Ob142/22d – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. September 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon. Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L*, vertreten durch Dr. Gerhard Horak Mag. Andreas Stolz Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, wider die beklagte Partei Ö*, vertreten durch Lansky, Ganzger Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 639.110 EUR sA (Rekursinteresse 629.110 EUR), über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Juli 2019, GZ 129 R 57/19d 20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Teilurteil des Handelsgerichts Wien vom 1. April 2019, GZ 47 Cg 58/18h 15, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Die Klägerin ist ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Deutschland. Sie stellt ihren Kunden insbesondere Lokomotiven für die Durchführung des unbegleiteten kombinierten Verkehrs und anderer Verkehrsarten zur Verfügung.

[2] Die Beklagte ist ein österreichisches Eisenbahninfrastrukturunternehmen und betreibt unter anderem die Schieneninfrastruktur im Bereich des Bahnhofs Kufstein.

[3] Die Streitteile schlossen im Dezember 2014 einen Vertrag über die Nutzung der Schieneninfrastruktur der Beklagten für den internationalen Verkehr, wonach die Klägerin zur Nutzung der von der Beklagten bereitgestellten Schieneninfrastruktur gegen Entgelt gemäß der jeweiligen Zugtrassenvereinbarung berechtigt ist. Bestandteil dieses Vertrags sind die AGB zum Infrastrukturnutzungsvertrag der Beklagten (im Folgenden „AGB“).

[4] Deren Punkt 20 bestimmt im ersten Absatz unter der Überschrift „ Haftung “:

„Die Vertragspartner haften nach den gesetzlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere jenen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), Unternehmensgesetzbuches (UGB), Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes (EKHG) und des CUI, sofern in diesen AGB nicht hievon abweichende Regelungen enthalten sind.“

[5]Nach Punkt 34 der AGB unterliegt der Vertrag österreichischem Recht mit Ausnahme der Verweisungsnormen des IPRG sowie des UN-Kaufrechts.

[6] Am 15. 7. 2015 entgleiste im Bahnhof Kufstein ein aus sechs Lokomotiven bestehender Lokzug der Klägerin, wobei unter anderem zwei dieser Lokomotiven beschädigt wurden. Diese waren während der Dauer der Reparatur nicht einsatzfähig, weshalb die Klägerin ersatzweise zwei Lokomotiven mietete.

[7] Die Klägerinbegehrt – soweit im Rekursverfahren vor dem Obersten Gerichtshof von Bedeutung – von der Beklagten 629.110 EUR sA an Mietkosten für die unfallbedingt gemieteten Lokomotiven. Der Unfall sei auf eine (näher dargestellte) Mangelhaftigkeit der von der Beklagten beigestellten Schieneninfrastruktur zurückzuführen. Die Beklagte habe ihre in den eisenbahnrechtlichen Vorschriften normierten Pflichten zur ordnungsgemäßen Herstellung, Überprüfung, Wartung, Instandsetzung und Reparatur der Schienen rechtswidrig und schuldhaft verletzt. Diese Vorschriften seien Schutzgesetze iSd § 1311 ABGB.

[8] Die Beklagte wendet insoweit ein, die Schieneninfrastruktur sei nicht mangelhaft gewesen. Ursache des Unfalls sei ein ausgezogener, schon vor der Entgleisung überbeanspruchter Kupplungshaken einer entgleisten Lokomotive gewesen, wofür die Klägerin das Verschulden treffe. Die Klägerin mache einen reinen Vermögensschaden geltend, der nach den anwendbaren Rechtsvorschriften der CUI nicht ersatzfähig sei.

[9] Das Erstgerichtwies mit Teilurteil das Klagebegehren im Umfang von 629.110 EUR sA ab. Es vertrat die Rechtsansicht, die Streitteile hätten keine über Punkt 20 der AGB hinausgehenden Haftungsvereinbarungen getroffen. Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und die einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) seien anzuwenden. Die CUI als alleiniges Haftungsregime verdränge gemäß ihrem Art 19 § 1 sämtliche weiteren innerstaatlichen Haftungsordnungen wie das ABGB und das EKHG. Die Definition eines „Sachschadens“ in Art 8 § 1 lit b CUI sei auf die Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen beschränkt. Die geltend gemachten Mietkosten seien aber ein reiner Vermögensschaden, der weder von Art 8 § 1 lit b noch von Art 8 § 1 lit c CUI erfasst werde und deshalb nicht ersatzfähig sei. Punkt 20 der AGB stelle keine Vereinbarung nach Art 8 § 4 CUI dar, aus welcher sich eine Haftung der Beklagten nach ABGB und EKHG ergebe.

