JudikaturJustizBsw5826/03

Bsw5826/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Mai 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Idalov gg. Russland, Urteil vom 22.5.2012, Bsw. 5826/03.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK - Mehr als ein Jahr dauernde Anhaltung in überfüllter Zelle.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Anhaltebedingungen, des Transports des Bf. zum Gerichtsgebäude und zurück, der Dauer der Untersuchungshaft zwischen 29.10.2002 und 24.11.2003, der Länge und Fairness der Verfahren zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit seiner Anhaltung, des Ausschlusses des Bf. vom Verfahren, der Dauer des Strafverfahrens und der Öffnung der Briefe des GH vom 8.7.2005 und 11.5.2006 (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Anhaltebedingungen in der Haftanstalt IZ-77/2 in Moskau vom 29.10.2002 bis zum 20.12.2003 (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Anhaltebedingungen in der Zelle des Bezirksgerichts Khamovnicheskiy und hinsichtlich des Transports zwischen Gefängnis und Gerichtsgebäude (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK hinsichtlich der Dauer der Anhaltung des Bf. in Untersuchungshaft zwischen 29.10.2002 und 24.11.2003 (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK hinsichtlich des Versäumnisses, die Berufungen des Bf. gegen die Haftbefehle vom 29.10.2002, 24.4., 19.6., 13.8. und 28.10.2003 rasch zu untersuchen (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK hinsichtlich der Abwesenheit des Bf. von den Berufungsverhandlungen am 22.1., 16.6., 6.8. und 2.10.2003 sowie am 12.2.2004 (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c und d. EMRK hinsichtlich des Ausschlusses des Bf. vom Verfahren (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Strafverfahrens (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK hinsichtlich der Öffnung der Briefe des GH vom 8.7.2005 und 11.5.2006 (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.150,- für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der vorliegende Fall betrifft die Beschwerde eines russischen Staatsangehörigen über die Dauer der Untersuchungshaft bzw. unzumutbare Anhaltebedingungen.

Zum Strafverfahren

Der Bf. war am 11.6.1999 wegen des Verdachts der Entführung als Mitglied einer kriminellen Vereinigung festgenommen worden. Fünf Tage später verhängte die Staatsanwaltschaft die Untersuchungshaft über ihn, die in der Folge aus den Gründen der Tatbegehungs-, Flucht- und Verdunkelungsgefahr wiederholt verlängert wurde.

Am 6.7.2001 wurde der Bf. gegen Kaution auf freien Fuß entlassen. Nachdem jedoch Verhandlungen immer wieder vertagt werden mussten, weil er Ladungen nicht Folge geleistet hatte, verhängte der zuständige Staatsanwalt beim Bezirksgericht Khamovnicheskiy am 29.10.2002 neuerlich die Untersuchungshaft über ihn.

Am 17.9.2003 fand die Hauptverhandlung statt. Zu Beginn der Verhandlung stellte der Bf. lautstark die Unparteilichkeit der vorsitzenden Richterin in Frage, worauf ihn diese wegen ungebührlichen Benehmens des Saales verwies. Zwischen September und November 2003 wurden in Abwesenheit des Bf. insgesamt fünf Verhandlungen zwecks Befragung von Zeugen und Erörterung des Beweismaterials abgehalten. Nach Abschluss der Beweisaufnahme bzw. Abgabe der Schlussplädoyers der Parteien wurde der Bf. in den Saal gerufen, um seine abschließende Stellungnahme abzugeben.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Khamovnicheskiy vom 24.11.2003 wurde der Bf. wegen Entführung, Erpressung und illegalen Erwerbs bzw. Besitzes von Feuerwaffen und Drogen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Das Moskauer Gericht zweiter Instanz bestätigte den Schuldspruch mit Ausnahme des illegalen Erwerbs und Besitzes von Drogen und setzte die Freiheitsstrafe auf zehn Jahre herab. Am 27.11.2007 wurde der Bf. auf Bewährung freigelassen, jedoch ein Jahr später wegen des Verdachts, wiederum straffällig geworden zu sein, verhaftet. Er wurde der Begehung nicht näher genannter Delikte schuldig gesprochen und verbüßt derzeit eine Haftstrafe im Gefängnis von Tavda, Region Swerdlowsk.

