JudikaturJustizBsw35637/03

Bsw35637/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Februar 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Sporer gegen Österreich, Urteil vom 3.2.2011, Bsw. 35637/03.Art. 6 Abs. 1, 8, 14 EMRK - Diskriminierung unverheirateter Väter beim Sorgerecht.

Spruch

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Notwendigkeit einer gesonderten Prüfung der Beschwerde unter Art. 8 EMRK alleine (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine ausreichende Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 3.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. lebt in Schalchen, Oberösterreich. Ende Mai 2000 wurde er Vater des unehelich geborenen Sohnes K. Die Kindesmutter hielt sich zu diesem Zeitpunkt als Mieterin im Haus des Bf. auf, der in einer separaten Wohnung mit seiner langjährigen Partnerin U. und ihrem gemeinsamen Sohn D. zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr von K. kümmerten sich die Kindeseltern abwechselnd um das Kind und nahmen nacheinander Karenzurlaub.

Anfang Jänner 2002 zog die Mutter von K. aus ihrer Wohnung aus. In der Folge beantragte der Bf. beim BG Mattighofen gemäß § 176 ABGB die Übertragung des alleinigen Sorgerechts mit der Begründung, er und U. hätten sich bisher hauptsächlich um das Kind gekümmert, die leibliche Mutter sei dazu nicht in der Lage.

Am 12.3.2002 hielt das BG Mattighofen eine mündliche Verhandlung ab, bei der die Eltern einvernehmlich der Einholung der Meinung eines Kinderpsychiaters zu der Frage zustimmten, wem die alleinige Obsorge eingeräumt werden solle. Sie einigten sich ferner darauf, dass K. bis zu einer endgültigen Entscheidung mit beiden Elternteilen jeweils eine halbe Woche verbringen würde.

Am 8.7.2002 kam es zu einer weiteren mündlichen Verhandlung, bei der die Ergebnisse der kinderpsychiatrischen Expertise diskutiert wurden, derzufolge die Mutter unreif und derzeit nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. Der Vertreter des Jugendamts widersprach dieser Einschätzung. Das BG Mattighofen holte daraufhin die Meinung einer Kinderpsychologin ein. Diese kam zu dem Schluss, die Mutter würde weder mangelnde Reife noch emotionale Instabilität aufweisen und könne für das Kind Sorge tragen. Der Bf. beantragte sodann erfolgreich die Einholung eines Obergutachtens. Dr. B. vertrat darin die Ansicht, dass das Kindeswohl durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter nicht gefährdet sei. Von der ihm eingeräumten Möglichkeit, zum Obergutachten Stellung zu nehmen, machte der Bf. keinen Gebrauch, stellte jedoch den Antrag, es in einer mündlichen Verhandlung zu erörtern.

Mit Beschluss vom 4.12.2002 lehnte das BG Mattighofen den Antrag des Bf. auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts ab. § 166 ABGB zufolge sei mit der Obsorge für das uneheliche Kind die Mutter allein betraut. Ein Entzug des Sorgerechts komme nur dann in Frage, wenn das Kindeswohl gefährdet sei. Davon könne im vorliegenden Fall angesichts des eingeholten zweiten und dritten Gutachtens sowie der positiven Stellungnahme des Jugendamts jedoch keine Rede sein. Von der Abhaltung einer weiteren mündlichen Verhandlung sei abgesehen worden, da das Obergutachten schlüssig und überzeugend gewesen sei und eine zusätzliche Verhandlung das Sorgerechtsverfahren nur verzögert hätte.

Der Bf. rief daraufhin das LG Ried an und brachte vor, die §§ 166 und 176 ABGB seien diskriminierend, könne der Mutter eines unehelich geborenen Kindes das alleinige Sorgerecht doch nur unter der Voraussetzung entzogen werden, dass sie dessen Wohl gefährde. Bei einem ehelichen Kind würde den Eltern hingegen auch im Fall der Trennung oder der Scheidung die gemeinsame Obsorge zukommen, außer das Kindeswohl erfordere die Übertragung des alleinigen Sorgerechts.

Das LG Ried wies das Rechtsmittel unter anderem mit der Begründung ab, eine Unterscheidung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern stelle keine diskriminierende Behandlung dar, solange sie objektiv gerechtfertigt sei. Der in § 176 ABGB festgelegte Grundsatz beruhe auf der Erwägung, dass bei der Mehrzahl der unehelich geborenen Kinder es tatsächlich die Mutter sei, welche sich um die Pflege kümmere. Eine außerordentliche Revision an den OGH blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) allein und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Der Bf. beklagt, das BG Mattighofen habe ihm die Möglichkeit verwehrt, in einer mündlichen Verhandlung zu dem Obergutachten persönlich Stellung zu nehmen.

