JudikaturJustizBsw21272/03

Bsw21272/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. November 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Sakhnovskiy gegen Russland, Urteil vom 2.11.2010, Bsw. 21272/03.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK - Teilnahme an der Verhandlung mittels Videokonferenz.

Prüfung der Opfereigenschaft des Bf. zusammen mit der Prüfung in der Sache (einstimmig).

Anerkennung der Opfereigenschaft des Bf. und Zurückweisung der Einrede der Regierung (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in Bezug auf das gesamte Verfahren (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.000,- für immateriellen Schaden, € 174,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist derzeit in einem Gefängnis in der Region um Novosibirsk inhaftiert. Der Haft liegt eine 2001 erfolgte Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen zweifachen Mordes durch das Landesgericht Novosibirsk zugrunde.

Gegen das Urteil legte der Bf. ein Rechtsmittel ein. In der Folge wurde er verständigt, dass seine Anwesenheit im Verfahren mittels Videokonferenz sichergestellt werde. Dagegen erhobene Einwände blieben erfolglos.

Am 31.10.2002 fand die Rechtsmittelverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof ohne Beisein eines Pflichtverteidigers statt. Das Rechtsmittel des Bf. wurde als unbegründet abgewiesen. Seine nachfolgenden Beschwerden, in denen er eine Überprüfung der Entscheidung verlangte, wurden von der Generalanwaltschaft bzw. dem Präsidium des Obersten Gerichtshofs nicht näher geprüft, da seinem Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung voll entsprochen worden sei.

Am 26.3.2007 entschied der EGMR, die russische Regierung über die bei ihm eingelangte Beschwerde zu informieren. Im Juli gab das Präsidium des Obersten Gerichtshofs einem Antrag des Generalanwalts statt, das Verfahren wieder aufzunehmen. Das Urteil vom 31.10.2002 wurde wegen Verletzung des Rechts des Bf. auf anwaltlichen Beistand aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung zurückverwiesen.

Der Oberste Gerichtshof ordnete daraufhin die Verlegung des Bf. in die mehr als 3000 km von Moskau entfernte Haftanstalt von Novosibirsk an, um seine Teilnahme an der Verhandlung mittels Videokonferenz zu ermöglichen. Der Bf. suchte vergeblich um die Erlaubnis an, persönlich vor Gericht erscheinen zu dürfen.

Am 29.11.2007 befasste sich der Oberste Gerichtshof in Moskau mit dem Fall. Er wies den Antrag des Bf. auf persönliche Anwesenheit in der Verhandlung mit der Begründung ab, eine Videokonferenz wäre ausreichend, um dem Verfahren zu folgen und Einwände vorbringen zu können. Es stellte ihm sodann seine neue Verfahrenshelferin – A. – vor und gab beiden Gelegenheit zu einer viertelstündigen vertraulichen Besprechung per Videokonferenz. In der Folge lehnte der Bf. eine Unterstützung durch A. mit dem Hinweis ab, er wolle sich persönlich mit ihr besprechen. Der Oberste Gerichtshof wies den Einwand zurück, da der Bf. nicht ausdrücklich die Beistellung einer anderen Verfahrenshelferin verlangt habe. Mit Urteil vom selben Tag bestätigte er das Urteil des Landesgerichts Novosibirsk hinsichtlich der materiell-rechtlichen Schlussfolgerungen und des Strafmaßes.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (hier: Recht auf persönliche Anhörung).

I. Zu den Einwänden der Regierung

1. Zur Nichterschöpfung des Instanzenzugs

Laut der Regierung habe es der Bf. verabsäumt, gegen das Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 29.11.2007 einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung zu stellen. Der GH hat sich bisher beharrlich geweigert, derartige Anträge als effektiven Rechtsbehelf iSv. Art. 35 EMRK zu werten. Grund dafür waren im Wesentlichen die prozessualen Besonderheiten des Überprüfungsverfahrens im russischen Strafprozessrecht, das für die Einbringung eines solchen Rechtsbehelfs keinerlei Befristung vorsieht. Der GH vermag sich auch nicht der Behauptung der Regierung anzuschließen, das Überprüfungsverfahren sei als effektives Rechtsmittel zu werten, hat er dieses doch bisher als außerordentlichen Rechtsbehelf und nicht als zu erschöpfendes normales Rechtsmittel eingestuft. Keine von der Regierung zitierten gerichtlichen Entscheidungen hätten beim Bf. zur automatischen Wiederaufnahme des Falls führen können, überdies hängt der Zugang zum Präsidium des Obersten Gerichtshofs vom Ermessen der Richter bzw. Staatsanwälte ab und würde wegen fehlender Fristen ein langwieriges Verfahren darstellen. Abgesehen davon betrafen besagte Entscheidungen die Weigerung der Gerichte, einen Verfahrenshelfer für das Rechtsmittelverfahren zu bestellen. Bei der am 29.11.2007 stattfindenden Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof ging es jedoch lediglich um die Frage einer effektiven anwaltlichen Vertretung.

