JudikaturJustiz9Ob52/20t

9Ob52/20t – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. November 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Fichtenau, Hon. Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj L*****, geboren am ***** 2003, derzeit wohnhaft beim Vater B*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter S*****, vertreten durch Dr. Michael Battlogg, Rechtsanwalt in Schruns, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 1. September 2020, GZ 3 R 187/20h 153, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der am 4. 8. 2003 geborene mj L***** ist der eheliche Sohn von B***** und S*****. Nach der Trennung der Eltern lebte er zunächst bei der Mutter in Bludenz. Mit Urteil des II. Zivilgerichtshofs des Schweizer Bundesgerichts vom 8. 11. 2017 wurde das Sorgerecht für L***** ab dem 7. 7. 2018 dem Vater zugesprochen. Seit Anfang November 2019 lebt der Minderjährige bei seinem Vater in der Schweiz. Er arbeitet in einem Unternehmen, in dem er auch eine Lehrstelle in Aussicht hat, und verfügt dort über familiäre und freundschaftliche Kontakte. Der Vater zog daraufhin sämtliche noch offene Anträge zurück.

Mit Beschluss vom 12. 6. 2020 wies das Erstgericht die bei ihm anhängigen Anträge der Mutter auf Übertragung der alleinigen Obsorge, in eventu die Zuerkennung der gemeinsamen Obsorge mit Hauptaufenthalt in ihrem Haushalt, Abänderung des Kontaktrechts des Vaters, vorläufige Zuerkennung der alleinigen Obsorge an sie wegen mangelnder internationaler Zuständigkeit zurück. Mit einem Wechsel des Aufenthalts des Kindes gehe die internationale Zuständigkeit nach Art 5 Abs 2 KSÜ auf die Behörden des neuen Aufenthaltsstaats über.

Dem gegen diesen Beschluss gerichteten Rekurs der Mutter, gab das Rekursgericht nicht Folge, wobei es sich im Wesentlichen der Rechtsauffassung des Erstgerichts anschloss. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu, da die Frage des „gewöhnlichen Aufenthalts“ eine solche des Einzelfalls sei.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurückzuweisen.

1. Das rechtliche Gehör im Sinn des Art 6 Abs 1 MRK wird nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekanntzugeben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen. Eine Beweisaufnahme ohne Zuziehung der Parteien führt noch nicht zur Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es genügt, dass sich eine Partei zu den Tatsachen und Beweisergebnissen vor der Entscheidung äußern kann (RS0074920).

Da die Rekurswerberin die Möglichkeit hatte, zu den Ergebnissen der Einvernahme des Minderjährigen Stellung zu nehmen, liegt eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs nicht vor.

2. Sowohl Österreich als auch die Schweiz sind Mitgliedstaaten des Haager Übereinkommens vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ). Regelungen über die Obsorge fallen unter den Begriff der „elterlichen Verantwortung“ nach Art 1 Abs 2 KSÜ und damit in den sachlichen Anwendungsbereich des Abkommens (8 Ob 17/18k), ebenso die Regelung des Kontaktrechts (3 Ob 130/17i).

3. Gemäß Art 5 Abs 1 KSÜ richtet sich die internationale Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen. Da der Grundsatz der perpetuatio fori im KSÜ grundsätzlich nicht zum Tragen kommt, kann die internationale Zuständigkeit auch noch während eines zulässig anhängig gemachten Verfahrens wegfallen. Nach Art 5 Abs 2 KSÜ ist das dann der Fall, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Vertragsstaat verlegt, weil damit dessen (internationale) Zuständigkeit begründet wird (RS0128438).

4. Der autonom auszulegende Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ (RS0128438) richtet sich danach, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht (RS0046742 [T9]). Maßgeblich sind dauerhafte Beziehungen einer Person zu einem Aufenthaltsort, sodass sich der Aufenthalt einer Person ausschließlich nach tatsächlichen Umständen bestimmt. Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes drückt sich in seiner sozialen und familiären Integration aus (1 Ob 205/18f). Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebendes Moment. Wesentlich ist stets, ob Umstände vorliegen, die die dauerhaften Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen.

5. Die Beurteilung der Vorinstanzen, durch den Aufenthalt des Minderjährigen in der Schweiz seit November 2019, wo er sowohl sozial als auch beruflich integriert ist, sich wohl fühlt und auch bleiben möchte, sei ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Schweiz begründet worden, hält sich im Rahmen des eingeräumten Ermessenspielraums. Damit sind aber nunmehr die Schweizer Gerichte für das Verfahren international zuständig.

6. Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter war daher zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf der Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 71 Abs 3 Satz 3 AußStrG).

Rechtssätze
3
  • RS0128438OGH Rechtssatz

    25. November 2020·3 Entscheidungen

    1. Ziel des KSÜ ist unter anderem die Bestimmung des Staats, dessen Behörden zur Setzung von Maßnahmen zum Schutz des Kindes zuständig sind. Das Übereinkommen trachtet daher, konkurrierende Zuständigkeiten zwischen den Behörden verschiedener Vertragsstaaten weitgehend zu vermeiden, und stellt dazu auf den gewöhnlichen Aufenthalt ab. Nach Art 5 Abs 1 KSÜ sind die Behörden des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständig, Schutzmaßnahmen im Sinne des Übereinkommens zu treffen. Der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen bestimmt damit die internationale Zuständigkeit. 2. Da der Grundsatz der perpetuatio fori in diesem Übereinkommen grundsätzlich nicht zum Tragen kommt, kann die internationale Zuständigkeit auch noch während eines zulässig anhängig gemachten Verfahrens wegfallen. Das ist nach Art 5 Abs 2 KSÜ der Fall, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Vertragsstaat verlegt, weil damit dessen (internationale) Zuständigkeit begründet wird. 3. Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ wird im Übereinkommen nicht definiert, sodass er autonom auszulegen ist. Das bedeutet, dass dieser Begriff als zentraler Anknüpfungspunkt für die Begründung der internationalen Zuständigkeit nach dem Wortlaut und dem Kontext des Übereinkommens sowie dessen Zielen zu bestimmen ist. 4. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach Art 5 KSÜ ist gleich auszulegen wie in den diesen Begriff enthaltenden Bestimmungen des MSÜ und der Brüssel IIa‑VO, weil den Zielsetzungen der genannten internationalen Übereinkommen der Schutz der Person des Kindes (das Kindeswohl) und die räumliche Nähe der zur Entscheidung berufenen Stellen zugrunde liegen. Dazu kann auf bestehende Rechtsprechung zurückgegriffen werden.