JudikaturOGH

2Ob172/19m – OGH Entscheidung

Entscheidung
06. August 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin  Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L*****, vertreten durch Dr. Gerhard Horak Mag. Andreas Stolz Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, wider die beklagte Partei Ö*****, vertreten durch Lansky, Ganzger Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 639.110 EUR sA, im Verfahren über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Juli 2019, GZ 129 R 57/19d 20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Teilurteil des Handelsgerichts Wien vom 1. April 2019, GZ 47 Cg 58/18h 15, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der Gerichtshof der Europäischen Union für die Auslegung der Einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI; Anhang E zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr [COTIF]) zuständig?

2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

Ist Art 8 § 1 lit b CUI so auszulegen, dass unter die dort normierte Haftung des Betreibers für Sachschäden auch die Kosten fallen, die dem Beförderer dadurch entstehen, dass er wegen der Beschädigung seiner Lokomotiven ersatzweise andere Lokomotiven anmieten muss?

3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint wird:

Sind Art 4 und Art 19 § 1 CUI dahin auszulegen, dass die Parteien des Vertrags ihre Haftung wirksam durch den pauschalen Verweis auf nationales Recht erweitern können, wenn danach zwar der Haftungsumfang weiter ist, jedoch – abweichend von der verschuldensunabhängigen Haftung nach CUI – für die Haftung Verschulden Voraussetzung ist?

II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

[1] A. Sachverhalt

[2] Die Klägerin ist ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Deutschland. Sie stellt ihren Kunden insbesondere Lokomotiven für die Durchführung des unbegleiteten kombinierten Verkehrs und anderer Verkehrsarten zur Verfügung.

[3] Die Beklagte ist ein österreichisches Eisenbahninfrastrukturunternehmen und betreibt unter anderem die Schieneninfrastruktur im Bereich des Bahnhofs Kufstein in Österreich.

[4] Die Streitteile schlossen im Dezember 2014 einen Vertrag über die Nutzung der Schieneninfrastruktur der Beklagten für den internationalen Verkehr, wonach die Klägerin zur Nutzung der von der Beklagten bereitgestellten Schieneninfrastruktur gegen Entgelt gemäß der jeweiligen Zugtrassenvereinbarung berechtigt ist. Bestandteil dieses Vertrags sind die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Infrastrukturnutzungsvertrag der Beklagten (im Folgenden „AGB“).

[5] Deren Punkt 20. bestimmt im ersten Absatz unter der Überschrift „ Haftung “:

Die Vertragspartner haften nach den gesetzlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen, insbesondere jenen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), Unternehmensgesetzbuches (UGB), Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetzes (EKHG) und des CUI, sofern in diesen AGB nicht hievon abweichende Regelungen enthalten sind.“

[6] In Punkt 34. der AGB findet sich die Vereinbarung, dass der Vertrag österreichischem Recht mit Ausnahme der Verweisungsnormen des IPRG sowie des UN Kaufrechts unterliegt.

[7] Am 15. 7. 2015 entgleiste im Bahnhof Kufstein ein aus sechs Lokomotiven bestehender Lokzug der Klägerin, wobei zwei Lokomotiven der Klägerin beschädigt wurden. Die beschädigten Lokomotiven waren während der Dauer der Reparatur nicht einsatzfähig, weshalb die Klägerin zwei Lokomotiven ersatzweise anmietete. Dadurch entstanden der Klägerin Kosten.

[8] B. Vorbringen der Parteien

[9] Die Klägerin begehrt – soweit im Rekursverfahren vor dem Obersten Gerichtshof von Bedeutung – von der Beklagten 629.110 EUR sA an Mietkosten für die unfallbedingt ersatzweise angemieteten Lokomotiven. Der Unfall sei auf eine (näher dargestellte) Mangelhaftigkeit der von der Beklagten beigestellten Schieneninfrastruktur zurückzuführen. Die Beklagte habe ihre in den eisenbahnrechtlichen Vorschriften normierten Pflichten zur ordnungsgemäßen Herstellung, Überprüfung, Wartung, Instandsetzung und Reparatur der Schienen rechtswidrig und schuldhaft verletzt. Die Ersatzmietkosten seien als Sachschäden im Sinn von Art 8 § 1 lit b CUI anzusehen.

[10] Die Beklagte wendet insoweit ein, die Schieneninfrastruktur sei nicht mangelhaft gewesen. Ursache des Unfalls sei ein ausgezogener, schon vor der Entgleisung überbeanspruchter Kupplungshaken der entgleisten Lokomotive gewesen, wofür die Klägerin das Verschulden treffe. Die Beklagte mache einen reinen Vermögensschaden geltend, der nach den anwendbaren Rechtsvorschriften der CUI nicht ersatzfähig sei.