Der Antrag auf gerichtliche Überprüfung des Urteils vom 29.11.2007 stellte somit kein effektives Rechtsmittel iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK dar. Der Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).

2. Zur fehlenden Opfereigenschaft des Bf.

Der GH schließt sich hier der Ansicht der I. Kammer an, wonach diese Frage eng mit der Beschwerde des Bf. unter Art. 6 EMRK verknüpft sei und daher gemeinsam mit der Hauptsache geprüft werden sollte (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3 EMRK

Der Bf. behauptet, das Strafverfahren sei unfair gewesen. Während der 2002 stattfindenden Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof sei ihm kein Rechtsanwalt zur Seite gestellt worden und sei sein einziger Kontakt mit dem Gericht über Videokonferenz erfolgt. Seine Rechte seien auch im wiederaufgenommenen Verfahren nicht gewahrt worden. Insbesondere sei er entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch nicht persönlich in den Verhandlungssaal gebracht und einer effektiven Verständigung mit seiner Verfahrenshelferin beraubt worden.

1. Opferstatus nach Wiederaufnahme des Verfahrens?

a. Zur Rechtsprechung des GH in russischen Fällen

Der GH unterscheidet zwei Kategorien von Fällen betreffend Russland, in denen er das Problem des Opferstatus im Strafverfahren durchaus differenziert behandelt hat.Bei der ersten Fallgruppe hat er das Faktum der Wiederaufnahme des Strafverfahrens bereits an sich als Wiedergutmachung (hier: für die von den Gerichten ausdrücklich festgestellte Verletzung des Rechts des Bf. auf den unentgeltlichen Beistand eines Pflichtverteidigers) ungeachtet des Umstands akzeptiert, dass das Strafverfahren noch anhängig war und keine Gewissheit bestand, dass den beanstandeten Mängeln im Zuge des Wiederaufnahmeverfahrens abgeholfen würde. (Anm.: EGMR 31.1.2008, Ryabov/RUS; EGMR 6.11.2008, Ponushkov/RUS.)

Die zweite Fallgruppe betrifft das Wiederaufnahmeverfahren als solches. Im Fall Fedosov/RUS hielt der GH fest, dass – mit Rücksicht auf das Urteil der Rechtsmittelinstanz, die Wiederaufnahme des Verfahrens und die ausgesprochene Strafmilderung – die nationalen Behörden eine Konventionsverletzung anerkannt und ihr auch abgeholfen hätten. Dies legt nahe, dass ein Bf. neben einer den Garantien des Art. 6 EMRK folgenden Wiederaufnahme des Verfahrens einen zusätzlichen Ausgleich – etwa in Form einer Strafmilderung – erhalten sollte. Im Fall Babunidze/RUS kam der GH zu dem Schluss, dass dem Bf. Wiedergutmachung geleistet worden war, nachdem er als Beklagter in einem Zivilverfahren Gelegenheit hatte, im Zuge der Neuverhandlung seines Falls am Verfahren teilzunehmen und Argumente vorzubringen.

Vor diesem speziellen Hintergrund bedarf das Fallrecht des GH bezüglich der Auswirkungen einer Wiederaufnahme auf den Opferstatus eines Bf. einer Klärung.

b. Anwendung auf den gegenständlichen Fall

Im vorliegenden Fall reichte die bloße Tatsache der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht aus, um den Bf. seines Opferstatus zu berauben. Erstens gab es keine Beschränkung, unter welchen Umständen und wie oft ein Fall wiederaufgenommen werden konnte. Zweitens lag eine Wiederaufnahme im Ermessen des Staatsanwalts bzw. Richters, der entschied, ob ein Antrag auf gerichtliche Überprüfung zugelassen werden sollte oder nicht. Dem Staat wird auf diese Weise die Möglichkeit verschafft, der nachprüfenden Kontrolle des EGMR im Wege der wiederholten Wiederaufnahme des Falls zu »entrinnen«.