Beschreibung der Haft- und Anhaltebedingungen

Zwischen Oktober 2002 und Dezember 2003 war der Bf. in der Moskauer Haftanstalt IZ-77/2 untergebracht. Während dieses Zeitraums musste er insgesamt dreizehn Mal die Zelle wechseln. Laut den Angaben des Bf. waren die Zellen, in denen er die gesamte Zeit mit Ausnahme eines einstündigen Hofgangs verbrachte, hoffnungslos überfüllt. Er verfügte niemals über einen eigenen Schlafplatz. Die sanitären Bedingungen in den Zellen gestalteten sich folgendermaßen: Die Belüftung war unzureichend und die Luft stickig. Da die meisten Insassen rauchten, war der Bf. ständigem Passivrauch ausgesetzt. Die Fenster waren mit Metallstäben versehen, wodurch kaum Tageslicht eindrang, Lesen war praktisch unmöglich. In den Zellen herrschte großer Lärm, sie waren schmutzig und von Kakerlaken, Wanzen und Läusen bevölkert. Die Toilette befand sich nahe dem Tisch, an eine Wahrung der Intimsphäre war somit nicht zu denken. Das Essen war spärlich und eintönig.

Der Bf. bringt ferner vor, die zahlreichen Überführungen von der Haftanstalt zu Gerichtsverhandlungen und zurück, die oft mehrere Stunden gedauert hätten, wären in völlig überfüllten, schlecht belüfteten und verschmutzten Gefängniswägen erfolgt. Die Arrestzelle im Gerichtsgebäude habe nicht mehr als 5 m2 gemessen und über keine Toilette verfügt. Er habe darin teilweise bis zu 15 Stunden verbracht und kein Essen bekommen.

Überwachung des Briefverkehrs mit dem EGMR

Die Regierung räumt ein, dass zwei an den Bf. gerichtete Schreiben des EGMR vom Juli 2005 und Mai 2006 von Gefängnisbediensteten geöffnet wurden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 5 Abs. 3 EMRK (Recht auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist), Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf eine zügige Haftprüfung), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Briefverkehrs).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Der Bf. beklagt sich über die Bedingungen seiner Anhaltung in der Haftanstalt IZ-77/2 bzw. in der Arrestzelle des Bezirksgerichts Khamovnicheskiy sowie seines Transports vom Gefängnis zum Gericht.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zu den Haftbedingungen in der Haftanstalt IZ-77/2

Der GH hat bereits kürzlich Verletzungen von Art. 3 EMRK wegen Überbelegung von Zellen betreffend dieselbe Haftanstalt festgestellt. Der GH ist bestürzt über den Platzmangel in russischen Gefängnissen. Der vorliegende Fall stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Der belangten Regierung ist es nicht gelungen, die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Bf. zur Situation in der Haftanstalt IZ-77/2 zu erschüttern. Als Folge der Überbelegung verfügte dieser nicht über den vom GH in seiner einschlägigen Rechtsprechung geforderten individuellen Mindestplatz von 3 m2. Die Insassen mussten sich sogar abwechseln, um über einen Schlafplatz zu verfügen. Mit Rücksicht darauf, dass der Bf. 23 Stunden in einer derart überfüllten Zelle zubrachte, ist von einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung in Verletzung von Art. 3 EMRK auszugehen (einstimmig).

Zu den näheren Umständen des Transports zum und der Anhaltung im Gerichtsgebäude

Die Regierung hat keine näheren Angaben zu den Transportbedingungen gemacht. Tatsache ist, dass sich Häftlinge in den Gefängniswägen aufgrund der niedrigen Höhe (etwa 1,6 m) nur sitzend aufhalten konnten. Der GH hält die Angaben des Bf., wonach diese regelmäßig überfüllt gewesen wären, jedenfalls für glaubwürdig. Angesichts der Fläche der beiden verwendeten Wägen – 8,93 m2 bzw. 11,28 m2 – ist es schwer vorstellbar, dass 25 bzw. 36 Personen mit Sitzplätzen ausgestattet waren.

Was die Anhaltung des Bf. in der Arrestzelle angeht, hat die Regierung keine offiziellen Daten zu deren Ausstattung oder zur Dauer von Anhaltungen darin geliefert. Der GH akzeptiert insofern das Vorbringen des Bf., die Anhaltebedingungen seien angesichts der Enge der Zelle unmenschlich gewesen. Er ist ferner nicht davon überzeugt, dass der Bf. mit angemessener Nahrung versorgt wurde, verließen Häftlinge doch das Gefängnis gewöhnlich vor der Frühstückszeit und wurden erst am frühen Nachmittag zurückgebracht. Dass der Bf. eine Trockenration bekommen hätte, ist nicht bekannt.

