JudikaturJustiz8Ob611/88

8Ob611/88 – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. Oktober 1988

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Griehsler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch, Dr. Huber, Dr. Schwarz und Dr. Graf als weitere Richter in der Vormundschaftssache des mj. Markus W***, geboren am 7. August 1983, infolge Revisionsrekurses der Mutter Maria W***, Kellnerin, Herndlgasse 5/3/21, 1100 Wien, vertreten durch Dr. Johann Werth, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgerichtes vom 28.April 1988, GZ 43 R 238/88-37, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 5.Februar 1988, GZ 10 P 70/87-32, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

In Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidungen wird der Antrag des Vaters Kurt N***, ihn - nach Enthebung der Mutter - zum Vormund des Minderjährigen zu bestellen und diesen in seine Pflege und Erziehung einzuweisen, abgewiesen.

Text

Begründung:

Der am 7.8.1983 geborene Markus W*** ist das uneheliche Kind der Maria W*** und des Kurt N***. Die Mutter wurde mit Beschluß des Vormundschaftsgerichtes vom 23.12.1983 (ON 2) zur Vormünderin bestellt.

Anläßlich einer Vorsprache des Vaters beim Bezirksjugendamt für den 1./8./9.Bezirk am 25.2.1987 beantragte der Vater mit der Behauptung, der Minderjährige befinde sich seit 6.2.1986 in seiner Pflege und Erziehung, ihn zum gesetzlichen Vertreter (Vormund) des Minderjährigen zu bestellen, diesen in seine Pflege und Erziehung einzuweisen, sowie weiters die Mutter zu Unterhaltsleistungen zu verpflichten. Dieser Antrag langte am 4.3.1987 beim Vormundschaftsgericht ein (ON 5).

Die Mutter sprach sich gegen diese Anträge aus und beantragte deren Abweisung mit dem wesentlichen Vorbringen, sie vernachlässige das Wohl ihres Sohnes nicht, besuche ihn auch regelmäßig, könne ihn jedoch wegen ihrer Nachtarbeitszeit (als Kellnerin in einer Bar) nicht zu sich nehmen. Vielmehr habe sie ihn zunächst bei ihrem Bruder, sodann bei den väterlchen Großeltern und zuletzt beim Vater auf Grund diesbezüglicher Vereinbarungen untergebracht und sei bestrebt, eine Tagesarbeit zu erlangen und sodann ihren Sohn wieder selbst zu pflegen und zu erziehen.

Das Erstgericht entsprach mit dem Beschluß vom 5.2.1988 (ON 32) den Anträgen des Vaters auf Einsetzung als Vormund (nach Enthebung der Mutter) und auf Übertragung des Rechts auf Pflege und Erziehung des Minderjährigen, wobei es im wesentlichen von folgendem Sachverhalt ausging:

Nach der Trennung der Eltern (die kurze Zeit nach der Geburt des Minderjährigen noch in Lebensgemeinschaft lebten) habe die Mutter den Minderjährigen zu ihren Verwandten aufs Land gegeben, wo Markus einmal bei den Großeltern (nach der Aktenlage: bei den väterlichen Großeltern), dann wieder bei seinem Onkel (dem Bruder der Mutter) untergebracht gewesen sei. Die Mutter selbst habe sich nur sporadisch um ihn gekümmert, da sie in Wien in einer Bar als Kellnerin beschäftigt gewesen sei und dort in der Nacht gearbeitet habe. Diese Tätigkeit übe sie noch im Zeitpunkt der Entscheidung aus. Am 6.2.1986 habe der Vater das Kind zu sich genommen. Seither lebe der Minderjährige zusammen mit seinem Vater und dessen Lebensgefährtin Susanne W*** im gemeinsamen Haushalt, wo er betreut werde und ein eigenes Zimmer habe. In letzter Zeit besuche die Mutter ihren Sohn jeweils an ihrem freien Tag einmal in der Woche. Aus einem Bericht des Bezirksjugendamtes gehe hervor, daß der Minderjährige ein sehr aufgewecktes und intelligentes Kind sei, tagsüber den Kindergarten besuche und sich in seiner jetzigen Umgebung mit seinem Vater und dessen Lebensgefährtin sichtlich wohl fühle. Sowohl das Jugendamt als auch die Mutter seien der Ansicht, daß es dem Minderjährigen bei seinem Vater gut gehe und er dort gut versorgt werde.