Der GH erachtet die vom BG Mattighofen herangezogenen Gründe für die Nichtabhaltung einer weiteren mündlichen Verhandlung als überzeugend, hatten vor diesem doch bereits zwei Verhandlungen – eine zur Vorbereitung und eine weitere in der Sache – stattgefunden, die es ihm gestatteten, einen persönlichen Eindruck von den Parteien zu gewinnen und die verschiedenen Aspekte des Falls zu diskutieren. Insoweit der Bf. darauf beharrt, ihm sei keine angemessene Gelegenheit zu mündlichem Vorbringen gegeben worden, ist festzuhalten, dass er diese Behauptung nicht substantiiert hat und er außerdem bei der mündlichen Verhandlung am 8.7.2002 anwesend und anwaltlich vertreten war. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass er im Zuge der Erörterung der zweiten Expertise nicht zusätzliches Vorbringen hätte erstatten können, falls er dies gewollt hätte.

Im vorliegenden Fall kam der Bf. in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens, bei dem ihm Gelegenheit gegeben wurde, all seine Argumente vorzubringen. Auch das Obergutachten war Gegenstand kontradiktorischer Erörterung, konnten die Streitteile doch umfassende schriftliche Stellungnahmen zur behaupteten fehlenden Eignung des jeweiligen Elternteils, das Sorgerecht auszuüben, erstatten. Abgesehen davon waren die Eltern von Dr. B befragt und war dem Bf. Gelegenheit eingeräumt worden, zum Gutachten schriftlich Stellung zu nehmen. Unter diesen Umständen konnte das BG Mattighofen in fairer Weise über den Fall absprechen, ohne eine weitere Verhandlung anordnen zu müssen. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Der Bf. behauptet, die einschlägigen Bestimmungen des ABGB in ihrer Anwendung durch die Gerichte würden ihn als Vater eines unehelichen Kindes benachteiligen.

Der GH hält es für angemessen, den Fall zuerst unter Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK zu prüfen.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

Der GH erinnert daran, dass der Begriff der Familie in Art. 8 EMRK nicht auf eheliche Verbindungen beschränkt ist, sondern auch andere De facto-Familienbande – etwa wenn ein nicht verheiratetes Paar zusammenlebt – umfasst. Ein außerehelich geborenes Kind ist insofern ipso iure Teil der »Familie« bereits vom Augenblick und aufgrund seiner Geburt an.

Zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt lebten der Bf. und die Mutter von K. jedoch nicht zusammen. Allerdings handelt es sich beim Bestehen oder Nichtbestehen von Familienleben iSv. Art. 8 EMRK um eine Tatsachenfrage, die von der realen Existenz von engen persönlichen Bindungen in der Praxis abhängt. Entscheidend ist ein nachweisliches Interesse bzw. Engagement des Vaters für sein Kind vor und nach der Geburt.

Im vorliegenden Fall übernahm der Bf. seine Rolle als Vater von K. von Beginn an. K. wurde der Familienname des Bf. gegeben und dieser nahm Karenzurlaub, um sich um ihn kümmern zu können. Während des Sorgerechtsverfahrens schloss der Bf. mit der Kindesmutter eine Vereinbarung, der zufolge er die Hälfte der Woche mit seinem Sohn verbringen würde. Nachdem der Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden war, wurde ihm ein ausgedehntes Besuchsrecht eingeräumt.

Unter diesen Umständen stellte die Beziehung des Bf. zu seinem Sohn »Familienleben« dar. Der vorliegende Fall fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK, sodass auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.

2. In der Sache

Der Bf. beklagt sich als Vater eines unehelichen Kindes zum einen über eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zur Kindesmutter, da er keine Möglichkeit habe, die gemeinsame Obsorge ohne deren Zustimmung zu bekommen, zum anderen über eine Benachteiligung gegenüber verheirateten bzw. geschiedenen Vätern, welche das gemeinsame Sorgerecht nach Scheidung oder Trennung von der Mutter behalten können.

Der GH weist darauf hin, dass Eltern eines ehelich geborenen Kindes einen Rechtsanspruch auf gemeinsame Obsorge bereits von Beginn an haben. Im Prinzip behalten sie diese nach der Scheidung oder Trennung, außer deren Ausübung dient nicht dem Kindeswohl.´

Demgegenüber wird die Pflege und Erziehung für ein unehelich geborenes Kind der Mutter übertragen, außer beide Eltern stellen einen Antrag auf Einräumung der gemeinsamen Obsorge. Ab Juli 2001 können sie einen solchen Antrag auch dann stellen, wenn sie nicht im gemeinsamen Haushalt leben. Stimmt die Kindesmutter dem nicht zu, so sieht das nationale Recht keine gerichtliche Prüfung dahingehend vor, ob die Einräumung der gemeinsamen Obsorge dem Kindeswohl dient. Dem Vater verbleibt in einem solchen Fall nur mehr die Möglichkeit, einen Antrag auf Einräumung des alleinigen Sorgerechts zu stellen – das ihm jedoch nur unter der Bedingung eingeräumt werden kann, dass die Mutter das Wohlergehen des Kindes gefährdet.

