JudikaturJustizBsw3545/04

Bsw3545/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. Mai 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Brauer gegen Deutschland, Urteil vom 28.5.2009, Bsw. 3545/04.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Erbrechtliche Benachteiligung nichtehelicher Kinder.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Entscheidung über die Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht spruchreif (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1948 in der DDR geborene Bf. ist die Tochter eines gewissen Herrn Schildgen, der sie einige Monate nach ihrer nichtehelichen Geburt anerkannte. Bis 1989 lebte sie in der DDR, ihr Vater hingegen in der BRD. Sie korrespondierte regelmäßig mit ihm und nach der Wiedervereinigung besuchte sie ihn auch. Herr Schildgen verstarb Ende Juni 1998.

Daraufhin beantragte die Bf. beim Amtsgericht Neunkirchen die Erteilung eines Teilerbscheins, wonach sie als gesetzliche Erbin einen Anspruch auf mindestens die Hälfte des Nachlasses habe. Das Amtsgericht wies den Antrag am 8.10.1998 mit der Begründung zurück, die Bf. könne wegen Art. 12 § 10 Abs. 2 1. Satz des Gesetzes über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder (Nichtehelichengesetz) nicht Erbin sein. (Anm.: Nach Art. 12 § 10 Abs. 2 1. Satz des am 1.7.1970 in Kraft getretenen Nichtehelichengesetzes hatten nichteheliche Kinder, die vor dem 1.7.1949 geboren (und somit bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits volljährig) waren, keinen gesetzlichen Erbanspruch.) Das Amtsgericht verwies auf einen Beschluss des BVerfG vom 8.12.1976, wonach diese Bestimmung mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Das Landgericht Saarbrücken bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts. Das Saarländische Oberlandesgericht behob diese Entscheidung und verwies die Sache zurück an das Landgericht, um zu ermitteln, ob weitere Erben vorhanden wären. Das Oberlandesgericht hielt fest, dass ausschließlich das Recht der BRD anwendbar sei, da der Erblasser zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung nicht in der DDR gelebt hatte. (Anm.: Gemäß Art. 235 iVm. Art. 25 Einführungsgesetz zum bürgerlichen Gesetzbuche sind vor dem 3.10.1990 in der DDR geborene nichteheliche Kinder ehelichen Kindern erbrechtlich gleichgestellt, wenn ihr Vater nach dem 3.10.1990 verstorben ist und zu diesem Datum in der DDR wohnhaft war. Die erbrechtliche Stellung von Kindern, die vor dem 1.7.1949 nichtehelich geboren wurden, hängt somit davon ab, ob ihr Vater zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung in der DDR oder in der BRD gelebt hat.) Das Gericht äußerte jedoch Zweifel an der Verfassungskonformität von Art. 12 § 10 Abs. 2 Nichtehelichengesetz.

Am 25.1.2001 bestätigte das Landgericht Saarbrücken seinen ersten Beschluss. Es verwies dabei auf eine Entscheidung des BVerfG vom 3.7.1996, wonach Art. 12 § 10 Abs. 2 1. Satz Nichtehelichengesetz auch nach der deutschen Wiedervereinigung nicht gegen das Grundgesetz verstoße. Auch nach einer neuerlichen Aufhebung dieses Beschlusses durch das Saarländische Oberlandesgericht wich das Landgericht nicht von dieser Rechtsansicht ab. Eine neuerliche Anfechtung durch die Bf. blieb ebenso erfolglos wie eine Verfassungsbeschwerde, die vom BVerfG am 20.11.2003 nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Das BVerfG betonte den Aspekt des Vertrauensschutzes des Erblassers, der nach dem Beschluss des BVerfG vom 8.12.1976 davon ausgehen hätte können, dass die erbrechtliche Stellung der vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder für die Zukunft verfassungsrechtlich geklärt sei. Die unterschiedliche Behandlung von vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kindern nach dem Wohnort ihres Vaters zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung sei durch den Zweck der Vermeidung beitrittsbedingter Nachteile gerechtfertigt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringt vor, ihr Ausschluss vom gesetzlichen Erbanspruch hätte sie in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK setzt voraus, dass der umstrittene Sachverhalt in den Anwendungsbereich einer der materiellen Bestimmungen der EMRK fällt. Der GH muss daher prüfen, ob Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist.

Die Bf. wurde von ihrem Vater kurz nach der Geburt anerkannt. Trotz der durch die Teilung Deutschlands bestehenden Schwierigkeiten hatten sie regelmäßigen Kontakt. Ohne Zweifel fällt der vorliegende Sachverhalt daher in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK. Art. 14 EMRK ist daher in Verbindung mit Art. 8 EMRK anwendbar.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch liegt ein anderer Unzulässigkeitsgrund vor. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. Entscheidung in der Sache:

Die Anwendung der umstrittenen Bestimmungen führte zu einer unterschiedlichen Behandlung eines vor dem 1.7.1949 nichtehelich geborenen Kindes im Vergleich zu Kindern, die entweder ehelich oder nach diesem Stichtag nichtehelich geboren wurden und – seit der deutschen Wiedervereinigung – auch im Vergleich zu Kindern, die vor dem 1.7.1949 nichtehelich geboren wurden und deren Väter zur Zeit der Wiedervereinigung in der DDR lebten.

Eine unterschiedliche Behandlung von Personen in ähnlichen Situationen verstößt gegen Art. 14 EMRK, wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder kein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel besteht.

