JudikaturJustizBsw17358/90

Bsw17358/90 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 1996

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Bulut gegen Österreich, Urteil vom 22.2.1996, Bsw. 17358/90.

Spruch

Art. 6 EMRK, § 36 StPO, § 69 Abs. 2 StPO, § 285 lit. d StPO - Teilnahme eines ausgeschlossenen Richters an der Verhandlung, Croquis und fair trial.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Unparteilichkeit des Gerichts (8:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Absehens von einer mündlichen Verhandlung (8:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der unterlassenen Mitteilung der Stellungnahme des Generalprokurators an den Bf. (8:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde wegen versuchter Beamtenbestechung angeklagt. Vor Beginn der Verhandlung informierte der Vorsitzende Richter die Verteidigung darüber, dass der an der Verhandlung teilnehmende Richter S. im ggst. Fall bereits als Untersuchungsrichter tätig gewesen war. Die Verteidigung nahm dies ohne Erwiderung zur Kenntnis. Der Vorsitzende Richter wiederholte diesen Hinweis in der Hauptverhandlung vor Beginn der Zeugenvernehmung. Im Verhandlungsprotokoll wurde festgehalten, dass die Partei "auf die Geltendmachung dieses Umstandes als Nichtigkeitsgrund allseits verzichtet". Die Verteidigung hingegen legte später dar, sie war der Meinung gewesen, eine Verzichtserklärung auf ein Recht iZm. der Qualifizierung eines Richters könne nicht gültig abgegeben werden. Der Bf. wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Dagegen erhob er Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an den OGH und behauptete ua. die Teilnahme eines ex lege (§ 68 (2) StPO) ausgeschlossenen Richters. Der Generalprokurator (GP) gab eine Stellungnahme (croquis) an den OGH ab, in der er anregte, die Nichtigkeitsbeschwerde des Bf. gemäß § 285d StPO in nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen. Diese Stellungnahme wurde der Verteidigung nicht mitgeteilt. Der OGH wies die Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 285d StPO zurück und verwies die Strafberufung an das Berufungsgericht zurück.

Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 8.9.1994 folgendes festgestellt: Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK, weder durch die Teilnahme des Richters S. an der Verhandlung (25:1 Stimmen) noch durch die fehlende mündliche Verhandlung vor dem OGH (einstimmig); Verletzung von Art. 6 (1) EMRK, da keine Mitteilung der Stellungnahme des GP an die Verteidigung erfolgte (25:1 Stimmen).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) aufgrund 1.) der Teilnahme des Richters S. an der Hauptverhandlung, 2.) der fehlenden mündlichen Verhandlung vor dem OGH sowie 3.) der unterlassenen Mitteilung der Stellungnahme des GP.

ad 1.) Der GH bejaht - in Anlehnung an die Auslegung der §§ 68 (2) iVm. 281 (1) Z.1 StPO durch die nationalen Gerichte und entgegen der Behauptung des Bf. - die Möglichkeit des Verzichts auf die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrunds "Teilnahme eines gesetzlich ausgeschlossenen Richters". Ungeachtet dessen ist die Unparteilichkeit des Gerichts anhand objektiver und subjektiver Kriterien zu prüfen. Letztere beziehen sich auf Gründe, die nur in der Person des Richters liegen, was für den ggst. Fall verneint wird. Die Prüfung anhand objektiver Kriterien stützt sich hier auf den Umstand, dass Richter S. bereits als Untersuchungsrichter am Verfahren teilgenommen hat. Seine Tätigkeit beschränkte sich jedoch auf die Vernehmung von zwei Zeugen, dieser Umstand stellt die Unparteilichkeit des Gerichts nicht in Frage. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (8:1 Stimmen).

ad 2.) Der Bf. rügt weiters die fehlende mündliche Verhandlung vor dem OGH. Der GH weist darauf hin, dass - sofern sie in erster Instanz durchgeführt wurde - ihr Fehlen in den nachfolgenden Instanzen durch die Besonderheit des Verfahrens gerechtfertigt sein kann. Im ggst. Fall hat eine mündliche Verhandlung im Verfahren erster Instanz stattgefunden. Die "Zurückweisung der Nichtigkeitsbeschwerde bei nichtöffentlicher Beratung" durch den OGH erfolgte gemäß § 285d StPO; der ua. einen einstimmigen Beschluss darüber verlangt, "dass die Beschwerde, ohne dass es einer weiteren Erörterung bedarf, als offenbar unbegründet zu verwerfen sei". Die restlichen vom Bf. vorgebrachten Nichtigkeitsgründe werfen keine Tatsachenfragen auf, die eine mündlichen Verhandlung erfordern. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (8:1 Stimmen).

