JudikaturJustizBsw29762/10

Bsw29762/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. Februar 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Mitzinger gg. Deutschland, Urteil vom 9.2.2017, Bsw. 29762/10.

Spruch

Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK - Erbrechtliche Beschränkung für uneheliches Kind.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1940 geborene Bf. ist die Tochter von A. W., der die Vaterschaft 1951 anerkannte. Sie lebte bis 1984 in der DDR, während ihr Vater, der geheiratet hatte, in die BRD gezogen war. Aufgrund dieser Situation waren persönliche Kontakte zwischen 1959 und 1984 schwierig. 1984 verließ die Bf., nachdem sie für sich und ihre Familie eine Ausreisegenehmigung erhalten hatte, selbst die DDR und zog nach Bayern. Danach nahm sie den persönlichen Kontakt zu ihrem Vater wieder auf. Zudem stand sie in regelmäßigem telefonischen Kontakt zu ihm. Der Vater starb am 4.1.2009.

Am 14.1.2009 beantragte die Bf. beim Amtsgericht Memmingen das Recht auf Verwaltung des Nachlasses ihres Vaters, da sie behauptete, dass die Frau ihres Vaters dazu wegen ihrer Demenz nicht in der Lage wäre. Sie informierte das Gericht von ihrem Erbanspruch und bat um Kopien von allen den Nachlass betreffenden Dokumenten.

Das Amtsgericht wies den Antrag der Bf. am 28.1.2009 ab, da es keine Anzeichen dafür gebe, dass die Frau des Vaters den Nachlass nicht schützen könne. Da die Bf. zudem vor dem 1.7.1949 geboren und daher kein gesetzlicher Erbe sei (Anm: Das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969, das am 1.7.1970 in Kraft trat (dBGBl. I, 1243) sah vor, dass nach dem 1.7.1949 unehelich geborene Kinder beim Tod des Vaters zu einer Entschädigungszahlung von Seiten der Erben berechtigt waren, die in ihrer Höhe ihrem Anteil am Nachlass entsprach. Vor dem 1.7.1949 unehelich geborene Kinder waren hingegen von jedem gesetzlichen Anspruch auf den Nachlass ausgenommen.), hätte sie kein Recht auf den Erhalt von den Nachlass betreffenden Kopien.

Die Bf. berief gegen diese Entscheidung an das Landgericht Memmingen. Selbiges bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts am 23.2.2009. In der Folge erhob die Bf. Berufung an das OLG München und behauptete insbesondere, dass das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder sie diskriminieren und daher dem GG widersprechen würde. Das OLG wies die Berufung am 14.5.2009 ab, da es an die Entscheidungen des BVerfG gebunden wäre, wonach das betreffende Gesetz im Einklang mit dem GG stehe.

Daraufhin wandte sich die Bf. an das BVerfG, das sich am 8.12.2009 allerdings weigerte, die Beschwerde zu behandeln, weil es sie als nicht ausreichend begründet ansah (1 BvR 2021/09).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) weil es ihr als unehelich geborenes Kind unmöglich gewesen sei, ihr Erbrecht durchzusetzen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Zulässigkeit

Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

(19) Die Regierung brachte vor, dass die Bf. im Hinblick auf ihre Beschwerde nach Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft habe [...].

(25) Der GH bemerkt, dass die Regierung ihre Einrede [...] hauptsächlich auf drei Argumente stützte. Dies waren das Versäumnis, für ihren Anspruch das richtige innerstaatliche Rechtsmittel zu wählen, das Versäumnis, vor dem Landgericht familiäre Bindungen zu ihrem Vater aufzuzeigen, und letztlich die unzureichende Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde.

(26) Im Hinblick auf das erste Argument [...] beobachtet der GH, dass der Antrag der Bf. auf Nachlassverwaltung aus dem Grund verweigert wurde, dass sie kein Recht darauf hätte, eine solche Anordnung zu beantragen, weil sie ein unehelich geborenes Kind wäre und daher kein gesetzlicher Erbe sein könne. Die damit verbundene Rüge der Bf. vor dem GH, die eine Diskriminierung aufgrund der Geburt betrifft, wurde vom OLG ausdrücklich behandelt. Angesichts des klaren Standpunkts, den die innerstaatlichen Gerichte im fraglichen Verfahren im Hinblick auf das Erbrecht der Bf. eingenommen haben, erwägt der GH, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles weitere Verfahren mit dem Ziel, einen Erbanspruch feststellen zu lassen, keinen wirksamen Rechtsbehelf dargestellt haben, den die Bf. verpflichtet war zu erschöpfen.

