JudikaturJustizBsw49085/07

Bsw49085/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Januar 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Görmüs u.a. gg. die Türkei, Urteil vom 19.1.2016, Bsw. 49085/07.

Spruch

Art. 10 EMRK - Überschießende Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden bei Identifizierung von journalistischen Quellen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.750,– an den ErstBf, jeweils € 1.650,– an den Zweit- und DrittBf., jeweils € 850,– an den Viert- und SechstBf. sowie € 500,– an den FünftBf. für die von ihnen erlittenen immateriellen Schäden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die insgesamt sechs Bf. sind beim türkischen Wochenmagazin »Nokta« (»Punkt«) angestellt. Der ErstBf. fungiert als Herausgeber, der Zweit- und der DrittBf. sind Redaktionschefs, während die restlichen drei Bf. als Enthüllungsjournalisten arbeiten.

In der Ausgabe Nr. 23 vom 5.4.2007 veröffentlichte »Nokta« einen Artikel mit dem Titel »Wie bereits 2004: Die türkische Armee ist auf der Suche nach einer Kooperation mit ›befreundeten‹ Nichtregierungsorganisationen.« Darin wurde erläutert, dass die Abteilung für öffentliche Beziehungen des Führungsstabs der türkischen Armee ein Infopaket vorbereitet hatte, welches unter anderem eine Liste von Presseartikeln mit Berichten über die türkische Armee enthielt, die mit der Anmerkung »vorteilhaft/nicht vorteilhaft« versehen worden waren. Dem Artikel zufolge war das Infopaket als Leitlinie für die Auswahl von Journalisten gedacht, die zu vom Führungsstab der türkischen Armee organisierten Veranstaltungen eingeladen werden sollten.

In der Folge protestierten die Berufsverbände der Medien gegen diese selektive Auswahl von Redaktionsleitern und Journalisten und bezeichneten sie als Verstoß gegen die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit.

Am 5.4.2007 beantragte der Leiter des militärischen Führungsstabs bei der Militärstaatsanwaltschaft die Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung wegen unbefugter Veröffentlichung eines militärischen Dokuments. Letztere gab dem Antrag statt und eröffnete eine Untersuchung auf der Basis von § 336 des türkischen Strafgesetzes (Verbreitung vertraulicher Informationen).

Am 10.4.2007 ordnete das Militärgericht auf Antrag der Militärstaatsanwaltschaft eine Durchsuchung der Geschäftslokale von »Nokta« und die Anfertigung von digitalen und schriftlichen Kopien aller beruflichen und privaten Computerdaten, der Archive, Festplatten, DVDs und ähnlichem Material an.

Am 13.4.2007 trafen die Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Polizei in der Zentrale von »Nokta« ein, um die Hausdurchsuchung vorzunehmen. Der ErstBf. händigte dem Militärstaatsanwalt jene Dokumente und Fotokopien aus, in denen eine Bewertung von »zuverlässigen« Journalisten bzw. der politischen Linie der jeweiligen Redaktion vorgenommen worden war. Die Behörden übertrugen auch alle Daten von den insgesamt 46 beruflichen bzw. privaten Computern, die sich in den Zweigstellen von »Nokta« befanden, auf externe Festplatten. Eine Kopie aller überspielten Daten wurde den Anwälten der Bf. auf deren Wunsch hin übergeben. Die Hausdurchsuchung wurde am 16.4.2007 beendet.

In der Zwischenzeit hatten die Anwälte von »Nokta« bzw. des ErstBf. Einspruch gegen den Hausdurchsuchungsbefehl und die Beschlagnahme von Dokumenten erhoben. Mit Beschluss vom 24.4.2007 wies das Militärgericht den Einspruch mit der Begründung ab, die angefochtenen Maßnahmen hätten der Beweisfindung gedient, nämlich um die Verhaftung jener Personen zu erreichen, die für das Verschwinden von als geheim eingestuften Dokumenten des militärischen Führungsstabs verantwortlich wären.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit), da die strittigen Maßnahmen ihr »Berufsgeheimnis« (hier: was die Herkunft von journalistischen Quellen angeht) missachtet hätten.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(29) Die vorliegende Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Lag ein Eingriff vor?

(32) Der GH ist der Ansicht, dass die strittigen Maßnahmen, namentlich die Durchsuchung des Arbeitsplatzes der Bf. und die Beschlagnahme von elektronischen und schriftlichen Dokumenten, einen Eingriff in ihre Meinungsäußerungsfreiheit darstellte.