Der Bf. wurde somit während seines Transports zum Gericht und während seiner Anhaltung dort einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung unterzogen. Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK

Der Bf. behauptet, die Untersuchungshaft habe unverhältnismäßig lang gedauert und sei zudem nicht auf relevante bzw. ausreichende Gründe gestützt gewesen.

Zur Zulässigkeit

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. rund zwei Jahre angehalten und dann gegen Kaution aus der Haft entlassen. Nachdem er ein Jahr und vier Monate in Freiheit verbracht hatte, wurde er am 29.10.2002 neuerlich verhaftet. Die Untersuchungshaft bestand somit aus zwei separaten – voneinander zu unterscheidenden – Perioden, nämlich vom 11.6.1999 bis zum 6.7.2001 und vom 29.10.2002 bis zur Verurteilung des Bf. am 24.11.2003.

Es stellt sich nun die Frage, ob Letzterer nach der Konvention verpflichtet gewesen wäre, sich beim EGMR über die erste Haftperiode innerhalb von sechs Monaten nach der Entlassung gegen Kaution zu beschweren. Tatsächlich erhob er erst am 6.2.2003 Beschwerde.

Der GH wird daher unter Heranziehung seiner bisherigen einschlägigen Rechtsprechung prüfen, ob die zwei nicht aufeinander folgenden Perioden der Untersuchungshaft kumulativ gewertet werden sollten oder ob die Freilassung des Bf. für einen signifikanten Zeitraum vielmehr den Effekt hatte, die Sechs-Monats-Frist gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des ersten Teils der Untersuchungshaft in Gang zu setzen.

Zur einschlägigen Rechtsprechung des EGMR

In seiner bisherigen Rechtsprechung hat der GH zwei Ansätze hinsichtlich der Anwendung der Sechs-Monats-Frist auf mehrfache, nicht aufeinander folgende Perioden der Untersuchungshaft entwickelt:

Der Ansatz im Fall Neumeister

Der GH hatte sich mit der vorliegenden Problematik erstmals im Fall Neumeister/A zu befassen. Er schloss sich zwar der Ansicht der EKMR an, wonach die Sechs-Monats-Frist sie daran hindere, sich zur Angemessenheit der ersten Haftperiode zu äußern, erachtete es aber dennoch für notwendig, diese bei der Beurteilung der Angemessenheit der zweiten zu berücksichtigen, da die erste Haftperiode ein erstes Abgehen von der Achtung der persönlichen Freiheit von Herrn Neumeister dargestellt habe. Für den Fall der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wäre nämlich die in der ersten Haftperiode verbrachte Zeit von der Strafe abzuziehen gewesen, die tatsächlich zu erwartende Haftdauer also verringert worden. Die erste Haftperiode hätte daher bei der Beurteilung der Angemessenheit der späteren Anhaltung Berücksichtigung finden müssen.

Der globale Ansatz

In nachfolgenden Fällen griff der GH bei der Berechnung der Haftperiode auf einen anderen Ansatz zurück, ohne dies jedoch näher zu begründen. Im Fall Kemmache/F (Nr. 1 und Nr. 2) berechnete er die Haftperioden als Ganzes, ohne die Frage der Anwendung der Sechs-Monats-Frist – die bezüglich der ersten Haftperiode auf jeden Fall zum Tragen gekommen wäre – zu erörtern. Ähnlich verfuhr der GH im Fall Mitev/BG.

Rückkehr zum Neumeister-Ansatz

In jüngster Zeit ist der GH zum in Neumeister/A verfolgten Ansatz zurückgekehrt. Im Fall Bordikov/RUS hielt er fest, dass von ihm in früheren Fällen keine Begründung für die kumulative Berücksichtigung mehrerer nicht aufeinander folgender Perioden der Untersuchungshaft gegeben worden war. Im vorliegenden Fall sei die Anhaltung des Bf. – ähnlich wie im Fall Neumeister/A – in mehrere nicht aufeinander folgende Perioden aufgesplittert gewesen. Im Zuge des Prozesses sei er zweimal aus der Haft entlassen worden. Möge auch die in der Haft verbrachte Zeit von der schlussendlich über ihn verhängten Freiheitsstrafe abgezogen worden sein, so würde dieser Umstand allein nicht ausreichen, um die Anhaltung als fortdauernd anzusehen. Eine andere Sichtweise würde die Sechs-Monats-Frist ihrer Bedeutung berauben.