ad 3.) Der Bf. rügt ferner die unterlassene Mitteilung der Stellungnahme des GP und behauptet eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit der Parteien. Die Objektivität des GP ist nicht mehr gegeben, sobald er eine Empfehlung über die Zulässigkeit oder Zurückweisung eines Rechtsmittels abgibt. Er tritt hier als Gegner des Bf. auf. Art. 6 EMRK kommt hier zum Tragen, das Recht auf Verteidigung sowie der Grundsatz der Waffengleichheit müssen beachtet werden. Der GP hatte im ggst. Fall eine klare Stellungnahme zur Beschwerde des Angeklagten abgegeben, davon wusste die Verteidigung nichts und hatte somit keine Möglichkeit zur Entgegnung. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (8:1 Stimmen).

Teilweise zustimmende, teilweise abweichende Meinung von Richter Matscher:

Die unterlassene Mitteilung des croquis stellt keine Verletzung von Art. 6 EMRK dar: Die Geschäftsordnung des OGH (§ 60 (7)) sieht vor, dass eine ausgearbeitete Stellungnahme des GP zu einer Beschwerde automatisch der Verteidigung mitzuteilen ist, darüber wurden alle Gerichte mittels Weisung des Bundesministeriums für Justiz nochmals in Kenntnis gesetzt. Ferner wurde durch die Novelle 1993 dem § 35 StPO ein Absatz 2 hinzugefügt, der ebenfalls die Mitteilung der Stellungnahme vorschreibt. Die Verteidigung kann ferner jederzeit Kenntnis von einer Stellungnahme erlangen, sei es durch Einsicht in die Gerichtsakten oder durch die Anforderung einer Kopie bei der Geschäftsstelle. All diese Vorkehrungen dürften den Anforderungen der Konvention entsprechen. Im ggst. Fall wurde keine der oa. Vorschriften oder Anweisungen verletzt; die Stellungnahme des GP enthielt keine wesentlichen Ausführungen, sondern nur die Empfehlung, die Nichtigkeitsbeschwerde als offensichtlich unbegründet in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen. Der Grundsatz der Waffengleichheit wurde nicht verletzt.

Die teilweise abweichende Meinung des Richters Morenilla richtet sich gegen die Entscheidung der Kammer, dass die Teilnahme des Richters S. an der Hauptverhandlung keine Verletzung von Art. 6 EMRK darstelle.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.2.1996, Bsw. 17358/90, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1996,44) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/96_2/Bulut.pdf

Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
4
  • RS0108489OGH; AUSL EGMR Rechtssatz

    17. Januar 2018·3 Entscheidungen

    Die in der Äußerung des Angeklagten zur Stellungnahme der Generalprokuratur mit dem Hinweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einem Verwaltungsverfahren (Fall Zumtobel gegen Österreich), in dem in der Regel keine öffentliche Verhandlung stattfindet, erhobene Forderung auf Anberaumung eines Gerichtstages ist nicht zielführend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt - insbesondere im Zusammenhang mit dem Nichtigkeitsverfahren vor dem österreichischen Obersten Gerichtshof - ausgesprochen, daß eine Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht nicht erforderlich ist, wenn in erster Instanz eine öffentliche Verhandlung stattgefunden hat und die Beweiswürdigung des Erstgerichtes nach innerstaatlichen Bestimmungen durch das Rechtsmittelgericht nicht zu prüfen ist (Urteil vom 22.Februar 1996, Nr 59/1994/506/588 = ÖJZ 1996, 430; Urteil vom 19.Februar 1996, Nr 50/1994/497/579 = ÖJZ 1996, 675; jeweils mit Zitaten von Vorjudikatur; Frowein/Peukert MRK-Komm2 Art 6 RN 95,118). Dem aus Art 6 MRK abgeleiteten Prinzip der Waffengleichheit wird dadurch genüge getan, daß - wie vorliegend - der Verteidiger Gelegenheit hatte, sich (als letzter vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes) zur Stellungnahme der Generalprokuratur zu äußern (vgl Fall Bulut gegen Österreich = ÖJZ 1996,430).