[11] C. Bisheriges Verfahren

[12] Das Erstgericht wies mit Teilurteil das Klagebegehren im Umfang von 629.110 EUR sA ab. Es vertrat die Rechtsansicht, die anzuwendenden Einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) verdrängten gemäß ihrem Art 19 § 1 als alleiniges Haftungsregime sämtliche weiteren innerstaatlichen Haftungsordnungen. Die Definition eines „Sachschadens“ in Art 8 § 1 lit b CUI sei auf die Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen beschränkt. Die geltend gemachten Mietkosten seien aber ein reiner Vermögensschaden, der weder von Art 8 § 1 lit b noch von Art 8 § 1 lit c CUI erfasst werde und deshalb nicht ersatzfähig sei. Punkt 20. der AGB stelle keine Vereinbarung nach Art 8 § 4 CUI dar, aus welcher sich eine Haftung der Beklagten nach innerstaatlichen Normen ergebe.

[13] Das Berufungsgericht hob das Teilurteil des Erstgerichts auf und trug diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es vertrat die Auffassung, der in der Haftungsbestimmung des Art 8 § 1 lit b CUI verwendete Begriff der „Sachschäden“ sei weit zu verstehen und umfasse auch einen „abgeleiteten Sachschaden“ wie die hier geltend gemachten Mietkosten.

Rechtliche Beurteilung

[14] Der Oberste Gerichtshof hat über den Rekurs der Beklagten gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts zu entscheiden.

[15] Der Oberste Gerichtshof beschließt, das Rekursverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union für die Entscheidung der Rechtssache wesentliche unionsrechtliche Fragen vorzulegen.

[16] D. Anzuwendendes internationales Recht

Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. 5. 1980 (COTIF – Convention relative aux transports internationaux ferroviaires) enthält sieben Anhänge, die integrierte Bestandteile des Übereinkommens sind, darunter die Einheitlichen Rechtsvorschriften über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI; Anhang E zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr [COTIF]). Die im vorliegenden Fall relevanten Bestimmungen der CUI lauten folgendermaßen:

„Artikel 4 – Zwingendes Recht

Soweit diese Einheitlichen Rechtsvorschriften es nicht ausdrücklich zulassen, ist jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung. Die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen hat nicht die Nichtigkeit der übrigen Bestimmungen des Vertrages zur Folge. Dessen ungeachtet können die Parteien des Vertrages ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen.

Artikel 8 – Haftung des Betreibers

§ 1 Der Betreiber haftet für

a) Personenschäden (Tötung, Verletzung oder sonstige Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit),

b) Sachschäden (Zerstörung oder Beschädigung beweglicher und unbeweglicher Sachen),

c) Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIV und den Einheitlichen Rechtsvorschriften CIM zu leisten hat,

die der Beförderer oder seine Hilfspersonen während der Nutzung der Infrastruktur erleiden und die ihre Ursache in der Infrastruktur haben.

§ 4 Die Parteien des Vertrages können Vereinbarungen darüber treffen, ob und inwieweit der Betreiber für Schäden, die dem Beförderer durch Verspätung oder Betriebsstörungen entstehen, haftet.

Artikel 9 – Haftung des Beförderers

...

Artikel 19 – Sonstige Ansprüche

§ 1 In allen Fällen, auf welche diese Einheitlichen Rechtsvorschriften Anwendung finden, kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Betreiber oder gegen den Beförderer nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen dieser Einheitlichen Rechtsvorschriften geltend gemacht werden.

...“

[17] E. Nationales Recht

[18] Die §§ 1293 ff ABGB normieren eine Schadenersatzhaftung aus Verschulden des Schädigers. In Vertragsverhältnissen – wie im vorliegenden Fall – obliegt dem Schuldner der Beweis, dass ihn an der Nichterfüllung seiner Vertragspflichten kein Verschulden trifft (§ 1298 ABGB). Der Schuldner muss für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen einstehen (§ 1313a ABGB). Unter der (noch nicht feststehenden) Voraussetzung eines der Beklagten zurechenbaren Verschuldens sind die geltend gemachten Mietkosten für die Ersatzlokomotiven nach nationalem Recht ersatzfähig.

[19] F. Begründung der Vorlagefragen

[20] 1. Zu Frage 1:

[21] Nach Art 1 der V ereinbarung vom 3. Juni 1999 zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius ist die Union dem genannten Übereinkommen zu den in dieser Vereinbarung genannten Bedingungen nach Art 38 des Übereinkommens beigetreten (ABl L 2013/51, 8).

[22] Diese Vereinbarung wurde gemäß Art 1 des B eschlusses d es R ates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 im Namen der Union genehmigt (ABl L 2013/51,1).