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung stellte das Erstgericht weiters noch fest, daß die Mutter ihr Kind zu ihrer Familie nach Stockerau "abgeschoben und sich auch nicht um dessen Pflege und Erziehung gekümmert habe". Auch durch ihre Nachtarbeit seien ihre Verhältnisse nicht so stabil, daß sie dem Wohl eines vierjährigen Kindes besonders zuträglich wären. Der Minderjährige befinde sich bereits seit zwei Jahren ausschließlich beim Vater, der auch seine Hauptbezugsperson sei.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, ein Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen könne nur vorgenommen werden, wenn besonders wichtige Gründe eine Änderung geboten erscheinen ließen, wobei oberste Richtschnur für die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses das Kindeswohl sei. Dabei seien die Umstände in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Angesichts der vorliegenden Feststellungen über den Aufenthalt des Minderjährigen könne der Umstand, daß die Mutter nunmehr ihr Kind einmal wöchentlich besuche, nicht ausreichen, um es bei der bisherigen Regelung der Vormundschaft und Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten zu belassen, weil diese keinen Selbstzweck darstellten, sondern es auf die für das Kind günstigere Regelung ankomme. Die Voraussetzungen für eine möglichst gute Erziehung und Beaufsichtigung des Minderjährigen und eine günstige seelische und geistige Entwicklung seien bei seinem Vater besser gewahrt, weswegen sowohl die Pflege und Erziehung, als auch die Vormundschaft auf diesen zu übertragen seien. Die vorhandene gute Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn sei durch ein Besuchsrecht aufrecht zu erhalten. Die Entscheidung vollziehe übrigens einen seit zwei Jahren bestehenden Zustand "nur rechtlich nach".

Der dagegen von der Mutter erhobene Rekurs blieb erfolglos. Das Rekursgericht ging "auf Grund der Aktenlage" von folgenden weiteren - teilweise zu jenen des Erstgerichts

konträren - Feststellungen aus: Der Minderjährige befinde sich bereits über zwei Jahre im Familienverband seines Vaters, wo er eine gute Betreuung erfahre. Nach der Aktenlage sei auch davon auszugehen, daß durch die derzeit bestehenden faktischen Pflege- und Erziehungsverhältnisse beim Vater dem Wohl des Minderjährigen in bester Weise entsprochen werde. Der Mutter sei dabei zuzugestehen, daß sie an dieser, für den Minderjährigen durchaus positiven Entwicklung, insoweit günstig mitgewirkt habe, als auf Grund ihres Einverständnisses bzw. der zwischen ihr und dem Vater geschlossenen Vereinbarung sich der Minderjährige beim Vater in Pflege und Erziehung befinde. Die richtige Erkenntnis ihrer Gesamtsituation sei daher offenbar bei ihr Anlaß gewesen, sich von ihrem Kind zu trennen. Im Gegensatz zum Erstgericht stellte das Rekursgericht fest, daß mit der angefochtenen Entscheidung nicht zum Ausdruck gebracht werden hätte sollen,daß ein der Mutter vorzuwerfendes Fehlverhalten vorliege.