(27) Was das zweite Argument angeht, bemerkt der GH, dass die Bf. [...] [vor dem Amtsgericht Memmingen] vorbrachte, dass sie ihren Vater zwischen 2002 und 2007 regelmäßig besucht und mit ihm telefoniert hätte und dass sie später ihre eigene Gesundheit davon abgehalten hätte, ihn zu besuchen. [...] Das Altersheim, in dem ihr Vater gelebt hatte, wäre im Besitz ihrer Adresse und Telefonnummer gewesen und es hätte sie mehrfach angerufen. In ihrer Berufung an das OLG München behauptete die Bf., dass die Anwendung des [...] Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder sie diskriminieren und ihr Erbrecht verletzen und daher nicht mit dem GG im Einklang stehen würde. Auch wenn es daher wahr ist, dass die Bf. in ihrem ursprünglichen Antrag vom 14.1.2009 an das Amtsgericht Memmingen nicht explizit auf Art. 8 EMRK Bezug genommen hat, machte sie Umstände namhaft, die nicht nur die biologische Abstammung begründeten, sondern auch persönliche Bindungen zu ihrem Vater. Die Beschwerde wurde daher vor den innerstaatlichen Gerichten ausreichend vorgetragen.

(28) Zum letzten Argument vermerkt der GH, dass die Bf. in ihrem Vorbringen an das BVerfG eine vollständige Darlegung der Verfahren vor den unterinstanzlichen Gerichten bot, eine Diskriminierung aufgrund ihres Status als unehelichem Kind behauptete und auf mehrere Entscheidungen des BVerfG verwies, um ihre Argumentation zu untermauern. [...] Angesichts des Vorbringens der Bf. vor dem BVerfG befindet der GH, dass sie den Inhalt der vor ihm erhobenen Beschwerde ausdrücklich und ausreichend bereits vor Ersterem rügte [...].

(29) Angesichts des Vorgesagten muss die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen werden.

Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK

(32) [...] Das Vorliegen oder Nichtvorliegen von »Familienleben« iSd. Art. 8 EMRK ist im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, die vom realen Vorliegen von engen persönlichen Bindungen in der Praxis abhängt, insbesondere dem nachweislichen Interesse des Vaters am und sein Bekenntnis zum Kind – sowohl vor als auch nach der Geburt. Außerdem ist ein Erbrecht zwischen Kindern und Eltern so eng mit dem Familienleben verbunden, dass es unter Art. 8 EMRK fällt.

(33) Im vorliegenden Fall beobachtet der GH, dass der Vater der Bf. sie anerkannte und sie regelmäßig mit ihrem Vater korrespondierte und ihren Vater und seine Frau bis 1959 einmal im Jahr besuchte. Wegen der schwierigen Umstände aufgrund der Existenz von zwei getrennten deutschen Staaten waren Besuche zwischen 1959 und 1984 unmöglich, als die Bf. in die BRD zog. 1984 nahm die Bf. ihre regelmäßigen Besuche wieder auf und besuchte ihren Vater bis 2007, als ihre eigene Gesundheit sie von weiteren Besuchen abhielt. Zudem telefonierte sie regelmäßig mit ihrem Vater, bis seine Gesundheit dies verhinderte. Schließlich wird nicht bestritten, dass das Altersheim mehrmals mit ihr telefonierte, was zeigt, dass es die Bf. als mit dem Vater in einer engen Beziehung stehend ansah.

(34) Demzufolge hat der GH keinen Zweifel, dass die Umstände des Falles in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallen. Art. 14 EMRK kann daher iVm. Art. 8 EMRK angewendet werden.

Schlussfolgerung

(35) Der GH bemerkt, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist und daher für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).

In der Sache

(37) Der GH bemerkt zunächst, dass die Regierung den Umstand nicht bestritten hat, dass die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine unterschiedliche Behandlung eines vor dem Stichtag des 1.7.1949 unehelich geborenen Kindes im Vergleich zu einem ehelich geborenen Kind, einem nach diesem Datum unehelich geborenen Kind und seit der deutschen Wiedervereinigung auch einem vor diesem Zeitpunkt unehelich geborenen Kind, das unter das Recht der früheren DDR fiel, weil der Vater zur Zeit der Wirksamwerdung der Wiedervereinigung auf dem Gebiet der DDR wohnhaft war, bewirkte.

(38) Es muss daher geprüft werden, ob die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt war.