[10] Das Berufungsgerichthob das Teilurteil des Erstgerichts auf und trug diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Das COTIF und die CUI seien im vorliegenden Fall anwendbar. Beide Regelwerke seien Bestandteile des Unionsrechts und autonom auszulegen. Gemäß Art 4 CUI seien die Vorschriften dieses Anhangs grundsätzlich zwingendes Recht, dessen ungeachtet könnten die Parteien des Vertrags ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen einheitlichen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen. Punkt 20 der AGB der Beklagten führe aber ebenfalls zur grundsätzlichen Anwendung der CUI. Der in der Haftungsbestimmung des Art 8 § 1 lit b CUI verwendete Begriff der „Sachschäden“ sei weit zu verstehen und umfasse auch einen „abgeleiteten Sachschaden“ wie die hier geltend gemachten Mietkosten. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob der in den Regelungen der CUI als Anhang zum COTIF verwendete Begriff des „Sachschadens“ auch abgeleitete Sachschäden umfasse.

[11] Dagegen richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, das Teilurteil des Erstgerichts wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag in die zweite Instanz gestellt.

[12] Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, den Rekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Der Rekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

[14] Im Rekursverfahren ist umstritten, ob die eingeklagten Schäden im Sinn einer systematischen Auslegung des gesamten Art 8 unter die in Art 8 § 1 lit b CUI genannten Sachschäden fallen.

1. Anwendbares internationales Recht/Unions-recht:

[15]1.1. Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. 5. 1980 (COTIF – Convention relative aux transports internationaux ferroviaires) in der Fassung des Protokolls vom 3. 6. 1999 ist am 1. 7. 2006 unter anderem in Österreich (BGBl III 2006/126) und Deutschland in Kraft getreten ( Freise in MüKoHGB 4[2020] COTIF Einl Rn 5). Es enthält sieben Anhänge, die integrierte Bestandteile des Übereinkommens sind, darunter die Einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI; Anhang E zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr [COTIF]). Es erfasst nach seinem Art 1 Abs 1 nur Verträge über die Nutzung einer Eisenbahninfrastruktur zum Zwecke der Durchführung internationaler Eisenbahnbeförderungen; insbesondere Art 8 CUI ist überdies auch in nationalen Fällen anzuwenden (vgl 2 Ob 69/17m mwN).

1.2. Die – relevanten – Bestimmungen der CUI lauten folgendermaßen:

„Artikel 4 – Zwingendes Recht

Soweit diese Einheitlichen Rechtsvorschriften es nicht ausdrücklich zulassen, ist jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung. Die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen hat nicht die Nichtigkeit der übrigen Bestimmungen des Vertrages zur Folge. Dessen ungeachtet können die Parteien des Vertrages ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen.

Artikel 8 – Haftung des Betreibers

§ 1 Der Betreiber haftet für

a) Personenschäden (Tötung, Verletzung oder sonstige Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit),

b) Sachschäden (Zerstörung oder Beschädigung beweglicher und unbeweglicher Sachen),

c) Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIV und den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIM zu leisten hat,

die der Beförderer oder seine Hilfspersonen während der Nutzung der Infrastruktur erleiden und die ihre Ursache in der Infrastruktur haben.

§ 4 Die Parteien des Vertrages können Vereinbarungen darüber treffen, ob und inwieweit der Betreiber für Schäden, die dem Beförderer durch Verspätung oder Betriebsstörungen entstehen, haftet.

Artikel 9 – Haftung des Beförderers

...