Harmonisierung des zu verfolgenden Ansatzes

Nach Ansicht des GH rufen die dargestellten Divergenzen in der bisherigen einschlägigen Rechtsprechung nach einer Lösung. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte daher ein einheitlicher Ansatz gewählt werden.

In Fällen, in denen die Untersuchungshaft in mehrere aufeinander folgende Perioden aufgesplittert ist und es dem Bf. freisteht, sich darüber beim GH zu beschweren, während er sich auf freiem Fuß befindet, sollten die besagten Perioden nicht wie im Fall Kemmache/F (Nr. 1 und Nr. 2) in ihrer Gesamtheit, sondern getrennt berechnet werden, wie dies im ursprünglich in Neumeister/A verfolgten und im Fall Bordikov/RUS weiterentwickelten Ansatz erfolgt ist. Auf diese Weise wird Ziel und Zweck der Sechs-Monats-Frist besser Rechnung getragen.

Sobald sich ein Bf. auf freiem Fuß befindet, ist er somit verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten nach erfolgter Entlassung Beschwerde über die Länge der Untersuchungshaft zu erheben. Später einlangende Beschwerden können in Anwendung von Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht mehr berücksichtigt werden. Der GH kann jedoch unverändert die Zeit, die ein Bf. in der Untersuchungshaft verbracht hat, bei der Bewertung der Angemessenheit der Haftdauer in ihrer Gesamtheit mitberücksichtigen, wenn der betreffende Haftzeitraum Bestandteil ein und desselben Strafverfahrens war.

Der Neumeister-Ansatz respektiert einerseits die mit der Anwendung der Sechs-Monats-Frist verfolgte Absicht der Vertragsstaaten, während er es andererseits dem GH im Sinne einer »ausgleichenden Gerechtigkeit« ermöglicht, frühere Haftperioden in Bezug auf ein und dasselbe Strafverfahren bei der Beurteilung der Angemessenheit der Untersuchungshaft insgesamt heranzuziehen. Ganz ähnlich argumentiert der GH übrigens bei der Prüfung von Beschwerden wegen behaupteter überlanger Verfahrensdauer gemäß Art. 6 EMRK.

Besagter Ansatz versorgt den GH auch mit dem notwendigen Grad an Flexibilität, um mit der Vielfalt an Situationen umzugehen, die im Kontext der Untersuchungshaft auftreten können. Wurde zum Beispiel ein Bf. wiederholt – wenngleich auch nur für relativ kurze Zeiträume – in Haft genommen, hindert dies den GH nicht, zur Schlussfolgerung zu gelangen, die Dauer der letzten – kurzen – Haftperiode sei vor dem Hintergrund der vorhergehenden Haftperioden dennoch als unverhältnismäßig zu betrachten. Schließlich könnte die Anwendung des Neumeister-Ansatzes den zusätzlichen Vorteil mit sich bringen, zu einer zügigeren Abwicklung von Strafverfahren auf nationaler Ebene zu gelangen, würden doch die innerstaatlichen Gerichte bei Anträgen auf Verhängung der Untersuchungshaft dem Ausmaß der Zeit, die Verfolgungsbehörden brauchen, um einen Angeklagten vor Gericht zu bringen, in Hinkunft voraussichtlich mehr Aufmerksamkeit schenken.

Anwendung auf den gegenständlichen Fall

Im Fall des Bf. war die Untersuchungshaft in zwei nicht aufeinander folgende Perioden aufgesplittert. Zuerst wurde er für zwei Jahre und einen Monat angehalten. Nach Abschluss der Voruntersuchung entschieden die Behörden, dass seine weitere Anhaltung nicht länger notwendig wäre und entließen ihn gegen Kaution. Der Bf. blieb daraufhin ein Jahr und vier Monate auf freiem Fuß.

Der GH findet daher, dass die Sechs-Monats-Frist auf jede Haftperiode getrennt angewendet werden sollte. Der Bf. hätte daher Beschwerde an den EGMR hinsichtlich der ersten Haftperiode innerhalb von sechs Monaten nach seiner Freilassung einbringen müssen. Da er dies nicht getan hat, vermag der GH nicht zu prüfen, ob die erste Haftperiode mit Art. 5 Abs. 3 EMRK vereinbar war oder nicht. Dieser Beschwerdepunkt ist daher für unzulässig zu erklären. Der GH wird allerdings die Tatsache, dass der Bf. bereits in ein und demselben Strafverfahren eine gewisse Zeit in Haft verbracht hat, bei der Bewertung der zweiten Haftperiode in Betracht ziehen.