Die Konvention ist ein lebendiges Instrument und muss im Lichte der heutigen Bedingungen ausgelegt werden. Die Mitgliedstaaten des Europarats messen der Gleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern heute großes Gewicht bei. Sehr schwerwiegende Gründe müssten daher vorgebracht werden, damit eine auf der nichtehelichen Geburt beruhende unterschiedliche Behandlung als vereinbar mit der Konvention angesehen werden kann.

Das mit der Beibehaltung der umstrittenen Norm verfolgte Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung von Rechtssicherheit und der Schutz des Erblassers und seiner Familie, kann als legitim betrachtet werden.

Der deutsche Gesetzgeber hat im Erbrecht schrittweise den Status von ehelichen und nichtehelichen Kindern angeglichen. Nach der Wiedervereinigung hat er in der DDR geborenen nichtehelichen Kindern dieselbe erbrechtliche Stellung eingeräumt wie ehelichen Kindern, vorausgesetzt ihr Vater lebte zur Zeit der Wiedervereinigung in der DDR. Die Ausnahme in Art. 12 § 10 Abs. 2 1. Satz Nichtehelichengesetz, die vor dem 1.7.1949 nichtehelich geborene Kinder von gesetzlichen Erbansprüchen ausschließt, wurde jedoch beibehalten. Die Verfassungskonformität dieser Bestimmung wurde vom BVerfG 1976 und erneut 1996 bestätigt.

Die Entscheidung des Gesetzgebers, diese Ausnahme beizubehalten, war Ausdruck des Zustands der deutschen Gesellschaft zur damaligen Zeit und des Widerstands eines Teils der Öffentlichkeit gegen Reformen der Rechtsstellung von nichtehelichen Kindern. Außerdem bestanden praktische Schwierigkeiten bei der Vaterschaftsfeststellung. Das BVerfG stellte daher in seiner Leitentscheidung vom 8.12.1976 fest, dass die weitere Anwendung dieser Bestimmung auf sachlichen Gründen beruhte. Diese Argumente können jedoch nach Ansicht des GH heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen. Wie auch in anderen europäischen Ländern hat sich die deutsche Gesellschaft deutlich weiterentwickelt. Die Rechtsstellung nichtehelicher Kinder wurde jener ehelicher Kinder angeglichen. Auch die praktischen Schwierigkeiten bei der Vaterschaftsfeststellung bestehen nicht länger, da mit DNA-Tests eine einfache und zuverlässige Methode zur Verfügung steht. Durch die deutsche Wiedervereinigung und die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Kindern in einem großen Teil Deutschlands wurde schließlich eine neue Situation geschaffen.

Der GH kann daher der Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall nicht zustimmen. Angesichts des sich entwickelnden europäischen Kontexts in diesem Bereich muss der Aspekt des Vertrauensschutzes der Erblasser und ihrer Familien zurücktreten hinter das Gebot der Gleichbehandlung von nichtehelichen und ehelichen Kindern.

Drei weitere Überlegungen scheinen dem GH in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel entscheidend. Erstens hatte der Vater der Bf. regelmäßigen Kontakt zu ihr. Er hatte weder eine Ehefrau noch direkte Abkömmlinge, sondern lediglich Erben dritter Ordnung, die er offenbar nicht gekannt hatte. Der „Vertrauensschutz" dieser entfernten Verwandten kann daher keine Rolle spielen. Zweitens verbrachte die Bf. einen großen Teil ihres Lebens in der DDR. Sie wuchs dort in einem gesellschaftlichen Umfeld auf, in dem nichteheliche Kinder denselben Status genossen wie eheliche. Sie konnte jedoch nicht von den Bestimmungen profitieren, welche die gleiche erbrechtliche Stellung vorsehen, weil ihr Vater zur Zeit der Wiedervereinigung nicht in der DDR lebte. Der Gesetzgeber wollte die Erbansprüche nichtehelicher Kinder schützen, deren Väter in der DDR lebten. Auch wenn diese unterschiedliche Behandlung angesichts des gesellschaftlichen Kontexts der ehemaligen DDR vielleicht gerechtfertigt war, führte sie doch zu einer Verstärkung der bestehenden Ungleichbehandlung von nichtehelichen Kindern, die vor dem 1.7.1949 geboren wurden und deren Väter in der BRD lebten. Wie der GH schließlich feststellt, schloss die Anwendung von Art. 12 § 10 Abs. 2 1. Satz Nichtehelichengesetz die Bf. von jedem gesetzlichen Erbanspruch aus, ohne ihr irgendeine finanzielle Entschädigung einzuräumen.

Der GH kann keinen Grund erkennen, der eine solche auf einer nichtehelichen Geburt beruhende Diskriminierung heute rechtfertigen könnte. Da kein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Zweck bestand, liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK vor (einstimmig).

Angesichts dieser Schlussfolgerung erübrigt sich eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Entscheidung über die Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht spruchreif und wird daher für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Marckx/B v. 13.6.1979, A/31; EuGRZ 1979, 454.

Inze/A v. 28.10.1987, A/126; ÖJZ 1998, 177.

Mazurek/F v. 1.2.2000.

Pla und Puncernau/AND v. 13.7.2004; NL 2004, 183.

Merger und Cros/F v. 22.12.2004.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.5.2009, Bsw. 3545/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 143) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Brauer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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