Dies ist nicht nur theoretisch möglich. In einer Reihe von vom GH entschiedenen Fällen wurde das Strafverfahren kurz nach der Verständigung der Regierung von der eingereichten Beschwerde wieder aufgenommen – dies aber nach vielen Monaten oder sogar Jahren nach der »Erledigung« des ursprünglichen Falls. Ähnliches gilt für Zivilverfahren. Beim Bf. erwiesen sich die Bemühungen um gerichtliche Überprüfung des ersten Urteils als fruchtlos, bis die Generalanwaltschaft sich zur Intervention gezwungen fühlte, nachdem sie über die Einbringung der EGMR-Beschwerde unterrichtet worden war.

Der GH fasst zusammen: Das innerstaatliche Verfahren wird auf Betreiben der russischen Behörden häufig wieder aufgenommen, sobald sie davon erfahren haben, dass eine gegen Russland gerichtete Beschwerde in Straßburg geprüft wird. Manchmal profitiert davon der Bf., andererseits besteht angesichts der Ungezwungenheit, wie diese Prozedur gehandhabt wird, die Gefahr von Missbrauch. Würde der GH uneingeschränkt akzeptieren, dass die bloße Tatsache der Wiederaufnahme des Verfahrens automatisch den Wegfall der Opfereigenschaft nach sich ziehen würde, könnte die Regierung die Prüfung jedes beim GH anhängigen Falls vereiteln, indem sie wiederholt Rückgriff auf das gerichtliche Überprüfungsverfahren nimmt – statt in der Vergangenheit stattgefundene Konventionsverletzungen im Wege der Garantie eines fairen Verfahrens zu korrigieren.

Eine Wiederaufnahme des Verfahrens kann daher nicht automatisch als ausreichende und geeignete Wiedergutmachung angesehen werden. Um festzustellen, ob ein Bf. die Opfereigenschaft behält oder nicht, ist auf das Verfahren als Ganzes, einschließlich des Wiederaufnahmeverfahrens, Bezug zu nehmen. Dieser Ansatz führt zu einem Ausgleich zwischen dem Prinzip der Subsidiarität und der Effektivität des Schutzmechanismus der Konvention. Staaten wird es damit ermöglicht, Strafsachen wiederaufzunehmen und neuerlich zu prüfen, um vergangenen Verletzungen von Art. 6 EMRK abzuhelfen, wobei das neue Verfahren zügig und im Einklang mit den Garantien des Art. 6 EMRK geführt werden muss. So kann das gerichtliche Überprüfungsverfahren nicht länger als Mittel zur Vereitelung der Nachprüfung durch den EGMR verwendet und insofern die Effektivität des Individualbeschwerderechts gewahrt werden.

Der Bf. vermag daher nach wie vor zu behaupten, Opfer iSv. Art. 34 EMRK zu sein. Der diesbezügliche Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).

2. Fehlende erneute Verständigung der Regierung

Die Regierung bringt vor, dass die I. Kammer ihr die Ausführungen des Bf. nochmals hätte zur Kenntnis bringen sollen, nachdem diese von der Wiederaufnahme des Verfahrens in Russland verständigt worden war.

Es geht hier um das zusätzliche – im März 2008 erstattete – Vorbringen des Bf. betreffend die Rechtsmittelverhandlung vom 29.11.2007. Das Schreiben wurde der Regierung in Kopie übermittelt. Zwar wurde sie nicht ausdrücklich zu einer Stellungnahme aufgefordert, es hätte sie jedoch nichts daran gehindert, eine solche zu unterbreiten. Abgesehen davon waren die in besagtem Schreiben enthaltenen Informationen der Regierung sehr wohl bekannt und hätte diese darüber auch aus anderen Quellen erfahren können. Nach Stattgabe ihres Antrags auf Verweisung der Sache an die Große Kammer hätte sie zusätzlich Gelegenheit gehabt, dem GH ihre Ansichten über die Angelegenheit zu präsentieren. Die Regierung befand sich somit im Straßburger Verfahren nicht in einer ungleichen Position dem Bf. gegenüber und konnte ihren Standpunkt zur Gänze vorbringen. Der GH kann daher mit der Prüfung des Falls fortfahren.