War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

(35) Der GH schließt sich den Ausführungen der Regierung an, wonach die Behörden [...] die Hausdurchsuchung und die Beschlagnahme von Dokumenten auf Art. 66 des Gesetzes Nr. 353 über die Einführung der Militärgerichtsbarkeit und das sie regelnde Verfahren stützten, der Art. 12 des Pressegesetzes vorgeht. [...] Der Eingriff war somit »gesetzlich vorgesehen«.

Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

(36) Der Regierung zufolge hätten die strittigen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen und zum Schutz der nationalen Sicherheit beigetragen.

(37) Der GH ist vom Vorbringen der Regierung, was letzteres legitimes Ziel anbelangt, nicht überzeugt. Die nationalen Behörden haben weder gegen die Bf. noch gegen Dritte ein Strafverfahren wegen die nationale Sicherheit gefährdenden Aktivitäten eingeleitet. [...].

(38) Hingegen ist der GH bereit anzuerkennen, dass es aus Sicht der Militärbehörden legitim war zu versuchen, die Verbreitung vertraulicher Informationen zu verhindern. [...]

War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

(39) Im vorliegenden Fall sind drei mit der Meinungsäußerungsfreiheit im Zusammenhang stehende Bereiche ersichtlich, mit denen sich der GH bereits auseinandergesetzt hat: der Schutz journalistischer Quellen, die Verbreitung vertraulicher Informationen und der Schutz von als Whistleblower agierenden Beamten.

(52) Zwecks Entscheidung der Frage, ob der strittige Eingriff ein faires Gleichgewicht zwischen der Ausübung der Meinungsausübungs- und Pressefreiheit (welche den Schutz von journalistischen Quellen bzw. von Whistleblowern einschließt) auf der einen und dem Schutz vertraulicher Informationen von Staatsorganen auf der anderen Seite gewahrt hat, wird der GH auf folgende Elemente Bezug nehmen: die im gegenständlichen Fall auf dem Spiel stehenden Interessen, die von den nationalen Gerichten ausgeübte Kontrolle, das Verhalten der Bf. und die Verhältnismäßigkeit der gerügten Maßnahmen.

Zum Interesse der Öffentlichkeit an der Offenlegung von Informationen und am Schutz von deren Quellen

(53) [...] [Hinsichtlich des Vorliegens eines Beitrags zu einer öffentlichen Debatte über Fragen von allgemeinem Interesse] ist festzuhalten, dass [...] das türkische Militär die Existenz einer Liste von Presseartikeln, die mit einer Bewertung in »für die Armee vorteilhaft/nicht vorteilhaft« versehen war [...], nicht dementiert hat.

(54) Der strittige Artikel wurde im Kontext einer öffentlichen Debatte zu Fragen veröffentlicht, die in aller Breite in den Medien diskutiert worden waren und bei denen die öffentliche Meinung in der Türkei gespalten war, nämlich ob es zulässig sei, dass die Armee in das politische Leben des Landes eingreifen dürfe. [...]

(55) Zur Frage, ob der strittige Artikel und die öffentlich gemachten Informationen die Debatten über das genannte Thema zu nähren vermochten, ist darauf hinzuweisen, dass die Berufsverbände der Medien gegen die [oben beschriebene] selektive Praxis des Führungsstabs [...] protestiert und sie als willkürlich bzw. der Presse- bzw. Meinungsäußerungsfreiheit abträglich eingestuft hatten. Tatsächlich ist es so, dass die Anlegung einer Datei, in der Journalisten nach ihrer politischen Linie beurteilt werden und welche darauf hinausläuft, dass eine gewisse Zahl von ihnen von der Berichterstattung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ausgeschlossen wird, das Recht der Öffentlichkeit auf den Erhalt von Informationen iSv. Art. 10 EMRK betrifft [...].

(56) Schließlich möchte der GH noch festhalten, dass die im fraglichen Artikel vertretenen Ansichten und der Inhalt der öffentlich gemachten Dokumente zweifellos geeignet waren, zur öffentlichen Debatte über das Verhältnis der Armee zur Politik beizutragen.