Im vorliegenden Fall beantragte der Bf. das alleinige Sorgerecht für K., nachdem die Beziehung zur Kindesmutter im Jänner 2002 geendet hatte. Aufgrund der einschlägigen Gesetzeslage konnten die nationalen Gerichte jedoch keine Prüfung dahingehend vornehmen, ob ein gemeinsames Sorgerecht dem Kindeswohl diene, da hierfür die Zustimmung der Mutter notwendig gewesen wäre. Sie hatten auch nicht darüber zu befinden, welcher Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben. Die einzige Frage, die sich stellte, war jene nach § 176 ABGB, ob die Mutter von K. das Kindeswohl gefährden könnte. Da das Obergutachten zu einem gegenteiligen Schluss kam, wurde der Antrag des Bf. auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts abgewiesen. Dem Vorbringen des Bf., er werde als Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert, hielten die Gerichte im Wesentlichen entgegen, die relevanten Bestimmungen des ABGB beruhten auf der Erwägung, dass es in der Mehrzahl der Fälle von unehelich geborenen Kindern tatsächlich die Mutter sei, welche sich um sie kümmere.

Im vorliegenden Fall führten die Entscheidungen der Gerichte und die ihnen zugrunde liegende Gesetzeslage hinsichtlich der beantragten Zuweisung des Sorgerechts an den Bf. somit zu einer Ungleichbehandlung in seiner Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes im Vergleich zu der Mutter bzw. zu verheirateten Vätern.

Im Fall Zaunegger/D fand der GH, dass es angesichts der unterschiedlichen Lebenssituation, in der sich unehelich geborene Kinder befinden, und in Ermangelung einer Vereinbarung über die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts gerechtfertigt ist, die elterliche Obsorge vorerst der Mutter zu übertragen, um zu gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die als gesetzlicher Vertreter fungieren kann. Der GH sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall zu einem anderen Schluss zu gelangen. Die unterschiedliche Behandlung des nicht verheirateten Vaters gegenüber der Kindesmutter ist somit, was die Zuweisung des Sorgerechts zuerst an letztere anlangt, gerechtfertigt.

Zu prüfen bleibt, ob die vom Bf. weiters gerügte unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt ist, nämlich dass er als Vater eines unehelichen Kindes nicht die gemeinsame Obsorge ohne Zustimmung der Mutter erlangen kann und ein Entzug des alleinigen Sorgerechts nur statthaft ist, sofern diese das Kindeswohl gefährdet.

Im Fall Zaunegger/D teilte der GH nicht die Annahme der Regierung, wonach ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter von vornherein dem Kindeswohl zuwiderlaufe. Zwar gebe es unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Einigkeit darüber, ob Väter unehelicher Kinder ein Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht auch ohne Zustimmung der Mutter zu beantragen. In den meisten Staaten müsse sich die Übertragung des Sorgerechts allerdings am Kindeswohl orientieren und sei diese Frage im Fall eines Streits zwischen den Eltern darüber Gegenstand gerichtlicher Überprüfung.

Im gegenständlichen Fall sah das österreichische Recht keine gerichtliche Prüfung der Frage vor, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohl läge, und, wenn nein, ob diesem besser mit der Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die Mutter oder den Vater gedient wäre. Die einzige Frage, welche die Gerichte prüfen konnten, war, ob gemäß § 176 ABGB das Kindeswohl gefährdet sei, wenn die Mutter weiterhin das alleinige Sorgerecht ausüben würde. Demgegenüber sieht das nationale Recht eine volle gerichtliche Prüfung der Zuweisung der elterlichen Obsorge und eine Lösung des darüber bestehenden Konflikts zwischen getrennten Eltern in Fällen vor, in denen der Vater bereits elterliche Rechte ausgeübt hat – entweder, weil die Eltern verheiratet waren oder, falls nicht, weil sie eine Vereinbarung über eine gemeinsame Sorgerechtsausübung getroffen hatten. In solchen Fällen behalten die Eltern die gemeinsame Obsorge, außer die Gerichte weisen antragsgemäß einem Elternteil das alleinige Sorgerecht zu, sofern es das Kindeswohl verlangt (§ 177a Abs. 2 ABGB).

Die Regierung hat keine ausreichenden Gründe dargelegt, warum die Situation des Bf., der seine Rolle als Vater von K. sofort angenommen hatte, Gegenstand einer geringeren gerichtlichen Prüfung sein sollte als diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht innehatten und sich später von der Kindesmutter trennten oder scheiden ließen. Im Fall Zaunegger/D hat der GH in einer vergleichbaren Situation eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK festgestellt. Es besteht kein Grund, hier zu einem anderen Schluss zu gelangen. Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Angesichts dieser Feststellungen hält der GH eine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine nicht für notwendig (einstimmig).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine ausreichende Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 3.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Zaunegger/D v. 3.12.2009, NL 2009, 348; EuGRZ 2010, 42; ÖJZ 2010, 138.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.2.2011, Bsw. 35637/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 35) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Sporer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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