3. Hat der Bf. auf anwaltlichen Beistand verzichtet?

Die Regierung vertritt die Auffassung, der Bf. habe sich seiner Rechte gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK entledigt. Frau A. solle als alleinige Rechtsvertreterin des Bf. ab dem Zeitpunkt ihrer Bestellung durch den Obersten Gerichtshof angesehen werden. Es wäre daher an ihr gelegen, sich um eine Vertretung umzuschauen oder sich mit dem Bf. privat zu treffen, was sie jedoch nicht getan habe. Dies sei als impliziter Verzicht zu werten.

Der Bf. verfügt über keinerlei rechtliche Ausbildung. Ihm war die Bestellung von Frau A. vorerst nicht bekannt und er verweigerte ihre Dienste, weil er ihre Anwesenheit in der Verhandlung als reinen Formalitätsakt auffasste. Vor dem Obersten Gerichtshof machte er seine Position so gut wie möglich deutlich. Er sollte daher nicht für die passive Haltung von Frau A. verantwortlich gemacht werden – stellt doch gerade dieser Punkt ein Kernelement seiner Beschwerde dar. Die Untätigkeit von Frau A. ist daher nicht als Verzicht zu werten.

Die Regierung bringt ferner vor, der Bf. habe weder einen Antrag auf Zuweisung eines anderen Rechtsvertreters gestellt noch habe er um Einräumung von Zeit ersucht, einen solchen seiner eigenen Wahl zu finden.

Vom Bf. konnte nicht erwartet werden, Verfahrensschritte zu setzen, die normalerweise rechtliche Kenntnisse erfordert hätten. Er tat, was jeder andere »normale« Mensch in seiner Situation gemacht hätte, nämlich seinen Unwillen darüber kund zu tun, in welcher Weise der Oberste Gerichtshof seine rechtliche Vertretung organisierte. Unter diesen Umständen kann das Versäumnis des Bf., spezifische Anträge zu stellen, ebenfalls nicht als Verzicht gewertet werden.

4. Erhielt der Bf. in der Rechtsmittelverhandlung eine effektive rechtliche Vertretung?

Der Anspruch auf ein faires Verfahren garantiert nicht prinzipiell ein Recht auf persönliches Erscheinen in der Rechtsmittelverhandlung. Hier kommt es auf die speziellen Charakteristika des Verfahrens und insbesondere darauf an, ob das Gericht dafür Sorge trägt, dass die Interessen der Verteidigung gewahrt werden.

Die Teilnahme am Verfahren mittels Videokonferenz ist nicht von vornherein unvereinbar mit Art. 6 EMRK, sofern der Bf. der Verhandlung folgen, ohne technische Hindernisse gehört werden kann und eine effektive und vertrauliche Verständigung mit seinem Anwalt sichergestellt ist.

Die Regierung hat nicht bestritten, dass die erste Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof den Erfordernissen des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht genügte. Sie behauptet jedoch, dass die Behörden alles in ihrer Macht Stehende getan hätten, damit der Bf. bei der zweiten Rechtsmittelverhandlung rechtlichen Beistand erfuhr. Der GH akzeptiert, dass Frau A. qualifizierte Anwältin war und zwischen ihr und dem Bf. keine explizite Meinungsverschiedenheit über die Verteidigungsstrategie bestand. Es ist ferner erwiesen, dass sie den Akt gelesen hat. Im Folgenden ist zu prüfen, ob die vom Gericht getroffenen Vorkehrungen den Gang des Verfahrens betreffend und der Kontakt zwischen Frau A. und dem Bf. dessen Verteidigungsrechten Rechnung trugen.

Im gegenständlichen Fall konnte der Bf. mit seiner neuen Verfahrenshelferin vor Beginn der Verhandlung ein 15-minütiges Gespräch führen. Angesichts der Komplexität und der Schwere des Falls reichte die bemessene Zeit für diesen aber keineswegs aus, um den Fall zu diskutieren und sich zu vergewissern, dass die Kenntnisse und die Rechtsposition von Frau A. adäquat waren.