[23] Nach dem A nhang I (E rklärung der E uropäischen U nion über die A usübung der Z uständigkeiten) des genannten Beschlusses des Rates ist i m Eisenbahnbereich die Europäische Union nach den Artikeln 90 und 91 in Verbindung mit Artikel 100 Absatz 1 und den Artikeln 171 und 172 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Union zuständig. Das Unionsrecht verleiht der Union die ausschließliche Zuständigkeit in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs, in denen das Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (nachstehend „das Übereinkommen“ genannt) oder auf seiner Grundlage verabschiedete Rechtsinstrumente diese bestehenden Vorschriften der Union berühren oder deren Anwendungsbereich abändern könnten. In Angelegenheiten, die unter das Übereinkommen fallen und bei denen die Union über ausschließliche Zuständigkeit verfügt, sind die Mitgliedstaaten nicht zuständig. In Angelegenheiten, zu denen Vorschriften der Union bestehen, die aber vom Übereinkommen oder von Rechtsinstrumenten, die auf seiner Grundlage verabschiedet wurden, nicht berührt werden, nimmt die Union die Zuständigkeiten in Bezug auf das Übereinkommen gemeinsam mit den Mitgliedstaaten wahr (ABl L 2013/51, 3).

[24] Es handelt sich somit um ein gemischtes Übereinkommen, wobei sich aus der Erklärung der Europäischen Union nicht mit letzter Klarheit ergibt, in welchen Be reichen des COTIF die U nion eine ausschließliche und in welchen sie eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Kompetenz annimmt.

[25] In der Kommentarliteratur wird die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union für Vorabentscheidungsersuchen zu gemischten Übereinkommen als unklar bezeichnet (zB Ehricke in Streinz , EUV/AEUV 3 Art 267 Rz 21; Wegener in Calliess/Ruffert , EUV/AEUV 5 Art 267 Rz 11; Charlotte Gaitanides in von der Groeben/Schwarze AEUV 7 Art 267 Rz 23). Zwar liegt im konkreten Fall eine umfassende Zuständigkeit nahe , weil die Union – zumindest nach der von ihr abgegebenen Erklärung – grundsätzlich für alle Bereiche des Übereinkommens zuständig ist; Unklarheiten bestehen nur in Bezug auf den Umfang der ausschließlichen Zuständig keit. Dennoch ist es angesichts der Zweifel im Schrifttum nicht ganz eindeutig, ob der Gerichtshof der Europäischen Union im vorliegenden Fall tatsächlich zuständig ist. Aus seiner Entscheidung in der Rechtssache C 261/15, Demey , kann insofern nichts abgeleitet werden. Denn dort hat der Gerichtshof zwar d ie CIV (Anhang A zum COTIF) ausgelegt; d e r en Anwendung wurde allerdings durch die VO (EG) 1371/2007 angeordnet, sodass am Vorliegen eines Rechtsakts des Unionsrechts und damit der Handlung eines Organs im Sinn von Art 267 AEUV kein Zweifel bestand. Vergleichbares trifft auf die CUI nicht zu .

[26] 2. Zu Frage 2:

[27] Die Mietkosten für die infolge der Beschädigung der Lokomotiven angemieteten Ersatzlokomotiven sind zwar für sich genommen kein „Sachschaden“, der in der „Zerstörung oder Beschädigung beweglicher oder unbeweglicher Sachen“ (Art 8 § 1 lit b CUI) besteht. Diese Kosten stehen jedoch mit der Beschädigung der Lokomotiven der Klägerin in einem so engen Zusammenhang, dass man sie – wie das Berufungsgericht – als „abgeleiteten Sachschaden“ ansehen könnte. Es ist daher nicht klar, ob die eingeklagten Mietkosten nach der zitierten Bestimmung ersatzfähig sind.

[28] 3. Zu Frage 3:

[29] Sollte der Gerichtshof die eingeklagten Mietkosten als nicht von Art 8 § 1 lit b CUI erfasst beurteilen, stellt sich die dritte Frage. Wird sie bejaht, wird im vorliegenden Verfahren die Verschuldenshaftung nach ABGB zu prüfen sein. Wird sie verneint, besteht der Anspruch nicht zu Recht. Damit ist von entscheidender Bedeutung, ob

[30] (a) der pauschale Verweis auf ein nationales Gesetzeswerk überhaupt als abweichende Vereinbarung im Sinn von Art 4 CUI verstanden werden kann, und

[31] (b) ob es in diesem Fall tatsächlich als „Erweiterung“ der Haftung im Sinn von Art 4 CUI anzusehen ist, wenn dieses Gesetzeswerk zwar in Bezug auf den Haftungsgrund (hier wegen des Verschuldenserfordernisses) strenger ist als dieses Übereinkommen, bei bestehender Haftung aber weitergehende Ansprüche vorsieht.

[32] Die zweite dieser Fragen könnte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wohl nur dann bejaht werden, wenn bei der Beurteilung der „Erweiterung“ der Haftung nicht auf das Gesetzeswerk als solches, sondern auf das Ergebnis von dessen Anwendung im Einzelfall abgestellt würde. Ob das zutrifft, lässt sich Art 4 CUI nicht eindeutig entnehmen.

[33] G. Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.

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