In rechtlicher Hinsicht erachtete das Rekursgericht die Vorschrift des § 176 ABGB und die dazu vorliegende Rechtsprechung, wonach eine Entziehung der Elternrechte nur unter der Voraussetzung der Gefährdung des Kindeswohls als äußerste Notmaßnahme unter Anwendung eines strengen Maßstabs erfolgen könne, im vorliegenden Fall als nicht anwendbar. Da sich das Kind bereits über zwei Jahre beim Vater befinde, sei der der Rechtsprechung zugrundeliegende Gedanke der Erziehungskontinuität nicht auf einen (schon vor mehr als zwei Jahren vollzogenen) Wechsel von der Mutter zum Vater, sondern auf den Wechsel vom Vater zurück zur Mutter zu beziehen. Ein solcher Wechsel erwiese sich aber nach den vorliegenden Feststellungen, insbesondere den Lebens- und Wohnverhältnissen beider Eltern hier als dem Wohl des Minderjährigen abträglich. Daß aber die Mutter die ihr zustehende Pflege und Erziehung des Minderjährigen auch durch dritte Personen ausüben und wahrnehmen lassen könne, treffe im vorliegenden Fall nicht zu, weil es sich beim Vater nicht um einen "Dritten" handle, sondern dieser nach der Reihenfolge des § 170 ABGB im Fall, daß die Mutter die Pflege und Erziehung nicht auszuüben in der Lage sei, an nächster Stelle hiefür vorgesehen sei. Der Vater nehme daher eine vom Gesetzgeber gewollte Ausnahmestellung ein, die ihn von den übrigen Verwandten (etwa Großeltern) deutlich abhebe. Die Übertragung der Rechte auf Pflege und Erziehung des Minderjährigen an den Vater sei in Nachvollziehung des bereits mehr als zwei Jahre andauernden faktischen Zustandes gerechtfertigt. Damit verbunden erweise sich aber auch die Übertragung der Vormundschaft auf den Vater als zutreffend und zweckmäßig, zumal dieser sich bei der Pflege und Erziehung des Minderjährigen im Sinne des § 198 Abs 2 ABGB bewährt habe.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung von der Mutter erhobene Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Die vom Rekursgericht auf der dargestellten Sachverhaltsgrundlage vertretene Rechtsauffassung, die zwischen der - die elterlichen Rechte als bestellte Vormünderin ausübenden - Mutter und dem Vater vereinbarte (von der Mutter als vorübergehend bezeichnete) Unterbringung des Kindes beim Vater rechtfertige nach Ablauf eines längeren Zeitraumes auch die Entziehung der elterlichen Rechte und der Vormundschaft der Mutter dar, wenn das Kindeswohl durch diese Maßnahme nicht beeinträchtigt sei, widerspricht dem Gesetz. Gemäß § 170 ABGB stehen die Pflege und Erziehung eines unehelichen Kindes zunächst der Mutter allein zu. Ist sie in der Weise des § 145 Abs 1 erster Satz ABGB betroffen ("Ist ein Elternteil gestorben, sein Aufenthalt seit mindestens sechs Monaten unbekannt, kann die Verbindung mit ihm nicht oder nur mit unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten hergestellt werden oder sind ihm die Pflege und Erziehung ganz entzogen, so stehen diese dem anderen Elternteil allein zu."), so stehen diese Rechte dem Vater zu, dessen Vaterschaft festgestellt ist. Nach der Aktenlage treffen die genannten Umstände des § 145 Abs 1 erster Satz ABGB auf die Mutter nicht zu. Gemäß § 176 Abs 1 ABGB können Maßnahmen mit dem Ziel der Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten nur bei "Gefährdung des Wohls des Kindes durch die Eltern" getroffen werden. Die dem Vater infolge einer (auch von ihm nicht bestrittenen, wenn auch ursprünglich nicht vorgebrachten) Vereinbarung mit der - die elterlichen Rechte als Vormünderin ausübenden - Mutter ermöglichte Pflege und Erziehung seines unehelichen Sohnes - zunächst im Familienverband seiner (übereinstimmendes Vorbringen) Eltern und sodann (ab 1987 in der Wiener Wohnung) im Rahmen seiner Lebensgemeinschaft mit Susanne W*** - verläuft nach der Aktenlage ohne konkrete Gefährdung des Wohls des Minderjährigen. Diese dem Minderjährigen durch seinen Vater zuteil werdende Pflege und Erziehung erfolgt durchaus im Rahmen des der Mutter allgemeiner Ansicht nach zustehenden Rechtes, die Pflege und Erziehung ihres Kindes auch anderen Personen zu überlassen (EFSlg.48.383 uam). Insoweit ist auch der Vater des Minderjährigen als Dritter anzusehen, zumal er in der gesetzlichen Regelung des § 170 ABGB - unter gewissen weiteren Voraussetzungen - nur subsidiär bei Verhinderung der Mutter im Sinne des § 145 Abs.1 erster Satz ABGB die "Elternrechte" erhalten kann. Die vom Rekursgericht dazu vertretene gegenteilige Auffassung wird nicht geteilt.

Ist aber der Mutter die Pflege und Erziehung mangels ausreichender gesetzlicher Grundlagen nicht zu entziehen und strebt sie selbst eine Änderung des bisherigen Zustandes - aus welchen auf ihrer Seite liegenden Gründen (etwa mangelnde andere Berufsmöglichkeit) auch immer - nicht an, kann in der Beibehaltung des bisherigen, nach den Feststellungen für den Minderjährigen keineswegs nachteiligen oder gar gefährdenden Zustandes kein Grund für eine Änderung der Zuteilung der Elternrechte und Vertretungsbefugnis erblickt werden. Ob sich ein etwaiges künftiges Verlangen der Mutter, den Minderjährigen wieder in ihre persönliche Pflege und Erziehung zurückzunehmen, auf das Wohl des Minderjährigen nachteilig oder gefährdend auswirken könnte, ist jetzt nicht Gegenstand einer Entscheidung.

In Stattgebung des Revisionsrekurses der Mutter sind daher unter gleichzeitiger Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidungen die vorliegenden Anträge des Vaters abzuweisen.

Rechtssätze
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