(57) Was den Schutz von journalistischen Quellen im vorliegenden Fall angeht, ist festzustellen, dass die Gerichte – zwecks Identifizierung der Staatsbeamten, welche die vertraulichen Informationen an die Bf. weitergegeben hatten – die Bf. an ihrem Arbeitsplatz ohne Vorankündigung überraschten und dort eine Durchsuchung durchführten, bei der sie praktisch Zugang zu allen von ihnen aufbewahrten Dokumenten hatten. Es handelte sich dabei folglich um einen ernsteren Eingriff als die bloße Anweisung, die Identität der Informationsquelle bekannt zu geben.

(58) Der GH hält auch fest, dass der ErstBf. in seiner Eigenschaft als Herausgeber von »Nokta« den Untersuchungsbeamten bereits am Eingang des Redaktionsbüros die vom Staatsanwalt begehrten Dokumente aushändigte. Dies hielt diese jedoch nicht davon ab, über einen Zeitraum von ca. 65 Stunden sämtliche Daten von 46 Computern auf externe Festplatten herunterzuladen. Damit gingen die Ermittlungsbehörden über das hinaus, was von der Militärstaatsanwaltschaft am 6.4.2007 telefonisch beantragt worden war, nämlich die Übergabe des vom Whistleblower übermittelten Originaldokuments.

(59) Nach Ansicht des GH musste eine derartige Intervention zwangsläufig potenzielle Informationsgeber davon abhalten, die Presse dabei zu unterstützen, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten der Armee auch dann zu informieren, wenn diese von allgemeinem Interesse waren.

(60) [Zum Schutz von als Whistleblower agierenden Beamten] ist zu sagen, dass [...] aus den Entscheidungen der Militärgerichte vom 10. und 24.4.2007 klar hervorgeht, dass die Untersuchung zum Ziel hatte, die undichte Stelle im Führungsstab ausfindig zu machen und die dafür Verantwortlichen zu identifizieren und festzunehmen. Indem die Bf. ihre Informationsquellen zu schützen versuchten, erstreckte sich dieser Schutz somit auch auf die Skandalaufdecker bzw. Informanten.

(61) Der GH vermag in diesem Zusammenhang zu akzeptieren, dass die von Journalisten im Rahmen der Ausübung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit übernommenen Pflichten und Verantwortlichkeiten die Verpflichtung einschließen können, Informationen, die ihnen von im Dienste des Staates stehenden Whistleblowern übermittelt wurden, solange nicht zu veröffentlichen, bis Letztere vom internen verwaltungsrechtlichen Dienstweg Gebrauch gemacht haben, um ihren Vorgesetzten ihre Besorgnis [über diverse Vorgänge] mitzuteilen. Im vorliegenden Fall [...] ist es allerdings so, dass das türkische Recht keinerlei Regelung dahingehend enthält, ob und wie Armeeangehörige potenziell irreguläre Vorgänge, die sich in ihrem Arbeitsfeld ereignen, bekanntgeben müssen. Die Regierung hat nichts in der Richtung vorgebracht, dass innerhalb der Armee Mittel zur Verfügung stehen würden, um derartige Praktiken anzufechten. Den Bf. kann somit nicht zum Vorwurf gemacht werden, die ihnen übermittelten Informationen veröffentlicht zu haben, ohne darauf zu warten, dass ihre Quellen und/oder Informanten ihre Bedenken vorher über den Dienstweg äußern.

Zu den geschützten Interessen der nationalen Behörden

(62) [Bezüglich der Vertraulichkeit von militärischen Angelegenheiten] räumt der GH ein, dass der vertrauliche Charakter von Informationen über die Organisation und den internen Betrieb der Armee im Prinzip gerechtfertigt ist. Er möchte aber betonen, dass eine solche Vertraulichkeit nicht um jeden Preis geschützt werden kann. [...] Der GH ist der Überzeugung, dass sich die Aufgabe der Medien als Informationslieferant und »Kontrolleur« auch auf Handlungen der Streitkräfte erstreckt, sodass ein absoluter Ausschluss einer öffentlichen Debatte über Fragen betreffend die Armee nicht akzeptiert werden kann. Es ist daher zu prüfen, ob die Verbreitung der strittigen Dokumente und die Veröffentlichung des fraglichen Artikels geeignet waren, den Interessen des türkischen Staats einen »beträchtlichen Schaden« zuzufügen.

Den Akten des vorliegenden Falls lassen sich keinerlei Anhaltspunkte entnehmen, was der tatsächliche Grund für die Klassifizierung der im Artikel erwähnten Dokumente als »vertraulich« war. [...]