Außerdem ist fragwürdig, ob die Videokonferenz dem Bf. genügend Privatsphäre verschaffte. So war es etwa dem Bf. im Fall Marcello Viola/I möglich, mit seinem Anwalt über eine Telefonverbindung zu kommunizieren, die gegen Abhörversuche gesichert war. Im vorliegenden Fall musste der Bf. hingegen das staatlich betriebene Videokonferenzsystem verwenden. Er durfte sich daher berechtigterweise unbehaglich fühlen, als er seinen Fall mit der Verfahrenshelferin diskutierte.

Im oben zitierten Fall verfügte der Anwalt des Bf. auch über die Möglichkeit, eine Vertretung zum Videokonferenzraum zu entsenden oder im Gegenzug seinen Mandanten persönlich aufzusuchen und seinen Vertreter mit der Verteidigung im Gerichtssaal zu beauftragen. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte der GH im Fall Golubev/RUS, bei dem er keine Verletzung von Art. 6 EMRK feststellte, waren doch die Anwälte des Bf. in der Rechtsmittelverhandlung anwesend, an der er über Videokonferenz teilnehmen konnte, und war es ihm möglich, sich mit seinem Anwalt vor der Verhandlung im Privaten zu besprechen. Da er durch zwei Anwälte vertreten war, konnte ihn einer in der Haftanstalt während der Verhandlung unterstützen und ihn vertraulich beraten.

Keine dieser Optionen stand dem Bf. hier zur Verfügung. Stattdessen wurde von ihm erwartet, entweder die frisch bestellte Verfahrenshelferin zu akzeptieren oder ohne anwaltlichen Beistand fortzufahren.

Der GH räumt zwar ein, dass ein Transport des Bf. von Novosibirsk nach Moskau für ein Treffen mit seinem Rechtsbeistand eine langwierige und kostspielige Operation gewesen wäre. Andererseits hätte die Behörden nichts daran gehindert, im Vorfeld der Rechtsmittelverhandlung zumindest ein Telefonat zwischen Frau A. und dem Bf. zu organisieren. Es wäre ihnen auch möglich gewesen, einen Anwalt aus Novosibirsk zu bestellen, der den Bf. in der Haftanstalt aufsuchen und während der Verhandlung hätte zugegen sein können. Es ist nicht verständlich, aus welchen Gründen der Oberste Gerichtshof die rechtliche Vertretung des Bf. nicht der Pflichtverteidigerin übertrug, die ihn bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens vertreten und auch das Rechtsmittel verfasst hatte. Schließlich hätte das Höchstgericht die Verhandlung aus eigenen Stücken vertagen können, um dem Bf. ausreichende Zeit zur Besprechung seines Falls mit Frau A. zu verschaffen.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Vorkehrungen des Obersten Gerichtshofs ungenügend waren und dem Bf. während des zweiten Rechtsgangs kein effektiver Rechtsbeistand zur Verfügung stand.

5. War die Teilnahme an der Verhandlung mittels Videokonferenz mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar?

Der Bf. behauptet, es wäre ihm unmöglich gewesen, seinen Fall in adäquater Weise zu präsentieren, da er an der Rechtsmittelverhandlung nur über Videokonferenz – und nicht persönlich – habe teilnehmen können.

Angesichts seiner Feststellungen zu Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK hält es der GH nicht für erforderlich, diese Frage gesondert zu prüfen (einstimmig).

6. Ergebnis

Das Rechtsmittelverfahren vom 29.11.2007 genügte den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK nicht. Der zweite Verfahrensgang vermochte die Defizite des ersten nicht zu heilen, genoss doch der Bf. weder 2002 noch 2007 eine effektive rechtliche Vertretung. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK in Bezug auf das gesamte Verfahren (einstimmig).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.000,– für immateriellen Schaden, € 174,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Anmerkung

Die I. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 15.1.2009 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK festgestellt (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Marcello Viola/I v. 5.10.2006.

Golubev/RUS v. 9.11.2006 (ZE).

Fedosov/RUS v. 25.1.2007 (ZE).

Babunidze/RUS v. 15.5.2007 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.11.2010, Bsw. 21272/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 341) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_6/Sakhnovskiy.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.