Die Beschwerde des Bf. hinsichtlich seiner Anhaltung von 29.10.2002 bis 24.11.2003 ist somit nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Über den Bf. wurde am 29.10.2002 die Untersuchungshaft verhängt. Am 24.11.2003 erfolgte seine strafrechtliche Verurteilung. Der für die Prüfung der Angemessenheit der Untersuchungshaft relevante Zeitraum betrug somit etwa ein Jahr und einen Monat. Als Begründung für die neuerliche Verhängung der Untersuchungshaft führten die Behörden den Versuch des Bf. an, das Verfahren bewusst zu verzögern. In diesem Zusammenhang bezogen sie sich auch auf die Schwere der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen. Diese Faktoren mögen zwar anfänglich seine Anhaltung gerechtfertigt haben, jedoch ist der GH nicht davon überzeugt, dass sie relevante und ausreichende Gründe für einen fortdauernden Verbleib in Haft darstellen konnten, dies auch insofern, als der Bf. bereits zu einem früheren Zeitpunkt für einen beträchtlichen Zeitraum inhaftiert gewesen war.

Dazu kommt, dass die Gerichte das Vorbringen des Bf. beharrlich ignorierten, wonach er über einen ständigen Wohnsitz in Moskau verfüge, eine stabile Familienbeziehung führe und sich dagegen verwehre, dass die Behörden seinen Fall nur sehr zögerlich prüfen würden.

Indem die Behörden die Untersuchungshaft verlängerten, ohne sich auf spezifische Fakten zu stützen oder Alternativmaßnahmen zu erörtern, und indem sie routinemäßig auf die Schwere der erhobenen Anschuldigungen Bezug nahmen, stützten sie sich zwar auf relevante, jedoch nicht auf ausreichende Gründe, um die Dauer der Untersuchungshaft rechtfertigen zu können. Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

Der Bf. bringt vor, über seine gegen die Haftbefehle eingebrachten Rechtsmittel sei nicht zügig entschieden worden. Ferner habe er nicht die Möglichkeit gehabt, bei fünf Haftverhandlungen anwesend zu sein.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zur Zügigkeit der Haftprüfungsverhandlungen

Im vorliegenden Fall brauchten die Gerichte zwischen 43 und 104 Tage bis zur Ansetzung bzw. Abhaltung der Haftverhandlung, gerechnet vom jeweiligen Haftprüfungsantrag des Bf. Nach Ansicht des GH waren die vom Gericht zweiter Instanz zu prüfenden Fragen nicht allzu komplex. Es bestehen auch keine Hinweise, dass der Bf. oder sein Anwalt zur Dauer der Haftprüfungsverfahren beigetragen hätten. Die Regierung hat keinerlei Rechtfertigung für die Verfahrensverzögerungen vorgebracht und – von einer Ausnahme abgesehen – eingeräumt, dass diese unangemessen waren.

Der GH geht daher davon aus, dass die Behörden für die gesamte Dauer der Haftprüfungsverfahren verantwortlich zu machen sind. Mit Rücksicht auf die strikten Standards, was die zügige Prüfung von Haftprüfungsanträgen angeht (vgl. Mamedova/RUS), ist eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK festzustellen (einstimmig).

Zur Abwesenheit bei der Haftprüfungsverhandlung

Dem GH liegen keinerlei Informationen vor, dass das Gericht zweiter Instanz die Frage erörtert hätte, ob der Bf. zu der Verhandlung ordnungsgemäß geladen worden war und ob seine persönliche Teilnahme daran für eine effektive Prüfung der Rechtmäßigkeit der fortgesetzten Anhaltung erforderlich gewesen wäre. Die Regierung hat selbst eingeräumt, dass die Nichteilnahme des Bf. an den Haftprüfungsverhandlungen ein Problem unter der Konvention darstellte. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Der Bf. beklagt sich über seinen Ausschluss von der Hauptverhandlung und über die Dauer des Verfahrens.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zum Ausschluss von der Hauptverhandlung

Der GH wird diesen Beschwerdepunkt unter Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) iVm. Art. 6 Abs. 3 EMRK (Verteidigungsrechte) prüfen.