Im Übrigen ist der Regierung kein Beweis dahingehend gelungen, dass eine Offenlegung der Dokumente des Führungsstabs tatsächlich negative Auswirkungen auf das »Bild« der Beziehungen hatte, welche die Militärbehörden mit den Medien und der öffentlichen Meinung unterhielten. Der GH ist vielmehr der Ansicht, dass der Inhalt des umstrittenen Artikels, mit dem [...] eine Verwaltungspraxis aufgezeigt wurde, welche die Verbreitung von für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen einer Beschränkung unterwarf, von hoher Relevanz für die Debatte über die Frage einer Diskriminierung der Medien durch staatliche Organe war. Weder die Gerichte noch die Regierung haben vorgebracht, dass der gegenständliche Artikel vom Stil oder vom Zeitpunkt seiner Publikation her Schwierigkeiten zu verursachen vermochte, welche als für die Staatsinteressen abträglich hätten eingestuft werden müssen.

(63) [Was das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die betroffenen nationalen Behörden anbelangt], ist der GH bereit zu akzeptieren, dass es im allgemeinen Interesse liegt, das Vertrauen des Volkes aufrechtzuerhalten, wonach die Behörden des Staates einschließlich der Streitkräfte den Medien das Prinzip der Gleichbehandlung garantieren. Gleichzeitig haben die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht, Klarstellungen über diskutable Praktiken einer öffentlichen Institution zu bekommen, was die Pressefreiheit angeht. Das öffentliche Interesse an der Verbreitung von Informationen über fragwürdige Praktiken der Streitkräfte [...] ist nach Ansicht des GH in einer demokratischen Gesellschaft derart bedeutsam, dass es das Interesse an der Aufrechterhaltung des Vertrauens der Öffentlichkeit in diese Institution überwiegt. [...]

Zu der von den Gerichten ausgeübten Kontrolle

(64) [...] Der GH wird nun prüfen, ob die rein formelle Anwendung des Begriffs »Vertraulichkeit« in § 336 des türkischen Strafgesetzes (Anm: Danach ist die Preisgabe von Informationen vertraulichen Charakters, deren Weiterleitung die zuständigen Behörden kraft dieses Gesetzes untersagt haben, mit Freiheitsstrafe von drei bis zu fünf Jahren zu ahnden.) [...] mit den Anforderungen der Konvention vereinbar ist bzw. ob [...] der Richter [aufgrund dieser Rechtslage] daran gehindert war, den faktischen Inhalt der vertraulichen Dokumente im Wege der Vornahme einer Interessenabwägung in Betracht zu ziehen. [...]

(65) Vorweg ist zu notieren, dass die Militärgerichte eine Prüfung dahingehend verabsäumt haben, ob die Einstufung der von der »Abteilung für Beziehungen mit der Öffentlichkeit« des Führungsstabs ausgearbeiteten Dokumente als »vertraulich« gerechtfertigt war. Letztere haben sich auch nicht mit der Frage beschäftigt, ob das Interesse an der Aufrechterhaltung der Vertraulichkeit dieser Dokumente das Interesse der Öffentlichkeit, über die [unterschiedliche] Behandlung diverser Medien informiert zu werden, überwog. Vielmehr war es so, dass die Gerichte, nachdem sie es als notwendig erachtet hatten, diese Dokumente als Staatsgeheimnis einzuordnen, sich mehr auf die strafrechtliche Verantwortung der Whistleblower bzw. jener Bf., welche die Herausgabe der Dokumente verweigert hatten, um ihre Informationsquellen zu schützen, konzentrierten. Sie hätten daher den Blick auf den Schutz der Whistleblower lenken und untersuchen sollen, ob einerseits die in Frage kommenden Staatsbeamten über spezielle interne Wege verwaltungsrechtlicher Natur verfügten, die es ihnen ermöglicht hätten, ihren Vorgesetzten ihre Bedenken mitzuteilen, und andererseits, ob die preisgegebenen Informationen zur öffentlichen Debatte beizutragen vermochten [...].

(66) Aufgrund der Tatsache, dass die Militärgerichte eine Überprüfung dahingehend unterließen, ob die Einstufung der von den Bf. offengelegten Dokumente als »vertraulich« gerechtfertigt war oder nicht und keine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen vorgenommen haben, muss der GH feststellen, dass die rein formelle Anwendung des Begriffs »Vertraulichkeit« auf die militärischen Dokumente die nationalen Instanzen gehindert hat zu prüfen, ob der strittige Eingriff mit Art. 10 EMRK vereinbar war.