(41) Der GH wiederholt in diesem Zusammenhang, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, das vor dem Hintergrund der aktuellen Bedingungen ausgelegt werden muss. Heute messen die Mitgliedstaaten des Europarats der Frage der Gleichheit zwischen ehelich und unehelich geborenen Kindern im Hinblick auf ihre zivilen Rechte große Bedeutung bei. Demgemäß müssten sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden, damit eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der unehelichen Geburt als mit der Konvention vereinbar angesehen werden könnte.

(42) Der GH erwägt, dass das mit der Beibehaltung der strittigen Bestimmung verfolgte Ziel, nämlich die Erhaltung der Rechtssicherheit und der Schutz des Verstorbenen und seiner Familie, immer noch vertretbarerweise als legitim angesehen werden kann.

(43) Im Hinblick auf die Frage, ob eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten legitimen Ziel bestand, wiederholt der GH, dass angesichts des in diesem Bereich entstehenden europäischen Kontextes, den er bei seiner notwendigerweise dynamischen Interpretation der Konvention nicht ignorieren kann, der Aspekt des Schutzes der »berechtigten Erwartungen« der Verstorbenen und ihrer Familien dem Gebot der Gleichbehandlung zwischen außerhalb und innerhalb der Ehe geborenen Kindern untergeordnet werden muss. Er wiederholt in diesem Zusammenhang, dass er bereits 1979 in Marckx/B festgehalten hat, dass die im Hinblick auf das Erbrecht gemachte Unterscheidung zwischen »unehelichen« und »ehelichen« Kindern eine Frage unter Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK aufwirft.

(44) Der GH hält es weiters für entscheidend, dass der Vater der Bf. sie anerkannte. Zudem besuchte sie ihn und seine Frau zwischen 1954 und 1959 einmal im Jahr. Nachdem die Bf. die DDR verlassen hatte und nach Bayern gezogen war, gingen diese Besuche auf einer regulären Basis weiter, bis die Gesundheit der Bf. sie verhinderte. Daher handelte es sich bei Letzterer nicht um einen Abkömmling, dessen Existenz der Frau des Vaters unbekannt war.

(45) Der GH bemerkt, dass der Verstorbene neben der Bf. keine direkten Nachkommen, aber im Gegensatz zu Brauer/D eine Frau hatte, die als Alleinerbin bestimmt worden war. Er nimmt das diesbezügliche Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach diese Entscheidung geachtet werden müsse. Dennoch scheint es, dass selbst in den Augen der nationalen Behörden die Erwartungen eines Alleinerben nicht unter allen Umständen geschützt werden, da ein letzter Wille wie der in Frage stehende das Pflichtteilsrecht im Hinblick auf den Nachlass des Verstorbenen von ehelich geborenen Kindern und von nach dem Stichtag des 1.7.1949 unehelich geborenen Kinder nicht ausschließt. Dieser Umstand muss Einfluss auf die Erwartungen der Frau des Vaters betreffend die Erlangung unbestrittener Rechte am Nachlass im Erbrechtsweg gehabt haben.

(46) Außerdem haben die europäische Rechtsprechung und die nationalen Gesetzesreformen eine klare Tendenz in Richtung der Beseitigung jeglicher Diskriminierung betreffend die Erbrechte außerehelich geborener Kinder gezeigt. Der GH bemerkt, dass die Bf. ihre erbrechtlichen Ansprüche 2009, direkt nach dem Tod ihres Vaters, vor die innerstaatlichen Gerichte brachte. Das von der Bf. angestrengte Verfahren war immer noch vor dem BVerfG anhängig, als das Urteil im Fall Brauer/D erging, in dem der GH feststellte, dass eine Ungleichheit der Erbrechte aufgrund außerehelicher Geburt in einem mit dem Fall der Bf. vergleichbaren Fall nicht mit der Konvention vereinbar war. Das war ausreichend, um gerechtfertigte Zweifel daran zu schüren, dass die Bf. von jedem Anspruch auf den Nachlass ihres Vaters ausgeschlossen war.

(47) Zudem hat der GH zu berücksichtigen, dass die Anwendung des [...] Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder die Bf. von jedem gesetzlichen Anspruch auf den Nachlass ausschloss, ohne ihr eine finanzielle Entschädigung zu gewähren.

(48) Die vorangehenden Erwägungen sind ausreichend, um es dem GH zu ermöglichen zum Schluss zu kommen, dass keine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel bestand.

(49) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Marckx/B v. 13.6.1979 = EuGRZ 1979, 454

Brauer/D v. 28.5.2009 = NL 2009, 143 = EuGRZ 2010, 167

Fabris/F v. 7.2.2013 (GK) = NLMR 2013, 37

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.2.2017, Bsw. 29762/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 51) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_1/Mitzinger.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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