Artikel 19 – Sonstige Ansprüche

§ 1 In allen Fällen, auf welche diese Einheitlichen Rechtsvorschriften Anwendung finden, kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Betreiber oder gegen den Beförderer nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen dieser Einheitlichen Rechtsvorschriften geltend gemacht werden.

...“

2. Der erkennende Senat hat dem EuGH zu 2 Ob 172/19m folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist der Gerichtshof der Europäischen Union für die Auslegung der Einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI; Anhang E zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr [COTIF]) zuständig?

2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Ist Art 8 § 1 lit b CUI so auszulegen, dass unter die dort normierte Haftung des Betreibers für Sachschäden auch die Kosten fallen, die dem Beförderer dadurch entstehen, dass er wegen der Beschädigung seiner Lokomotiven ersatzweise andere Lokomotiven anmieten muss?

3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint wird: Sind Art 4 und Art 19 § 1 CUI dahin auszulegen, dass die Parteien des Vertrags ihre Haftung wirksam durch den pauschalen Verweis auf nationales Recht erweitern können, wenn danach zwar der Haftungsumfang weiter ist, jedoch – abweichend von der verschuldensunabhängigen Haftung nach CUI – für die Haftung Verschulden Voraussetzung ist?“

2.1. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Fragen mit Urteil vom 14. 7. 2022, C 500/20, so beantwortet:

„1. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist, wenn er gemäß Art. 267 AEUV angerufen wird, für die Auslegung von Art. 4, Art. 8 § 1 Buchst. b und Art. 19 § 1 des Anhangs E ('Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr [CUI]') des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 zuständig.

2. Art. 8 § 1 Buchst. b des Anhangs E des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 ist dahin auszulegen, dass die Haftung des Infrastrukturbetreibers für Sachschäden nicht die Kosten umfasst, die dem Eisenbahnunternehmen durch die Anmietung von Ersatzlokomotiven für die Dauer der Reparatur der beschädigten Lokomotiven entstanden sind.

3. Art. 4 und Art. 19 § 1 des Anhangs E des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 sind dahin auszulegen, dass die Vertragsparteien ihre Haftung durch einen pauschalen Verweis auf nationales Recht, nach dem der Infrastrukturbetreiber in weiterem Umfang haftet und das diese Haftung vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig macht, erweitern können.“

[16] 3. Damit ist geklärt, dass eine Haftung der Beklagten nicht auf Art 8 § 1 lit b der CUI gestützt werden kann, aber die Vertragsparteien ihre Haftung durch einen pauschalen Verweis auf nationales Recht, nach dem der Infrastrukturbetreiber in weiterem Umfang haftet und das diese Haftung vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig macht, erweitern können.

[17]4.1. Hier haben die Parteien gemäß Punkt 20 der AGB ihre Haftung „nach den gesetzlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere jenen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), Unternehmensgesetzbuches (UGB), Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes (EKHG) und des CUI“ vereinbart, „sofern in diesen AGB nicht hievon abweichende Regelungen enthalten sind“. Derartige abweichende Regelungen liegen nicht vor.

[18]4.2. Die Klägerin hat den geltend gemachten Schadenersatzanspruch unter anderem auf ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten der Beklagten (Mangelhaftigkeit der Schieneninfrastruktur im Zusammenhang mit der Verletzung von Schutzgesetzen iSd § 1311 ABGB) gestützt. Damit beruft sie sich im Sinn der Klausel 20 ihrer AGB – nach der Entscheidung des EuGH zulässig – auf eine Verschuldenshaftung nach dem ABGB. Sollte sie die Mangelhaftigkeit beweisen können, käme diese – nicht durch Höchstgrenzen beschränkte – Haftung in Betracht. Unfallkausale Mietwagenkosten sind grundsätzlich ersatzfähig (RS0030635; RS0026941; RS0030586; RS0030390; RS0020815). Das gilt auch für die hier geltend gemachten Kosten der Anmietung von Lokomotiven.

[19]4.3. Es ist daher im fortgesetzten Verfahren die Verschuldenshaftung der Beklagten zu prüfen. Ob im Verhältnis zwischen den Streitteilen eine Haftung nach EKHG oder UGB überhaupt bestehen könnte, kann derzeit dahinstehen.

[20]5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.