Zum Verhalten der Bf.

(67) Der GH wird als nächstes untersuchen, ob der von den Bf. veröffentlichte Artikel [...] berufsethischen Regeln folgte und ob sie im guten Glauben handelten.

(68) Zuerst ist festzustellen, dass der GH, was die Art und Weise der Abfassung des gegenständlichen Artikels betrifft, keine Nachlässigkeiten auszumachen vermag. Die Bf. hatten sich auf die von den zuständigen Armeestellen entwickelte Strategie der Behandlung von Zeitungsherausgebern und Journalisten [...] je nach ihrer Einstufung als »vorteilhaft/nicht vorteilhaft« [...] konzentriert, ohne dabei den Kontext aus den Augen zu verlieren. Sie ließen auch die Leserinnen und Leser nicht über Elemente im Unklaren, die keinen Anlass zur Kritik gegenüber dem Militär gaben. Ebensowenig griffen die Bf. die Mitglieder des Führungsstabs [...] persönlich an. Vielmehr war es so, dass die Bf. durch die Art und Weise der Präsentation des Themas seiner Bedeutung und Tragweite Respekt zollten, ohne dabei Stilmittel zu verwenden, die geeignet waren, die Leserinnen und Leser von objektiven Informationen »abzulenken«.

(69) Ferner besteht für den GH kein Anlass zu der Annahme, dass sich die Bf. von der Veröffentlichung ihres Artikels persönliche Vorteile erhofften, dass sie etwa Animositäten gegen die betroffene Armee-Dienststelle hegten oder aus irgendwelchen anderen versteckten Motiven heraus agiert hatten.

(70) Für den GH steht daher fest, dass die Bf. keine andere Absicht hatten als jene, die Öffentlichkeit über ein Thema von allgemeinem Interesse zu informieren.

Zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

(73) Im vorliegenden Fall hatte die in den Geschäftslokalen der Bf. vorgenommene Hausdurchsuchung, die Übertragung sämtlicher Computerdaten auf externe Festplatten und deren Aufbewahrung im Büro des Staatsanwalts tiefschürfendere Auswirkungen auf den Schutz von Quellen als die bloße Anweisung, die Identität der Informanten offen zu legen. Tatsächlich war es so, dass die beliebige Abfrage aller Computerdaten es den Behörden gestattete, Informationen zu sammeln, die nicht in Verbindung zu den strafrechtlich verfolgten Handlungen standen.

(74) Diese Intervention hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur besonders negative Auswirkungen auf die Beziehungen der Bf. zu ihren Informationsquellen, sondern auch einen abschreckenden Effekt auf andere Journalisten bzw. im staatlichen Dienst stehende Whistleblower, weil sie diese davon abhalten konnte, über Fälle von Fehlverhalten bzw. fragwürdigen Vorgehensweisen seitens der Behörden zu informieren.

(75) Die gegenständliche Intervention war daher gegenüber dem verfolgten Ziel unverhältnismäßig.

Ergebnis

(76) [...] Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit bei Angelegenheiten von allgemeinem Interesse und die Notwendigkeit, gerade in diesem Bereich journalistische Quellen zu schützen, auch wenn es sich bei diesen Quellen um Staatsbeamte handelt, die zweifelhafte Vorgehensweisen bzw. Praktiken an ihrem Arbeitsplatz festgestellt bzw. signalisiert haben, kommt der GH nach Durchführung einer Abwägung der unterschiedlichen auf dem Spiel stehenden Interessen, hier vor allem der Vertraulichkeit militärischer Angelegenheiten, zu dem Schluss, dass der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf., insbesondere was ihr Recht auf die Mitteilung von Informationen angeht, keinem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach [...] und somit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war.

(77) Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.750,– an den ErstBf, jeweils € 1.650,– an den Zweit- und DrittBf., jeweils € 850,– an den Viert- und SechstBf. sowie € 500,– an den FünftBf. für die von ihnen erlittenen immateriellen Schäden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

De Haes und Gijsels/B v. 24.2.1997 = NL 1997, 50 = ÖJZ 1997, 912

Fressoz und Roire/F v. 21.1.1999 (GK) = NL 1999, 11 = EuGRZ 1999, 5 = ÖJZ 1999, 774

Roemen und Schmit/LUX v. 25.2.2003 = NL 2003, 74

Guja/MD v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 28

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.1.2016, Bsw. 49085/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 53) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/Görmüs.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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