Als Folge des Ausschlusses des Bf. von der Hauptverhandlung wegen ungebührlichen Verhaltens wurde die gesamte Beweisaufnahme einschließlich der Einvernahme der Zeugen in seiner Abwesenheit abgehalten.

Das Verhalten des Bf. mochte zwar durchaus seinen Verweis aus dem Gerichtssaal und die Fortführung der Verhandlung ohne ihn rechtfertigen, jedoch liegen dem GH keine Informationen vor, wonach die vorsitzende Richterin entweder eine Warnung ausgesprochen oder eine kurze Aussetzung der Verhandlung angeordnet hätte, um dem Bf. die potentiellen Konsequenzen seines andauernden ungebührlichen Verhaltens bewusst zu machen und ihm Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. Unter diesen Umständen vermag der GH nicht darauf zu schließen, dass sich der Bf. seines Rechts auf persönliche Anwesenheit in der Verhandlung entledigt hätte. Zu prüfen ist daher, ob dieser Konventionsverletzung vom Gericht zweiter Instanz Abhilfe geschaffen wurde.

In Russland erstreckt sich die Jurisdiktion von Appellationsgerichten sowohl auf Rechts- als auch auf Sachfragen. Zwar war es sowohl dem Bf. als auch seinem Anwalt möglich, an der Rechtsmittelverhandlung teilzunehmen und ihren Standpunkt vorzubringen, jedoch stand es ihnen nicht frei, die nochmalige Prüfung der vom Erstgericht erhobenen Beweise oder die Befragung der in Abwesenheit vernommenen Zeugen im Kreuzverhör zu beantragen.

Unter diesen Umständen vermochte die Rechtsmittelverhandlung nicht die Mängel der Hauptverhandlung zu heilen. Der einzige Weg der Wiedergutmachung hätte darin bestanden, das Urteil des Erstgerichts zur Gänze aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung zurückzuverweisen. Das Gericht zweiter Instanz hat jedoch eine derartige Vorgangsweise nicht gewählt. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 3 lit. c und lit. d EMRK.

Zur Dauer des Strafverfahrens

Das Strafverfahren dauerte etwa vier Jahre und elf Monate. Der GH akzeptiert, dass es sich dabei um eine komplexe Angelegenheit handelte. Zum Verhalten des Bf. ist zu sagen, dass die Verhandlung elf Mal – unter anderem wegen Nichterscheinens vor Gericht und aufgrund von Anträgen seines Anwalts auf Ladung zusätzlicher Zeugen – vertagt werden musste. Der GH ist nicht davon überzeugt, dass der Bf. vom zuletzt erwähnten Verteidigungsmittel ordnungsgemäß Gebrauch machte. Insbesondere ist nicht ersichtlich, warum Letzterer die Befragung zusätzlicher Zeugen nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt beantragt hat.

Was das Verhalten der Regierung angeht, hat diese ausreichende Sorgfalt bei der Abwicklung des Verfahrens gezeigt. Mit Rücksicht auf die Komplexität des Falls, das Verhalten der Parteien und die Gesamtlänge des Verfahrens war die Verfahrensdauer daher angemessen. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Der Bf. beanstandet das Öffnen zweier an ihn gerichteter Briefe des EGMR durch die Justizvollzugsanstalt.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Die Regierung hat eine Verletzung des Rechts des Bf. auf Achtung seines Briefverkehrs zugegeben. Der GH sieht dies ebenso und weist darauf hin, dass § 91 Abs. 2 des russischen Strafvollzugsgesetzes ausdrücklich eine Zensur des Briefverkehrs von Häftlingen mit dem EGMR verbot. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 3, 5, 6, 8, 14 EMRK und von Art. 1 1. Prot. EMRK im Zusammenhang mit der Abwicklung des Strafverfahrens, seiner Anhaltung und seinem Aufenthalt in der Justizanstalt. Der GH vermag jedoch keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Teil der Beschwerde ist daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.150,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Neumeister/A v. 27.6.1968 = EuGRZ 1975, 393

Kemmache/F (Nr. 1 und Nr. 2) v. 27.11.1991 = NL 1992/2, 15

Mitev/BG v. 22.12.2004

Mamedova/RUS v. 1.6.2006

Starokadomskiy/RUS v. 31.7.2008

Denisenko und Bogdanchikov/RUS v. 12.2.2009

Bordikov/RUS v. 8.10.2009

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.5.2012, Bsw. 5826/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 168) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_3/Idalov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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